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Hämatologie

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15.1 Hämatopoese

Lothar Thomas

Die zirkulierenden Blutzellen haben eine multifunktionale Rolle in der Aufrechterhaltung der Organfunktionen. Sie reagieren auf Stimuli und passen ihre Zahl und Funktion an die Erfordernisse des Organismus an. Die Lebensdauer der einzelnen Blutzellen in der Zirkulation ist aufgeführt in Tab. 15.1-1 – Lebenszeit im Blut und täglicher Umsatz von Blutzellen. Änderungen in der Zahl oder Funktion von Blutzellen können aus einer Erkrankung des hämatopoetischen Systems resultieren oder die Hämatopoese ist aktiviert oder kompromittiert auf Grund der Erkrankung eines Organes oder einer systemischen Erkrankung. Letzteres ist der häufigere Fall.

15.1.1 Klonale Hämatopoese mit unbestimmtem Potential (CHIP)

Die klonale Hämatopoese mit unbestimmtem Potential (Clonal Hematopoiesis of Indeterminante Potential; CHIP) ist eine hämatologische Vorläufererkrankung. Sie ist durch somatische Mutationen peripherer Blutzellen definiert, aber ohne Evidenz für eine Leukämie oder eine andere hämatologische neoplastische Erkrankung.

15.1.1.1 Blutzellzahlabnormitäten bei CHIP

Die Mehrzahl der Personen mit CHIP hat eine normale Morphologie der Leukozyten. In einigen Studien wurde aber eine Erhöhung des mittleren zellulären Volumens (MCV) der roten Blutzellen beschrieben und die erhöhte Verteilungsbreite der Erythrozyten (red cell distribution width; RDW) ist das beständigste Merkmal der CHIP. Der next generation sequencing basierte Nachweis der CHIP ist der diagnostische Standard in der hämatologischen Diagnostik bei Verdacht auf eine myeloische Leukämie. Zur Zeit ist keine Testung auf CHIP in der Normalbevölkerung geplant. Zusätzlich zur hämatologischen Progression ist die CHIP mit einer Vielzahl nicht-hämatologischer Erkrankungen assoziiert, von denen kardiovaskuläre Beschwerden am besten verstanden und klinisch behandelt werden /34/.

15.1.1.2 Rote Blutzellen

Rote Blutzellen umfassen zu 99 % die Erythrozyten und zu 1 % die Retikulozyten. Rote Blutzellen transportieren O2 von der Lunge in die Gewebe und CO2 von den Geweben in die Lunge. Sie üben ihre Funktion ausschließlich in der Zirkulation aus. Im Mittel enthält der menschliche Organismus eine rote Blutzellmasse von 2–3 Litern und die täglich total zirkulierende Erythozytenmasse beträgt 3.000 Liter. Etwa 2,0 × 1011 alternde Erythrozyten (etwa 1 % der gesamten roten Blutzellen) werden bei einer erwachsenen Person täglich aus der Zirkulation genommen, von der Milz zurückgehalten, von deren Makrophagen abgebaut und vom Knochenmark wieder ersetzt. Jeder Erythrozyt gelangt als Retikulozyt in die Blutbahn. Eine Erhöhung des Anteils der Retikulozyten im Blut ist ein Zeichen, dass die Sauerstoffversorgung der Gewebe unzureichend ist /1/. Beim akuten extremen Sauerstoffmangel der Gewebe ist die Blutversorgung gestoppt. Innerhalb von 1–2 Stunden nach Beginn der Hypoxie steigt die Konzentration von Erythropoetin in der Zirkulation an und eine Verdopplung der Retikulozytenzahl nach 1–2 Tagen ist die Folge /1/.

Zellmembran roter Blutzellen

Die Zellmembran roter Blutzellen (RBCs) besteht aus einem Lipid bilayer der etwa 20 wichtige Proteine und mindestens etwa 850 kleinere oder unwesentlichere Proteine enthält /2/. Der Lipid bilayer fungiert als eine Barriere zum Rückhalt von Kationen und Anionen innerhalb der RBC während Wassermoleküle frei passieren können. Die Aufrechterhaltung der inneren hohen K+ Konzentration und der niedrigen Konzentration von Na+ im Vergleich zur Konzentration dieser Ionen im Plasma ist bedingt durch den passiven Austritt von K+ die zurück gepumpt werden im Austausch zu Na+ durch die ATP abhängige Na+–K+ Pumpe. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der RBC Membran ist das Zytoskelett. Dieses Proteinnetzwerk begrenzt die innere Oberfäche der Zellmembran und enthält Proteine wie Spectrin und Actin die miteinander verbunden sind in zwei Proteinkomplexen; Ankrin und Protein 4.1 Komplex. Die Membran der RBC ist mit dem Zytoskelett verknüpft durch Protein-Protein-Bindungen und Protein-Lipid-Bindungen. So erhält die RBC ihre Form, Stabilität und Deformierbarkeit. Während ihres Lebenszyklus ist die RBC gezwungen die Poren und Sinusoide in der Milz zu durchqueren und hat eine dauernde Interaktion mit diesem Organ, das dazu beiträgt die Morphe der Zelle in den ersten Lebenswochen zu formen. Außerdem ist die Milz bedeutsam in der Entfernung alter oder geschädigter Zellen aus der Zirkulation.

15.1.1.3 Dynamik der roten Blutzellen

Die RBCs erfahren nach dem Verlassen des Knochenmarks während der ersten Tage in der Zirkulation eine schnelle Verminderung des Volumens und von Hb. Dieser raschen Phase folgt eine langsamere in der das Volumen und die Hb Menge korrelieren /3/. Das Volumen und der Hb Gehalt korrelieren mit Reifung der Zellen. Beträgt der Korrelationskoeffizient des Volumens der RBC in der retikulozytären Phase nur 0,40 so erreicht er in der Population der reifen Erythrozyzyten etwa 0,85.

15.1.1.4 Adaption der Erythroblasten an Eisen

Während der Reifung der RBCs wird eine Menge Eisen zur Bildung von Hämoglobin benötigt. Da Eisen für die Synthese von Häm essentiell ist, verbraucht die Erythropoese den größten Teil des Körpereisens. Der Transkriptionsfaktor Bach-1 ist in die Antwort der Erythroblasten an eine Verminderung des Eisens involviert. Bei Eisenmangel und verminderter Bildung von Häm bremst Bach-1 die Gene der Globinsynthese in den Erythroblasten und gleicht die Globinsynthese an die Bildung von Häm an /4/.

Der Regulator der Erythropoese, das Protein Erythroferron begünstigt die Eisenverfügbarkeit des Knochenmarks bei einem erhöhten Bedarf an Eisen, z.B. nach einer akuten Blutung. Nach Stimulation durch Erythropoetin bildet die hyperproliferative Erythropoese das Protein Erythroferron, das die Synthese von Hepcidin in der Leber bremst. Somit wird vermehrt Eisen absorbiert und aus den Speichern freigesetzt, das den Erythroblasten zur Bildung von Häm zur Verfügung steht /5/.

15.1.2 Thrombozyten

Pro Tag werden etwa 2 × 1010 Thrombozyten pro Liter Blutvolumen gebildet. Die Plasmamembran enthält Rezeptoren wie den Glykoprotein (GP) IIb/IIIa-Rezeptor und den von Willebrand Rezeptor GP Ib/V/IX. Die Wirkungsstätte der Rezeptoren ist primär die Gefäßwand, von wo aus sie die Hämostase aufrecht halten.

15.1.3 Leukozyten

Die Leukozyten über ihre Funktion extravasal aus und benutzen das Blut nur als Transport­mittel /1/.

Polymorpkernige neutrophile Granulozyten (PMN)

Der Pool an PMN ist im Blut in zwei Kompartimente von etwa gleicher Größe aufgeteilt. Der zirkulierende Pool wird bei der Blutentnahme zur Leukozytenzählung gut erfasst, nicht aber der marginale Pool. In diesem sind die PMN an die Wände kleiner Gefäße adhäriert. Es besteht jedoch ein konstanter Zellaustausch zwischen den beiden Kompartimenten. In den Geweben phagozytieren die PMN mikrobielle Erreger und zerstören diese.

15.1.3.1 Eosinophile Granulozyten

Nach kurzer Zirkulation im Blut nehmen sie im Gewebe, stimuliert durch das Immunsystem, an inflammatorischen Reaktionen teil und sind in die Abwehr gegen Infektionen mit Helminthen involviert.

15.1.3.2 Basophile Granulozyten

Auch diese Zellen haben ihren Wirkort in den Geweben und nehmen an der Immun-vermittelten Sofortreaktion teil.

15.1.3.3 Lymphozyten

Sie variieren in der Größe von etwas größer als Erythrozyten bis zur Größe von Monozyten. Lymphozyten werden grob in T-Zellen, B-Zellen und NK-Zellen differenziert und sind in die Vermittlung der angeborenen und erworbenen Immunität involviert. Die Subpopulationen werden flowzytometrisch bestimmt. Siehe auch Beitrag 21.1.4 – Angeborene Immunität.

15.1.3.4 Monozyten

Wie bei den PMN ist auch bei den Monozyten das Blut nur ein Transportmittel und die Zellen sind in ein zirkulierendes und ein marginales Kompartiment verteilt. Nach Stimulierung, die gewöhnlich in den Geweben erfolgt, transformieren sie zu den metabolisch aktiven Makrophagen. Ihre wesentlichen Funktionen sind die Phagozytose von alternden Erythrozyten, von Mikroorganismen und die Freisetzung von inflammatorischen Zytokinen zur Regulation des zellulären und humoralen Immunsystems.

15.1.3.5 Zellverteilung im Knochenmark

Die im Knochenmark reifenden und sich differenzierenden Zellen der Hämatopoese umfassen zu 60 % Zellen der granulozytären Zellreihe, vorwiegend der neutrophilen, 20 % erythropoetische Vorläuferzellen und 15 % Lymphozyten, Plasmazellen, Monozyten und Megakaryozyten.

15.1.4 Hämatopoetisches System

Das hämatopoetische System versorgt das Blut mit Zellen, muss einen konstanten Turnover an Zellen aufrecht erhalten und auf akute Provokationen reagieren /6/. In einem Zeitraum von 7 Jahren bildet der Erwachsene eine Masse von Blutzellen, die seinem Körpergewicht entspricht.

Das hämatopoetische System ist hierarchisch organisiert (Abb. 15.1-1 – Hierarchie des hämatopoetischen Systems mit Myelopoese und Lymphopoese). Ausgangszellen sind die Stammzellen, mit der Fähigkeit der Reproduktion und Differenzierung. Die Differenzierung der Stammzelle in Blutzelllinien ist ein stufenförmiger Prozess, bei dem verschiedene Zelltypen mit unterschiedlicher Funktion gebildet werden. Stammzellen haben von allen hämatopoetischen Zellen die höchste Kapazität der Selbsterneuerung. Spätere Stammzellen (Committed progenitor cells) sind auf eine Zelllinie begrenzt und haben eine geringere Kapazität der Reproduktion.

Wachstumsfaktoren und Zytokine sind wesentlich für das Überleben und die Proliferation hämatopoetischer Zellen auf allen Stufen der Entwicklung /7/. Die Aktivierung von Rezeptoren auf der Zellmembran hämatopoetischer Zellen durch Wachstumsfaktoren übermittelt den Zellen Signale zur Differenzierung.

Eine effektive Erythropoese ist das Ergebnis eines Zusammenspiels der hämatopoetischen Zellen und des sie unterstützenden Stromas. Über 95 % der Hämatopoese findet im Knochenmark statt, dies ist der einzige Ort, wo Erythropoese, Granulopoese, Lymphopoese, Monopoese und Megakaryopoese simultan ablaufen. Unter bestimmten Bedingungen kann die Hämatopoese auch in der Milz stattfinden. Die hämatopoetische Stammzelle kann die Hämatopoese nur in einer entsprechenden Mikroumgebung durchführen.

15.1.4.1 Hämatopoetische Mikroumgebung

Das Stroma des Knochenmarks bildet die Mikroumgebung der hämatopoetischen Zellen, beeinflusst deren Proliferation und Differenzierung und besteht /8/:

  • Aus Fibroblasten, Makrophagen, Adipozyten und akzessorischen Zellen wie T-Lymphozyten und Monozyten.
  • Extrazellulärer Matrix, z.B. Kollagen, Laminin, Fibronectin und Proteoglykanen.

Die Zellen der Mikroumgebung beeinflussen auf positive oder negative Weise die Hämatopoese durch folgende Mechanismen:

  • Den direkten Zell-Zell-Kontakt, so benötigen pluripotente Stammzellen in vitro den Kontakt mit Stromazellen.
  • Die Sekretion von Proteinen, die der Aufrechterhaltung der Struktur der extrazellulären Matrix dienen.
  • Die Bildung von löslichen und Zell-assoziierten Zytokinen. So werden Kolonie-stimulierende Faktoren (CSF), Interleukine (IL-1, IL-3, IL-6, IL-12), aber auch Inhibitoren wie Tumornekrosefaktor-α, Transgrowth Faktor-β und Interferon-γ gebildet.

15.1.4.2 Hämatopoetische Stammzelle

Die Populationen der Blutzellen werden durch die Proliferation und Differenzierung von Vorläuferzellen im Knochenmark aufrecht erhalten. Diese Zellen leiten sich von einer gemeinsamen hämatologischen Vorläuferzelle ab, die aus der Embryogenese stammt und ihre Funktionen das Leben lang beibehält. Zusätzlich zum Differenzierungspotential hat die Stammzelle das Vermögen Tochterzellen zu bilden, die ein gleiches oder ein ähnliches proliferatives und Differenzierungspotential haben als die Mutterzelle /9/. Stammzellen sind definiert als sich selbst erneuernde Zellen, die alle Zellinien für mindestens 4 Monate bilden können, wenn sie in eine Empfängermaus transplantiert werden /10/. Die Teilung der Stammzellen verläuft asymmetrisch. Eine Tochterzelle behält die Pluripotenz der Mutter, während die andere limitiert (committed) ist, sich in Richtung einer der hämatopoetischen Zelllinien zu entwickeln. Stammzellen befinden sich in einem ruhenden oder gering aktiven Status beim Erwachsenen. Die Ruhigstellung erfolgt durch das pleiotrope Hormon Transforming growth factor-β (TGF-β) /11/.

Die hämatopoetischen Vorläuferzellen werden nach dem Kolonietyp (Colony forming unit; CFU) benannt, den sie bei in vitro-Kultivierung bilden /12/. Die pluripotente Stammzelle hat die Bezeichnung CFU-Blast (Abb. 15.1-1 – Hierarchie des hämatopoetischen Systems mit Myelopoese und Lymphopoese). Sie kann Zellen aller hämatopoetischen Linien bilden. Ihr Anteil an den Knochenmarkzellen ist 0,05 %. Die CFU-Blast exprimiert CD34+, aber kein Linienmerkmal, ist also definiert als CD34+DRlin. Die Expression des HLA Merkmals DR ist eines der frühesten Differenzierungsmerkmale und führt von der CFU-Blast zu den Committed progenitor cells. Von diesen kann die CFU-GEMM in eine der Zelllinien G = Granuloyzten, E = Erythrozyten, M = Monozyten und M = Megakaryozyten differenzieren /13/.

Die Differenzierung von der CFU-Blast zu einer Committed progenitor cell (Linien-gebundenen Vorläuferzelle) unterliegt der Kontrolle von Wachstumsfaktoren. Von diesen ist der von den Stromazellen gebildete Stammzellfaktor (SCF) der wichtigste. Der SCF ist besonders für das Langzeitüberleben von sich nicht teilenden, pluripotenten Stammzellen verantwortlich.

Pluripotente Stammzellen sind auch im peripheren Blut vorhanden, der Anteil von CD34+-Zellen an den mononukleären Blutzellen ist 0,15 %. Durch einen Chemotherapiekurs wird ihr Anteil auf 0,6 % erhöht und durch Apherese für einen Stammzelltransfer gewonnen.

15.1.4.3 Hämatopoetische Wachstumsfaktoren

Wachstumsfaktoren sind erforderlich für /7/:

  • Das Überleben und die Proliferation hämatopoetischer Zellen aller Entwicklungsstadien. Es handelt sich um den Steel factor, den Fms-like tyrosine kinase 3 (FLT3) ligand, den Granulocyte-macrophage colony-stimulating factor (GM-CSF) und IL-2, IL-3 und IL-7.
  • Die Förderung von Vorläuferzellen, die auf eine oder zwei Zellinien beschränkt ist. Linien spezifische hämatopoetische Wachstumsfaktoren sind Erythropoetin und Thrombopoetin.

Der Stammzellfaktor (SCF) wird von den Stromazellen gebildet und bindet an c-Kit, den Tyrosinkinase Rezeptor auf Stammzellen und Committed progenitor cells. SCF generiert oder aktiviert diese Zellen und sensitiviert sie für die Colony stimulating factors (CSF). In Zellkulturen zeigt SCF synergistische Effekte mit den CSFs /14/.

Linien spezifische Wachstumsfaktoren werden in den Nieren (Erythropoetin), Endothelzellen, Fibroblasten, Makrophagen (G-CSF), Stromazellen des Knochenmarks und in der Leber (Thrombopoetin) gebildet. Die Linien-spezifischen Wachstumsfaktoren vermitteln ihre Wirkung über Rezeptoren der Zytokinrezeptor Superfamilie. Es handelt sich um transmembrane Proteine mit einer oder zwei extrazellulären Bindungsdomänen und einer intrazellulären Domäne, die Kinasen der Januskinasen (JAK)-Familie aktiviert. Die JAK vermitteln über mehrere Zwischenschritte die Signalübertragung auf den Zellkern /7/.

15.1.5 Embryonale und fetale Hämatopoese

Die Blutzellen werden in der SSW 3–6 im Dottersack, der paraaortalen Splanchnopleura (P-Sp) und der ventralen Region des Embryos, die für die Entwicklung von Aorta, Gonaden und Mesonephros (AGM) verantwortlich ist, gebildet. Von diesen Stellen aus erfolgt schon sehr früh die Besiedlung der rudimentären Leber, die bis zur SSW 22 der Hauptort der embryonalen und fetalen Blutbildung ist. In dieser Zeit geschieht die Kolonisation des Knochenmarks und der Milz. In der zweiten Hälfte der Schwangerschaft wird das Knochenmark der Hauptbildungsort der Blutzellen und bleibt es lebenslang. Die Milz verbleibt als Lymphorgan.

Die ersten erythropoetischen Blutzellen sind primitive Erythroblasten im Dottersack am 16.–19. Tag post conceptionem. Das Hämoglobin (Hb) dieser Zellen enthält embryonale Globine. Die Zellen behalten ihren Kern auch eine Zeit lang in der Zirkulation. Die Differenzierung der Erythroblasten erfolgt in der Zirkulation durch Akkumulation zunehmender Mengen an Hb. Ab der 8. Entwicklungswoche ersetzen von der Leber gebildete definitive rote Blutzellen langsam die Erythroblasten. Der Wechsel soll auf einem Dosiseffekt des Gens Eklf beruhen /15/. Die definitiven roten Blutzellen sind kleiner, haben keinen Kern mehr und die Globinbildung ist auf fetales Hb oder Erwachsenen Hb begrenzt. Die Synthese erythropoetischer Zellen ist abhängig von Erythropoetin, das sowohl ein Mitogen als auch ein Überlebensfaktor für erythroide Vorläuferzellen ist /16/. Während der Fetalzeit nehmen der Wert des und der Hämatokrit zu, während das mittlere korpuskuläre Volumen (MCV) abnimmt.

Während des Lebens vermehren sich hämatopoetische Stammzellen und differenzieren in reife Blutzellinien. Bis eine genügende Menge von hämatopoetischen Stammzellen in der Leber gebildet sind um die Erythrozyten Erwachsenener (definitive Erythrozyten) zu bilden spielen die embryonal/fetal-spezifischen Erythrozyten, auch als primitive Erythrozyten bezeichnet da sie im extraembryonalen Dottersack gebildet werden, eine wichtige Role in der Sauerstoffversorgung des embryonalen und fetalen Gewebes. Eine begrenzte (committed) hämatopoetische Zellpopulation dient als Vorläufer der primitiven Erythrozyten und der lympho-myeloiden Zellinien. Primitive Erythrocyten sind groß und gehen in die Zirkulation mit einem Zellkern. Die frühesten hämatopoetischen Vorläuferzellen werden im Zellstadium CD41+CD45 bestimmt /16/.

Bisher wurde gedacht, dass die Hämatopoese sich während der Entwicklung in zwei Phasen ausbildet (primitive und definitive Erythropoese) aber einige Studien zeigen, dass dazwischen noch eine intermediäre Zellpopulation ausgebildet wird /16/.

Die definitive Hämatopoese bildet alle lympho-myeloiden Zellinien und die Erythrozyten des Erwachsenen. Die Leukozyten werden zuerst von Zellen der P-Sp (paraaortischen Splanchnopleura) und dem AGM (Aorta, Gonaden und Mesonephros) gebildet. Die von dort ausgewanderten Stammzellen sind verantwortlich für die Bildung von B- und T-Lymphozyten, Granulozyten und Natural killer (NK) cells. Diese Zellen werden ab der SSW 15 nachweisbar, die mittlere Leukozytenzahl liegt bei 0,8 × 109/l, die 5. Perzentile bei 0. Ab der SSW 21 betragen die Leukozytenzahlen über 1 × 109/l /17/.

15.1.5.1 Erythropoese

Die Erythropoese ist kontinuierlich zur Aufrechterhaltung des Turnovers der roten Blutzellpopulation erforderlich. Etwa 2 × 1011 Retikulozyten werden täglich in die Blutbahn abgegeben nach einer Zeitspanne der Reifung und Differenzierung im Knochenmark von etwa 10 Tagen. Während dieser Zeit kommt es zu einer starken Anreicherung von Hb, das über 95 % des gesamten Proteins der roten Blutzelle ausmacht. Die Differenzierung der Erythropoese beginnt auf der Stufe der pluripotenten hämatologischen Stammzelle. Alle Nachfolgezellen haben die Fähigkeit verloren, die Erythropoese zu erneuern, nur die Zellteilung und Differenzierung ist noch möglich. Die Entwicklung der erythropoetischen Zellen im Knochenmark findet im Proliferations- und Reifungspool statt (Abb. 15.1-2 – Aufteilung der Erythropoese in einen Proliferationspool und einen Reifungspool).

15.1.5.1.1 Proliferationspool

In dieser Phase zur Entwicklung der roten Blutzelle erwirbt die Stammzelle die Potenz zur Expression von Oberflächenrezeptoren. Über diese werden die Signale von Wachstumsfaktoren, die das Überleben und die Differenzierung der Zellen bis zum funktionstüchtigen Erythrozyten regulieren, an den Zellkern weitergeleitet. Die unreifste Form der Committed erythroid progenitors ist die Burst-forming Unit erythroid (BFU-E). Die BFU-E benötigt 14 Tage und mehr bis zur Bildung eines Clusters reifer Erythroblasten. Dem Stadium der BFU-E folgt die Colony forming unit erythroid (CFU-E). Beide Vorläuferzellen haben einen Anteil von etwa 0,3 % an den kernhaltigen erythropoetischen Knochenmarkzellen. Von der CFU-E bis zur Bildung eines Clusters aus 8–64 reifen Erythroblasten bedarf es einer Zeit von 7 Tagen.

15.1.5.1.2 Reifungspool

CFU-E Zellen treten vom Proliferationspool in den Reifungspool über, reifen zu Retikulozyten, die in das Blut entlassen und dort zu Erythrozyten werden. Die Reifungsphase beginnt mit der ersten im Knochenmark zytologisch differenzierbaren Vorläuferzelle, dem Pronormoblasten. Er hat ein basophiles Zytoplasma, einen Kern mit gewöhnlich sechs Nukleolen und einen Durchmesser von 15–20 μm. Mit zunehmenden Reifungsstadium nehmen der Zelldurchmesser und die Dichte der Erythropoetin Rezeptoren ab und der zelluläre Hb-Gehalt zu. Nach Abstoßung des Kernes durch den orthochromatischen Erythroblasten wird der mit RNA-Resten belassene Retikulozyt in die Zirkulation entlassen, wo er innerhalb von 24–48 h zum Erythrozyten heranreift.

Ein wichtiges regulatives Hormon der Erythropoese ist Erythropoetin (EPO). Es verhindert die Apoptose von CFU-E-Zellen und bewirkt deren klonale Expansion. Die CFU-E hat von allen Vorläuferzellen des Differenzierungspools die höchste EPO-Rezeptordichte. Unter der Stimulation von EPO durchläuft die CFU-E noch Teilungsstufen bis zum nicht mehr teilungsfähigen orthochromatischen Erythroblasten.

Die normale rote Blutzelle erreicht eine Mean cellular hemoglobin concentration (MCHC) bis zu 360 g/l. Eine weitere Zunahme kann noch um 10–20 g/l erfolgen, wenn die Zelle Wasser oder Membran verliert, was relativ selten ist. Die Hb-Konzentration der heranreifenden roten Blutzellen reguliert die der Zelle bevorstehende Anzahl an Zellteilungen. Normalerweise erfährt der Pronormoblast vier Teilungen, so dass absolut 16 Erythrozyten resultieren.

Zur Bildung von Häm siehe Beitrag 7.1 – Eisenstoffwechsel und Eisenstoffwechsel-Störungen und Lit. /18/.

Änderungen von Volumen und Konzentration von Hb der Erythrozyten können resultieren aus:

  • Eisenmangel oder einem Thalassämie Syndrom. Die zytoplasmatische Hb-Bildung ist vermindert. Nach vier Zellteilungen wird nicht die notwendige Hb-Konzentration erreicht, die dem Zellkern signalisiert, weitere Zellteilungen zu unterlassen. Es erfolgen weitere Teilungen mit zunehmender Reduzierung des Volumens.
  • Vitamin B12- und Folsäure-Mangel. Dadurch wird der Zellzyklus verlängert, nicht aber die Rate der zytoplasmatischen Hb-Bildung. Die Konzentration an Hb der Zelle, die dem Zellkern signalisiert mit der Zellteilung aufzuhören und die Ausstoßung des Kerns zu vollziehen, erfolgt schon früher, was weniger Teilungen und ein größeres Volumen des Erythrozyten zur Folge hat.
  • Hereditäre Störungen die zur mikrozytären, normochromen Anämie führen (MCHC normal). Beispiele sind der Sphärozyt und der Keratozyt. Bei der hereditären Sphärozytose handelt es sich um eine Erkrankung mit Zellmembrandefekten, wodurch bei älteren Erythrozyten die Zellmembran verloren geht. Das zelluläre Hb und das Zellvolumen sind normal, aber der Durchmesser ist vermindert. Auf Grund des verminderten Durchmessers ist der Hämatokrit niedriger als normal, rechnerisch das MCHC erhöht und der Erythrozyt scheinbar hyperchrom. Beim Keratozyten, der durch die Einwirkung oxidativer Medikamente in vivo entsteht, gehen Zellmembran und Hb verloren. Das Hb des Erythrozyten präzipitiert unter Ausbildung von Heinz-Körperchen, ein Teil des Erythrozyten enthält weniger Hb und erscheint im Blutausstrich blass. Auch geht Zellmembran verloren.

Der alternde Erythrozyt wird vom retikuloendothelialen System der Milz durch Phagozytose aus der Blutbahn genommen. Zuvor verliert er an Volumen und Deformabilität und seine Dichte nimmt zu. Veränderungen der Zellmembran führen zu einem Verlust von Kohlenhydraten auf der Zelloberfläche.

15.1.6 Einteilung der Anämien

Die Einteilung der Anämien erfolgt auf Grund von mittlerem Volumen (MCV) und der Hb-Konzentration (MCHC) der roten Blutzelle in:

  • Normozytär und normochrom.
  • Makrozytär und hypochrom.
  • Mikrozytär und hypochrom.
  • Mikrozytär und normochrom.

Die Einteilung der Anämien kann niemals sein:

  • Normozytär und hyperchrom.
  • Makrozytär und hyperchrom.

15.1.6.1 Regulation der erythroiden Differenzierung

Die Produktion roter Blutzellen kann mehrfach gesteigert werden, schießt aber nicht über. Das resultiert aus einer strengen Regulation. Sie betrifft die Vorgänge Proliferation, Reifung und Überleben. Nach dem Verlust von Blut oder bei Hämolyse stimulieren der Stammzellfaktor (SCF/Kit-Ligand) und Glukokortikoide die Zellen der BFU-E zur Bildung von Kolonien in das Stadium der CFU-E. Doch haben SCF und Glukokortikoide keinen Einfluss auf das Überleben der Zellen in der CFU-E. Das wird gesichert durch Erythropoetin (EPO). Die Bildung von EPO, dem wesentlichen Faktor der Erythropoese, ist aber vom Ausmaß der Hypoxie abhängig. EPO wiederum fördert zwar die Reifung der erythroiden Vorläuferzellen von der CFU-E bis zum basophilen Erythroblasten, beeinflusst aber nicht deren Reifung und Differenzierung. Proliferation, Differenzierung und Überleben sind zwar getrennte Vorgänge, werden aber durch ein spezifisches genetisches Aktivierungs- und Repressionsprogramm gesteuert. Ein wichtiger transkriptionaler Regulator in diesem Prozess ist LIM domain-only protein 2 (LMO2). Dieses Protein wird posttranscriptional und posttranslational in den erythroiden Vorläuferzellen reguliert und trägt zur Präzision der kontrollierten Erythrozytenproduktion. Siehe weiterführend zur Erythropoese Lit. /19/.

15.1.7 Granulopoese

Die beiden phagozytischen Zellinien der granulozytären und monozytären Reihe haben eine gemeinsame Zelllinien-Vorläuferzelle, die Colony forming unit granulocyte-monocyte (CFU-GM). Colony stimulating factors (CSFs) wie der Granulocyte colony stimulating factor (G-CSF) und der Granulocyte macrophage-CSF (GM-CSF) stimulieren die Proliferation, Differenzierung und Reifung von neutrophilen und eosinophilen Granulozyten sowie von Monozyten. Der GM-CSF hat in der Granulopoese eine vergleichbare Bedeutung wie Erythropoetin bei der Erythropoese.

Produktion und Speicherung neutrophiler Granulozyten

Nach Entwicklung aus der Stammzelle kommt es zu einer kontinuierlichen Reifung vom frühest zytologisch differenzierbaren Myeloblasten bis zum polymorphkernigen Granulozyten. Im Knochenmark reifen die Granulozyten und ihre Vorläufer in zwei Pools:

  • Dem mitotischen oder Produktionspool. Er enthält Myeloblasten, Promyelozyten und Myelozyten. Vier bis fünf Zellteilungen erfolgen vom Myeloblasten bis zum Myelozyten, was zu einer Vermehrung der Zellzahl um den Faktor 32 führt. Die Reifungszeit vom Myeloblasten zum Myelozyten beträgt 3–9 Tage. Im proliferativen Stress kann die Granulopoese um den Faktor 20 gesteigert werden.
  • Dem postmitotischen Pool oder Speicherpool. Er enthält Metamyelozyten, stabkernige und segmentkernige Granulozyten. Hier finden zwar keine Zellteilungen mehr statt, aber ein ständiger Vorgang der Reifung. Bei Bedarf werden die Zellen in die Zirkulation entlassen. Normalerweise befinden sie sich 10 Tage in diesem Pool. Er enthält 15–20 fach so viele Granulozyten wie das periphere Blut.

15.1.7.1 Bildung von Granula

Die Bildung von Granula beginnt in der Reifungsstufe vom Myeloblasten zum Promyelozyten. Von hier an werden Granulaproteine bis zum Stadium des polymorphkernigen Granulozyten gebildet. Es handelt sich bei den Granula um eine Aggregation von unreifen Protein Transportvesikeln, die vom Trans-Golgi-Netzwerk (TGN) ausgestülpt werden. Im TGN findet eine Auswahl statt zwischen konstitutiv gebildeten Proteinen und Proteinen die den sekretorische Weg gehen, also in die Granula gelenkt werden /20/.

15.1.7.2 Stimulation und Aktivierung der Granulopoese

Eine Leukozytose kann durch folgende Mechanismen ausgelöst werden /121/:

  • Demarkation; Granulozyten werden vom Randpool in den zirkulierenden Pool verschoben und bewirken eine Neutrophilie. Das geschieht durch starke körperliche Arbeit und Stimuli (Katecholamine), die den Perfusionsdruck in den Kapillaren erhöhen, den Blutfluss in Organe mit hoher Kapillardichte ablenken oder die Adhäsion der Granulozyten vermindern. Da die Demarkation lediglich eine Rückverteilung der Granulozyten bedeutet, ändert sich die zur Kontrolle der Infektabwehr notwendige Zellzahl nicht.
  • Freisetzung von Leukozyten; aus dem postmitotischen Speicherpool des Knochenmarks werden innerhalb von Minuten bis Stunden stabförmige und polymorphkernige Granulozyten freigesetzt, aber es werden nicht vermehrt Zellen gebildet. Die Antwort auf ein Endotoxin oder einen infektiösen Erreger erfolgt innerhalb von Minuten.
  • Linksverschiebung; wird im Blut ein erhöhtes Verhältnis Stabkerniger zu Segmentkernigen gemessen bei Präsenz oder auch Abwesenheit einer Granulozytose, so weist das auf eine verstärkte Neubildung von Granulozyten hin. Gewöhlich ist der Speicherpool vermindert. Die erhöhte Granulopoese, wie sie bei schweren Infektionen erfolgt, resultiert in einer Erhöhung der Anzahl postmitotischer Zellen 2–3 Tage nach Infektion.
  • Kontinuierliche Stimulation; das ist z.B. der Fall bei einer chronischen Infektion. Die Neutrophilenzahl hat sich auf einen erhöhten Stufe von Verbrauch und Bildung einbalanciert.
  • Expression des Fc-Rezeptors (CD 64) Bei ruhenden Neutrophilen ist die Expression relativ niedrig (etwa 1.000 Moleküle pro Zelle), bei Aktivierung erhöht sich die Zahl der Moleküle um den Faktor 5–10 /22/.

15.1.8 Monopoese

Die zytologisch im Knochenmark primär nachweisbare Zelle ist der Monoblast. Er differenziert zum Monozyten, wird in das Blut entlassen, zirkuliert dort mit einer Halbwertszeit von 1–3 Tagen und wandert dann in das Gewebe (pulmonal-alveolärer Makrophage, Makrophagen die Sinusoide auskleiden, Kupffer Zellen der Leber, Langerhans Zellen der Haut. Im Blut sind die Monozytenpopulationen CD14+CD16 und CD14+CD16+ nachweisbar /23/.

Cluster of differentiation 64 (CD64)

Das Membran-Glykoprotein CD64 (Fc-gamma Rezeptor 1) ist ein Protein der Makrophagen. CD64 bindet monomere Antikörper der Klasse IgG mit hoher Affinität. Die Behandlung von polymorphkernigen Granulozyten mit Interferon (IFN) gamma kann eine CD64 Expression der Granulozyten induzieren. Einige Autoren /35/ empfehlen das Monitoring von CD64 als einen prognostischen Marker beim septischen Schock. Dabei soll ein Abfall von CD64 ein wertvoller Indikator zur Verlaufsbeurteilung des septischen Schocks sein. In den ersten 48 Stunden nach Einlieferung auf die Intensivstation soll ein Abfall des CD64 Hilfestellung leisten zur Vorhersage der Prognose des septischen Schocks.

15.1.9 Megakaryopoese

Die Megakaryopoese entwickelt sich aus committed Vorläuferzellen, der Colony forming unit megakaryocyte (CFU-MK). Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Zellen mit der Fähigkeit zu proliferieren. Ab einem bestimmten Stadium hören die CFU-MK auf zu proliferieren und beginnen mit der Endomitose /24/. In diesem Stadium sind sie Megaloblasten oder unreife Megakaryozyten. Der Vorgang der Endomitose umfasst die DNA Replikation ohne Zellteilung und es bildet sich eine polyploide Zelle mit einem einzelnen vielfach gelappten Kern /25/. Die Replikation geschieht in der Regel dreimal, so dass der reife Megakaryozyt eine Ploidie von 16 hat, die aber variabel ist und bis zu 256 gehen kann.

Reifende Megakaryozyten erwerben die Kompetenz Thrombozyten zu bilden. Das geschieht durch /24/:

  • Heraufregulierung von zytoskelettalen, membranösen und regulatorischen Proteinen.
  • Anhäufung von Ribosomen, α-Granula und dichten Granula.
  • Differenzierung in eine große polyploide Zelle mit einem komplexen System zytoplasmatischer Plättchenareale von abgrenzenden Membranen (Demarcation membrane system, DMS). Das DMS markiert präformierte Regionen der Plättchen, auch als Proplättchen bezeichnet.
  • In den Sinusoiden des Knochenmarks sollen durch Scherkräfte die Proplättchen vom Zytoplasma abgetrennt werden. Ein Megakaryozyt kann 1.000–5.000 Plättchen freisetzen. Die Abgabe von Proplättchen ist für den Megakaryozyten ein präterminaler Vorgang, denn der Kern wird dann von Makrophagen phagozytiert.

15.1.9.1 Thrombopoetin (TPO)

Die Megakaryopoese und die Bildung von Thrombozyten wird durch TPO reguliert, aber auch andere Zytokine wie IL-6 und IL-11 spielen eine Rolle /26/. Letztere ermöglichen es dem Megakaryozyten sich an Orten zu adaptieren, die eine Reifung und Thombozytenbildung zulassen. Die Wirkung von TPO an Megakaryozyten und Thrombozyten wird durch den Receptor c-Mpl (CD110) vermittelt, der aber auf den Thrombozyten nur in niedriger Zahl vorhanden ist. TPO wird in konstanter Menge von der Leber gebildet und seine Konzentration wird zum Teil durch die Bindung an seinen thrombozytären Rezeptor und somit auch von der Anzahl der Thrombozyten reguliert. Ist die Zahl der Thrombozyten im Blut hoch, bindet viel TPO an die c-Mpl und wenig an die Megakaryozyten, die Folge ist eine Herunterregulierung der Megakaryopoese. Ist umgekehrt die Thrombozytenzahl niedrig, dann ist die Konzentration von im Plasma hoch und die Megakaryopoese wird stimuliert.

15.1.9.2 Von Willebrand-Faktor-Rezeptor

Der Rezeptor GPIb/V/IX ist ein wichtiger Regulator der Bildungvon Proplättchen. Bei der Immunthrombozytopenie gebildete Autoantikörper hemmen die Freisetzung von Proplättchen.

Bernard-Soulier-Syndrom: Bei dieser autosomal rezessiven vererbten Makrothrombozytopenie sind die definierten Plättchenareale, die durch die DMS markiert sind, größer als normal.

15.1.10 Hämatopoetische Balance

Bei normaler Hämatopoese besteht ein Gleichgewicht zwischen der Masse der Zellen der jeweiligen Zelllinie in der Blutbahn bzw. in den Geweben und ihrer Bildung im Knochenmark. Es gibt drei wesentliche Variationen, die dieses Gleichgewicht stören:

  • Hypoproliferation des Marks oder einer bzw. mehrerer Zelllinien. Hier ist entweder das Mark unfähig, auf die verstärkte stimulatorische Wirkung von Wachstumsfaktoren adäquat zu reagieren (intrinsische Markstörung) oder es fehlen wichtige Substanzen zur Bildung funktionstüchtiger Zellen, z.B. Eisenmangel.
  • Ineffektivität einer oder mehrerer Zelllinien. Die Hämatopoese ist hypoproliferativ auf Grund der hemmenden Wirkung inflammatorischer Zytokine. Das ist der Fall bei der Anämie chronischer Erkrankungen.
  • Hyperproliferativität des Marks bzw. einer oder mehrerer Zelllinien. Es resultiert eine verstärkte Antwort der Hämatopoese auf die Anforderung von Zellen. Die kompensatorische Kapazität des Marks reicht jedoch nicht aus die Anforderungen zu erfüllen. Ein Beispiel ist die Thrombozytopenie bei disseminierter intravasaler Gerinnung.

15.1.10.1 Primäre Störungen der Hämatopoese

Es liegt die pathogene Veränderung einer oder mehrerer hämatopoetischer Zelllinien vor, z. B. bei Leukämie, Thalassämie oder Panzytopenie. Die Differentialdiagnostik der Panzytopenie ist aufgeführt in Tab. 15.1-3 – Differentialdiagnose der Panzytopenie.

15.1.10.2 Sekundäre Störungen der Hämatopoese

Die Hämatopoese wird in ihrer Funktion gestört und ist kompromittiert, die Folge ist eine verminderte oder fehlerhafte Bildung von Blutzellen oder die Hämatopoese antwortet reaktiv mit einer gesteigerten Synthese und der zusätzlichen Ausschüttung von Vorstufen. Störungen können beruhen auf:

  • Dem den Mangel wichtiger Substanzen (Eisen, Folsäure, Vitamin B12, Vitamin B6).
  • Einer Mitreaktion (Granulozytose, Granulozytopenie, Thrombozytose, Thrombozytopenie, Anämie) bei systemischer Erkrankung des Organismus.
  • Einer reaktiven Reaktion (Polyglobulie in Höhenlagen über 3.000 m).
  • Hämatopoetischen Systemerkrankungen wie Leukämie, Polyzythämie oder Thrombozythämie.

Die sekundären Störungen der Hämatopoese sind oft komplexer Natur und erfordern neben dem Blutbild spezielle hämatologische und biochemische Tests zur Abklärung.

15.1.11 Splenektomie

Die Thromboembolie und ein pulmonaler Hochdruck sind häufige Komplikationen der Splenektomie (Odds Ratio 4,08) bei Patienten mit Transfusions-abhängiger Thalassämie. Die Thalassämien sind kongenitale, autosomal rezessive Hämoglobinopathien. Die Patienten bilden nicht genügend Hämoglobin und können nur mittels der Transfusion von Erythrozyten überleben. Die zwei primären Typen der Erkrankung sind die alpha-Thalassämie und die beta-Thalassämie. Sie unterscheiden sich dadurch, dass bei ersterer die alpha-Globinketten des Hämoglobins teilweise oder komplett fehlen und bei letzterer die beta-Globinketten.

Die Thalassämien werden folgendermaßen eingeteilt /36/:

  • Beta-Thalassämia minor: Asymptomatische mikrozytäre Anämie.
  • Thalassämie-Syndrom: Kriterien der Zuordnung sind die klinischen Beschwerden und der Bedarf an Erythrozytentransfusionen, denn die Patienten müssen einen prätransfusionellen Hämoglobinwert von 95–105 g/l, der die Erythropoese bremst, aufrecht erhalten. Trotz therapeutischer Fortschritte (Luspaterecpt) bleibt bei einigen Patienten die Splenektomie das Mittel der Wahl. Die Splenektomie führt jedoch zu längerfristigen Komplikationen wie z.B. einer Thromboembolie und von Infektionen. Normalerweise entfernt die Milz alte und geschädigte Erythrozyten und Thrombozyten aus der Zirkulation. Wird sie entfernt, bleiben negativ geladene Erythrozyten und hyperaktive Thrombozyten in der Zirkulation. Dort bewirken sie bei den Patienten mit Thalassämiesyndrom einen hyperkoagulabilen Status durch Aktivierung des Gerinnungssystems.

15.1.12 Untersuchungen der Hämatopoese

Zur Untersuchung der Hämatopoese werden basale Untersuchungen von funktionellen Untersuchungen unterschieden. Die basalen Untersuchungen sind beschreibende Größen des Zustandes, z.B. der Hb-Wert oder die Leukozytenzahl. Funktionelle Untersuchungen beschreiben die hämatopoetische Funktion als Antwort auf eine Kompromittierung, z.B. Retikulozytose bei Blutverlust oder Linksverschiebung der Granulopoese bei Sepsis.

Hämatologische Basisuntersuchungen zur Erkennung von Störungen der Hämatopoese sind die mit Hämatologie-Analyzern durchführbaren Methoden:

  • Komplette Blutzellzählung (Complete blood count).
  • Partielle oder komplette Differenzierung der Leukozyten.
  • Retikulozytenzählung. Einige Analyzer messen zusätzlich auch Retikulozyten-Indices wie den Gehalt an Hb der Retikulozyten (CHr, Ret-He), den RNA-Gehalt der Retikulozyten und den Anteil hypochromer roter Blutzellen (%HYPO).
  • Blutausstrich Untersuchung. Sie ist ergänzend erforderlich bei symptomatischen Patienten und wenn am Hämatologie-Analyzer eine Signalgebung für das Vorhandensein atypischer Zellen erfolgt. Wichtige hämatologische Untersuchungen zeigt Tab. 15.1-2 – Hämatologische Untersuchungen zur Beurteilung der Hämatopoese.
  • Bestimmung von Oberflächenmarkern der Blutzellen mit spezifischen Antikörpern (Immunphänotypisierung) durch Fluoreszenz aktiviertes Zellsorting (FACS).

15.1.13 Hämatologische Basistests

  • Komplettes Blutbild
  • Teilweise oder komplette Differenzierung der Leukozyten.
  • Retikulozytenzählung und Bestimmung des Gehaltes an Hämoglobin.
  • Blutausstrich. Der Test ist erforderlich als zusätzliche Untersuchung bei symptomatischen Patienten und wenn der Hämatologieanalyzer ein Signal für die Präsenz atypischer Zellen anzeigt Wichtige Tests sind aufgeführt in Tab. 15.1-2 – Hämatologische Untersuchungen zur Beurteilung der Hämatopoese.
  • Flow zytometrische Messung von Oberflächenmarkern der Blutzellen mittels spezifischer Antikörper.

15.1.14 Dermatosen bei hämatologischen Neoplasien

Konsensus Manifestationen hämatologischer Neoplasien unterstützen das Konzept molekularer Defekte bei spezifischen malignen hämatologischen Neoplasien /37/.

Neutrophile oder eosinophile Dermatosen werden aufgrund ihres klinisch-pathologischen Bildes in eine der folgenden vier Kategorien klassifiziert:

  • Superficial/epidermal.
  • Dermal.
  • Tiefe Form.
  • Gemischt, das bedeutet syndromische neutrophile Dermatosen.

Neutrophile und eosinophile Dermatosen, die bei einer hämatologischen Neoplasie auftreten, repräsentieren eine heterogene Gruppe von Hautläsionen, die entweder gleichzeitig mit einer hämatologischen Neoplasie auftreten oder davon unabhängig sind.

Die vermutete Pathophysiologie der Dermatosen bei hämatologischen Neoplasien ist, dass die leukämischen Zellen eine systemische Entzündung fördern und somit das klinisch-pathologische Bild des Sweet-Syndroms, einer seltenen neutrophilen Dermatose, darstellen.

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15.2 Erythrozyten (Zellzahl und -indices)

Lothar Thomas

Die Bestimmung der Erythrozytenzahl, ist eine basale Untersuchung zur Erfassung von Störungen der Erythropoese. Sie ist Bestandteil des Blutbildes und wird gemeinsam mit der Konzentration von Hämoglobin (Hb), dem mittleren Zellvolumen (MCV) und der Verteilungsbreite der Erythrozyten(Red cell distribution width, RDW) direkt von den Hämatologie Analyzern gemessen.

Aus der Messung von Erythrozytenzahl, MCV und Konzentration von Hb leiten Hämatologie-Analyzer rechnerisch folgende Parameter ab:

  • Hämatokrit (Zellpackungsvolumen).
  • Mittlerer zellulärer Hämoglobingehalt (MCH).
  • Mittlere zelluläre Konzentration von Hb (MCHC).

MCV, MCH und MCHC werden als Erythrozytenindices bezeichnet und beschreiben durch Volumen, Hb Gehalt Hb Konzentration und Veränderungen der Größe und Hämoglobinisierung die roten Blutzellen. Bei Anämien ist die Bestimmung des Anteils hypochromer roter Blutzellen (%HYPO) ein empfindlicherer Marker als die Erythrozytenindices.

15.2.1 Erythrozytenzahl

Die wesentliche Bedeutung der Erythrozytenzahl Messung, auch als Red blood cell count (RBC) bezeichnet, liegt in der Bestimmung abgeleiteter Parameter wie dem Hämatokrit und den Erythrozytenindices.

15.2.1.1 Indikation

In der Kombination mit den Erythrozytenindices:

  • Zur Diagnostik und Differenzierung von Anämien.
  • Diagnostik von Polyzythämien und Polyglobulien.

15.2.1.2 Bestimmungsmethode

Die analytischen Methoden der Hämatologie Analyzer sind Variationen der Flowzytometrie und Anwendung der elektrischen Widerstands- und/oder Impedanzmessung. Vielfach sind die Lasertechnologie als Lichtquelle und zytochemische Methoden integriert /1/.

15.2.1.2.1 Automatisiertes komplettes Blutbild

Prinzip: Das automatisierte komplette Blutbild (complete blood count; CBC) beginnt mit der Aspiration einer spezifischen Menge gut durchmischten Blutes durch den Hämatologie-Analysator. Die Probe wird aliquotiert und die Aliquots mit Verdünnungs- und Stabilisierungslösungen zur Bestimmung von Erythrozyten, Thrombozyten und Leukozyten versetzt sowie mit einem Reagenz zur Lyse der Erythrozyten. Die aliquotierten Proben werden kanalisiert /2/:

  • In eine Küvette zur spektrophometrischen Bestimmung von Hb, das entweder direkt spektrophotometrisch gemessen wird oder unter Anwendung der Cyanmethämoglobin-Methode.
  • In spezifische Zählkammern, Flusszellen oder Bäder zur Bestimmung der Zellzahl und der Zellgröße. Die meisten Analyzer wenden die Streulicht Methodik an, andere die elektrische Impedanz Technologie.

Streulicht Technologie

Ein verdünntes Blutvolumen wird hydrodynamisch in einer Flusszelle fokussiert, die von einen engen Lichtstrahl durchleuchtet wird. Wenn eine Zelle den Lichtstrahl passiert wird das Licht gestreut. Das von jeder Zelle gestreute Licht wird von einem Photodetektor erfasst und in einen elektrischen Impuls umgewandelt, dessen Amplitude proportional dem Zellvolumen ist. Die Anzahl der generierten Impulse ist proportional zur Zellzahl. Die Messung des Streulichts erfolgt in den Winkeln von 2,2–3,5 Grad und von 5–15 Grad in Vorwärtsrichtung. Somit erfolgt gleichzeitig die Messung der Größe und des Hb-Gehalts des Erythrozyten /2/.

  • Die Zahl der Erythrozyt und Thrombozyten wird durch Impulse bestimmt, die im Bereich von 2–20 fl (Thrombozyten) und von 30–180 fl (Erythrozyten) liegen.
  • MCV und MCH werden direkt gemessen und ein Erythrogramm erstellt (Abb. 15.2-1 – Erythrogramm).
  • Hämatokrit und MCHC werden über Formeln berechnet.
  • Die Leukozytenzahl wird aus einer Suspension bestimmt, in der die Erythrozyten lysiert sind. Die Leukozyten werden fixiert oder vermittels des Gehaltes ihrer Enzyme, z.B. Myeloperoxidase, angefärbt. Die so behandelte Suspension wird in einer Flusszelle hydrodynamisch fokussiert. Passiert eine Zelle den Lichtweg wird das Licht gestreut und das Streulicht und die Lichtabsorption gemessen. Aus den ermittelten Daten ergibt sich die Zellzahl und einem zweidimensionalen Zytogramm wird die Zelldifferenzierung dargestellt. Siehe Abb. 15.2-2 – Erythrozytenverteilungsbreite.

Impedanz-Technologie

Eine spezifische Menge verdünnten Blutes fließt durch eine Apertur, die zwischen zwei Elektroden gelegen ist. Zellen durchfließen die Apertur und verursachen einen kurzen Anstieg der Impedanz, die in Form eines elektrischen Impulses registriert wird. Die Pulsamplitude ist proportional dem Zellvolumen und die Anzahl der Pulse proportional der Zellzahl /2/.

Die Zahl an Erythozyten und Thrombozyten wird aus der selben Zellsuspension ermittelt, aber getrennt durch Impulse der Zellgrößen (Thombozyten 2–20 fl, Erythrozyten > 36 fl).

Hämatokrit, MCH und MCHC werden über Formeln kalkuliert.

Die Verteilungsbreite derErythrozyten wird bestimmt (Abb. 15.2-2 – Erythrozytenverteilungsbreite).

Die Leukozytenzahl, wird in einer Zellsuspension bestimmt, in der die Erythrozyten lysiert sind, anhand der Impulse im Bereich > 35 fl. Die Differenzierung der Leukozyten erfolgt elektronisch aufgrund der elektrischen Pulse, die sie generieren. Unter Anwendung eines spezifischen Reagenzes schrumpfen die Leukozyten unterschiedlich und die entstandenen Zelltypen werden anhand eines Histogramms differenziert /1/.

15.2.1.3 Untersuchungsmaterial

  • EDTA-Blut: 1 ml
  • Kapillarblut (Heparin) aus Fingerbeere oder Ferse.

15.2.1.4 Referenzbereich

Siehe Lit. /2, 3, 4/ und Tab. 15.2-1 – Referenzbereiche der Erythrozytenzahl.

15.2.1.5 Bewertung

Die Erythrozytenzahl ist als Einzelparameter diagnostisch wenig aussagekräftig. Erst in Kombination mit dem Hämatokrit kann, bezugnehmend auf die Erythrozytenmasse des Körpers, eine Unterscheidung in Erythrozytopenie, Erythrozytose oder normale Erythrozytenzahl erfolgen. Ursache der geringen Aussagekraft der Erythrozytenzahl zur Diagnostik einer Anämie oder Polyzythämie sind Änderungen des Plasmavolumens, die direkt die Erythrozytenzahl beeinflussen. Das ist z.B. der Fall bei Erhöhung des Plasmavolumens in der Schwangerschaft oder bei Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts. Abhängig von der Literaturangabe werden für Gesunde angeben /6/:

  • Als Obergrenze der Erythrozytenmasse des Organismus, bestimmt mit radioaktiv markierten Eigenerythrozyten, 30–36 ml/kg KG.
  • Als Untergrenze des Plasmavolumens, bestimmt mit radioaktiv markiertem Albumin, 33–39 ml/kg KG.

Für kachektische und fettsüchtige Personen gelten diese Angaben nicht.

Die Erythrozytenzahl dient in der Routinediagnostik im wesentlichen der Überprüfung der Plausibilität des roten Blutbildes. Denn nach der 3er-Regel gilt bei normalem Blutbild und bei normozytärer, normochromer Anämie folgende Beziehung:

Erythrozytenzahl (Mio/μl) × 3 = Hb-Wert (g/dl) × 3 = Hämatokritwert (%)

Die 3er Regel geht von der Annahme aus, dass sich die Konzentration des Hb linear mit dem Erythrozytenvolumen verändert, was aber nur bei gesunden Personen der Fall ist. Abweichungen von der 3er Regel treten bei pathologischen Ereignissen auf, z.B.:

  • Der Eisenmangelanämie, da hypochrome Erythrozyten sich stärker verformen als normochrome und das Erythrozytenvolumen und somit der Hämatokrit bei der Impedanzmessung zu niedrig bestimmt wird.
  • Dem β-Thalassämie Syndrom. Diese Patienten haben gewöhnlich eine milde Anämie, eine erhöhte Zahl roter Blutzellen, einen normalen oder leicht erniedrigten Hämatokrit und ein erniedrigtes MCV.
  • Einer DNA Synthesestörung auf Grund von Folsäure- oder Vitamin B12-Mangel, Alkoholismus oder durch eine chronische Lebererkrankung bedingte Anämie mit makrozytären roten Blutzellen.
  • Einer hereditären Sphärozytose bei erhöhter Anzahl roter Blutzellen.
  • Der Störung der Hb-Bestimmung durch Hyperlipidämie.
  • Von Kälteagglutininen in der Probe. Die Erythrozytenzahl wird zu niedrig bestimmt.
  • Durch eine starke Hämolyse der Probe; dadurch ist die Erythrozytenzahl inadäquat niedrig.
15.2.1.5.1 Anämie

Eine Anämie, z.B. durch nicht Volumen kompensierten akuten Blutverlust, ist in den ersten 24 h kaum an einem Abfall der Erythrozytenzahl oder des Hämatokrits erkennbar, da Erythrozyten und Plasma im gleichen Verhältnis verloren gehen. Erst nach 12–16 h kommt es durch eine Umverteilung des Körperwassers zwischen Extra- und Intrazellulärraum zum Abfall der Erythrozytenzahl.

Bei chronischer Anämie ist das Blutvolumen in der Regel normal, d.h. entsprechend einer Abnahme der Erythrozytenmasse hat das Plasmavolumen zugenommen. Die Erythrozytenzahl und der Hämatokrit sind gewöhnlich vermindert. Es kann aber bei ausgeprägter Mikrozytose, z.B. bei schwerer Eisenmangelanämie oder dem Thalassämie-Syndrom, die Erythrozytenzahl im Referenzbereich liegen oder wie bei der hereditären Sphärozytose sogar erhöht sein. Siehe auch weiterführend Beitrag 15.4 – Hämatokrit.

15.2.1.5.2 Anämie bei soliden Tumoren unter Chemotherapie

Die Anwendung von Erythropoetin stimulierenden Agentien (ESAs) zum Management einer Anämie unter Chemotherapie hebt den Hämoglobinwert an und reduziert die Gabe von Erythrozytenkonzentraten. Die ESA-Therapie kann aber auch Thrombosen verursachen. Die Empfehlungen der ESMO und der ASCO/ASH sind demzufolge /2728/:

  • ESMO: Die Therapie mit ESA wird bei Patienten mit einer Anämie empfohlen, wenn der Hämoglobinwert unter 10 g/dL beträgt.
  • ASCO/ASH: Eine ESA Therapie wird Tumorpatienten mit einer Anämie angeboten, wenn der Hämoglobinwert unter 10 g/dL beträgt und die Therapie nicht kurativ ist.
15.2.1.5.3 Polyzythämie

Zustände mit einer Erhöhung der Zahl an roten Blutzellen werden als Polyzythämie, Erythrozytose und im deutschen Sprachgebrauch auch als Polyglobulie bezeichnet. Unterschieden wird die absolute Polyzythämie, die auf einer Expansion der Erythropoese im Knochenmark beruht, von der relativen, die durch eine Verminderung des Plasmavolumens bedingt ist. Polyzythämien können angeboren oder erworben sein /6/. Bei der sekundären Polyzythämie resultiert die vermehrte Erythrozytenbildung aus einer erhöhten Bildung von Erythropoetin bei hypoxischen Patienten. Die angeborene Polyzythämie ist selten und geht bei Neugeborenen mit einem Hämatokrit über 0,65 und einem Hyperviskositäts Syndrom einher. Eine Polyzythämie, die nicht mit der Polycythämia vera verwechselt werden darf, liegt vor, wenn die Erythrozytenmasse mehr als 25 % des erwarteten Werts beträgt. Erhöht sind neben der Erythrozytenzahl der Hb-Wert und der Hämatokrit. Detaillierte Ausführungen zur Polyzythämie siehe Beitrag 15.4. Leichte Polyzythämien, die aus einer Vermehrung der roten Blutzellmasse und einer Verminderung des Plasmavolumens resultieren werden bei Rauchern beobachtet.

15.2.1.6 Hinweise und Störungen

Antikoagulanz

Empfohlen wird EDTA 1,5–1,8 mg/ml Blut /7/. Von den EDTA Salzen ist K3EDTA das am wenigsten geeignete. Von den verwendbaren EDTA Salzen führt es mit Anstieg der Konzentration von EDTA zur stärksten Schrumpfung der Erythrozyten und bewirkt die größte Abnahme des MCV beim Stehenlassen des Blutes bis zur Messung. Erhöhung der Konzentration von EDTA führt generell zu einer Abnahme des MCV.

Probennahme

Bei der Blutentnahme in sitzender Körperhaltung nach zuvor mindestens 15 min Stehen ist die Erythrozytenzahl um 5–10 % höher als nach vorherigem mindestens 15 min Liegen /7/. Nach einer Stauzeit von mehr als 2 min resultiert ein Anstieg der Zellzahl von im Mittel 10 %, was etwa das 1–2 fache der maximal zulässigen Impräzision ausmacht. Blutentnahme unmittelbar nach körperlicher Leistung geht mit einer Erhöhung der Erythrozytenzahl von etwa 10 % einher. Alle die genannten Veränderungen sind Ausdruck einer Hämokonzentration. Im Vergleich zur venösen Blutentnahme liegen bei kapillärer Entnahme die Erythrozytenzahlen bei Erwachsenen um 1,8 % und bei Kindern um 6 % höher /8/.

Störfaktoren

Kälteagglutinine: Hochtitrige Kälteagglutinine führen bei Stehen der Probe bei Zimmertemperatur zur Ausbildung von Erythrozytenagglutinaten. Bei der Zählung mit Hämatologie-Analyzern werden die Erythrozyten falsch niedrig, das MCH (Hb/Erythrozytenzahl) zu hoch bestimmt. Der berechnete Hämatokrit (Erythrozytenzahl × MCV) ist folglich zu niedrig und die MCHC (Hb-Wert/Hämatokrit) zu hoch /9/.

Leukozyten: Diese werden bei der Erythrozytenzählung mitgezählt. Das ist zu vernachlässigen, so lange keine hohen Leukozytenzahlen vorliegen wie bei der chronisch myeloischen Leukämie. Die Leukozytenzahl muss dann subtrahiert werden.

Thrombozyten: Große Thrombozyten, z.B. bei essentieller Thrombozythämie, werden bei der Erythrozytenzählung miterfasst.

Intraindividuelle Variation

Innerhalb von 24 h 4 %, von Tag zu Tag 5,8 %, von Monat zu Monat 5,0 % /10/.

Stabilität

Bei Raumtemperatur (20 °C) und 4 °C 3 Tage, bei 37 °C 36 h, danach kontinuierlicher Abfall /11/.

15.2.2 MCV, MCH, MCHC, RDW, %HYPO

Die Beurteilung der Erythrozyten einer Probe zur Differenzierung von Anämien erfolgt durch die Messung oder Berechnung der Erythrozyten Indices /6/:

  • MCV (Mean cell volume; mittleres Zellvolumen). Das MCV wird in femtoliter (fl = 10–15 l) ausgedrückt und entweder vom Hämatologie-Analyzer direkt gemessen oder wie folgt berechnet:
MCV (fl) = Hämatokrit (als Fraktion) × 10 3 Erythrozytenzahl (10 12 /l)
  • MCH (Mean cellular hemoglobin; mittlerer zellulärer Hämoglobingehalt) des Erythrozyten. Der MCH wird ausgedrückt in pg/Erythrozyt und vom Hämatologie-Analyzer nach folgender Gleichung berechnet:
MCH (pg) = Hämoglobin (g/l) Erythrozytenzahl (10 12 /l)
  • MCHC (Mean cellular hemoglobin concentration; mittlere zelluläre Hämoglobinkonzentration). Die MCHC wird in g/dl oder g/l roter Blutzellen ausgedrückt und wie folgt berechnet:
MCHC (g/l) = Hämoglobinkonzentration (g/l) Hämatokrit (als Fraktion)
  • RDW (Red cell distribution width; Erythrozyten­verteilungs­breite). Graphisch dargestellt wird die Verteilung des MCV einer Probe (Abb. 15.2-2 – Erythro­zyten­verteilungs­breite).
  • Auch wird von einigen Hämatologie-Analyzern ein Erythrogramm erstellt, d.h. der Hämoglobingehalt der Erythrozyten gegen ihr Volumen aufgetragen (Abb. 15.2-1 – Erythrogramm).
  • %HYPO, Anteil der hypochromen roten Blutzellen (RBC) mit einer Hb-Konzentration unter 280 g/l, angeben in % der RBC.

Auf Grund des MCV wird eine Anämie in normo-, mikro- und makrozytär klassifiziert und an Hand des MCHC in normo- und hypochrom. Hyperchrome Anämien gibt es nicht.

15.2.2.1 Indikation

  • Differenzierung und therapeutische Beurteilung von Anämien.
  • Früherkennung von Anämien (%HYPO).

15.2.2.2 Bestimmungsmethode

MCV

Siehe Beitrag 15.2.1.2 – Bestimmungsmethode.

Anteil der hypochromen Erythrozyten (%HYPO)

Die Bestimmung kann nur an bestimmten Hämatologie-Analyzern erfolgen. Jede rote Blutzelle wird zur Kugel transformiert, vermittels Laser Technologie Volumen (V), die Konzentration von Hb (CHC) bestimmt und der Hb Gehalt (CH) in pg berechnet nach der Gleichung: CH = CHC/V. Der Anteil der roten Blutzellen mit einem CH unter 28 pg wird registriert und als %HYPO angegeben. Ebenfalls wird der Anteil der mikrozytären roten Blutzellen (%MIKRO) und der makrozytären roten Blutzellen (%MAKRO) ermittelt /12/. Die %HYPO haben in der Beurteilung des Eisenstoffwechsels eine Bedeutung erlangt.

15.2.2.3 Untersuchungsmaterial

EDTA-Blut: 1 ml

15.2.2.4 Referenzbereich

Siehe Lit. /2, 3, 5, 13, 14/ und Tab. 15.2-2 – Referenzbereiche der Erythrozytenindices.

15.2.2.5 Bewertung

Die Erythrozytenindices MCV, MCH, MCHC und RDW sind bedeutsam für /15/:

  • Die Klassifizierung von Anämien.
  • Die Erkennung einer latenten Anämie.
  • Die ätiologische Abklärung von Anämien.

Das MCV sollte gemeinsam mit der RDW bewertet werden. So spricht bei mikrozytärer Anämie eine erhöhte RDW für eine Eisenmangelanämie, während eine normale RDW eher auf ein Thalassämie-Syndrom hinweist.

15.2.2.5.1 MCV

Die Bestimmung des MCV dient der diagnostisch wichtigen Einteilung der Anämien in normo-, mikro- und makrozytäre Formen. Beachtet werden muss, dass das MCV ein gemittelter Wert ist und kleine Populationen von mikro- oder makrozytären Erythrozyten nicht erkannt werden können.

Das MCV ist abhängig vom Gehalt an Hb und der Hydratation des Erythrozyten, d.h. der Osmolalität im Plasma. Stark hypochrome Erythrozyten unterliegen einer stärkeren Verformung als die mit normalem Hb Gehalt und der MCV wird somit zu niedrig bestimmt.

Normales MCV: Das MCV ist normal, wenn:

  • Die Mehrzahl der Erythrozyten ein Zellvolumen im Referenzbereich hat, die RDW ist dann ≤ 15 %.
  • Große und kleine Erythrozyten vorliegen, die RDW ist dann über 15 %. Eine solche Situation ist z.B. gegeben bei der immunhämolytischen Anämie (IHA) oder der mikro angiopathischen hämolytischen Anämie. Bei der IHA liegen zum einen Mikrosphärozyten vor, zum anderen Retikulozyten und polychromatische Erythrozyten mit hohem Zellvolumen. Das MCV kann als Mittel beider Zellpopulationen normal sein. Bei vergrößerter RDW sollte ein Blutausstrich angelegt werden, der in diesem Fall Anisozytose, Polychromasie und Mikrozytose zeigt. Bei disseminierter intravasaler Gerinnung können Fragmentozyten, die als kleine Erythrozyten gezählt werden und große polychromatische Erythrozyten vorliegen, das MCV aber innerhalb des Referenzbereichs sein.

Erniedrigtes MCV: Mikrozytose tritt bei Eisenmangel, Vitamin B6-Mangel und Thalassämien auf. Häufigste Ursache ist der Eisenmangel. Beim Eisenmangel durchläuft die Erythropoese mehr Zellteilungen und mit jeder Teilung wird das Volumen des Erythrozyten kleiner. Die RDW ist über 15 %, im Blutausstrich liegen Mikrozytose und Anisozytose vor. Die Verbreiterung der RDW ist ein frühes Zeichen der Eisenmangelanämie.

Die hereditäre sideroblastische Anämie ist eine seltene mikrozytäre Anämie mit oft deutlich vermindertem MCV unter 60 fl. Oft wird sie als Thalassämie, insbesondere Thalassämia intermedia, fehl interpretiert.

Erhöhtes MCV: Eine Makrozytose tritt bei folgenden Zuständen auf:

  • Regenerativ bei Behandlung einer Eisenmangelanämie, bedingt durch eine Retikulozytose.
  • Chronischer Lebererkrankung. Etwa 20 % der Patienten mit nicht alkoholischer Lebererkrankung haben eine Makrozytose, ohne dass dies auf einen Folsäure- oder Vitamin B12-Mangel oder eine Retikulozytose durch Blutung zurückgeführt werden kann.
  • Alkoholismus. Der mittlere Anstieg liegt etwa 5 fl, d.h. 5–10 % über dem Mittelwert von Kontrollpersonen. Als Entscheidungsgrenze zur Beurteilung einer Alkoholabstinenz wird ein Grenzwert von ≥ 94 fl angesehen. Eine Normalisierung des MCV nach Alkoholabstinenz ist in der Regel nach 3–4 Monaten zu erwarten. Als Kontrollparameter des Alkoholentzugs ist das MCV auf Grund seiner langen Halbwertszeit ungeeignet /16/.
  • Vitamin B12- oder Folatmangel. Die DNA-Synthese ist vermindert und die Erythropoese durchläuft weniger Zellteilungen, deshalb haben die Erythrozyten ein größeres Volumen. Die Synthese von Hb ist nicht beeinträchtigt. Ein erhöhtes MCV kann benutzt werden, um die Diagnose eines Vitamin B12- oder Folsäuremangels wahrscheinlicher zu machen, ein normales MCV schließt aber den Mangel nicht aus /17/. Wesentliche Ursache ist, dass etwa 20 % der Patienten mit Vitaminmangel auch einen Eisenmangel haben.
  • Retikulozytose. Retikulozyten haben, abhängig von der Regenerativität der Erythropoese, ein 3–10 % größeres Volumen als Erythrozyten. Da Retikulozyten bei der Bestimmung des MCV mit erfasst werden, ist bei einer Retikulozytose ab etwa 15 % mit einem Anstieg des MCV zu rechnen.
  • Myelodysplastisches Syndrom, hereditäre Stomatozytose.
15.2.2.5.2 MCH

In der Regel wird das Volumen der Erythrozyten mit 95 % der maximal möglichen Menge an Hb ausgestattet und somit ist bei der Mehrzahl der Anämien das MCH mit dem MCV korreliert. Mikrozytäre Anämien entsprechen demzufolge hypochromen, normozytäre den normochromen Anämien.

Normales MCH: Ist typisch für den Gesunden, aber auch häufig:

  • Bei der Anämie chronischer Erkrankungen, z.B. Entzündungen, Infektionen, malignen Tumoren.
  • Bei der Anämie bedingt durch chronische Nierenerkrankung und bei hämolytischer Anämie.

Niedriges MCH: Zeigt eine Verminderung des Hb-Gehalts der Erythrozyten an und ist z.B. typisch für Eisen-, Kupfer- und Vitamin B6-Mangel. Im Blutausstrich weisen hypochrome Erythrozyten auf eine Eisen defiziente Erythropoese hin.

Erhöhtes MCH: Zustände mit Vermehrung des MCH erhöhen auch das MCV. Das betrifft makrozytäre Anämien wie z.B. Folat- und Vitamin B12-Mangel. Bei der Regeneration einer Eisenmangelanämie unter Therapie kann es bei starker Retikulozytose zu einer Erhöhung des MCH kommen.

15.2.2.5.3 MCHC

Die MCHC ist ein Maß der Konzentration an Hb der Erythrozyten. Auf Grund des gleichsinnigen Verhaltens von Erythrozytenvolumen und dem Gehalt an Hb des einzelnen Erythrozyten bleibt der Wert des MCHC bei vielen Veränderungen des roten Blutbildes konstant. Abnormalitäten des Blutbildes, bedingt durch die Erythrozytenzählung, die Hb-Bestimmung, die Bestimmung von MCV oder des Hämatokrits führen zu einer fehlerhaften Kalkulation des MCHC.

Normale MCHC: Bei vielen Anämieformen ist die MCHC im Referenzbereich. Das ist nicht selten auch der Fall bei Anämien mit Eisen defizienter Erythropoese und starker Hypochromie. Da hypochrome Erythrozyten sich stark verformen werden sie mit der Impedanzmethode in ihrem Volumen noch kleiner bestimmt als sie schon sind, mit der Folge, dass eine normale MCHC gemessen wird. Bei der Streulichtmethode, bei der gekugelte Erythrozyten gemessen werden, ist der ermittelte CHCM jedoch richtig, da das Zellvolumen in seiner realen Größe erfasst wird.

Niedrige MCHC: Kann bei Mangelanämien vorkommen, z.B. Eisen-, Kupfer-, Vitamin B6-Mangel. Wird fälschlicherweise ein zu niedriger Hb-Wert oder ein zu hoher Hämatokrit gemessen, ist die MCHC ebenfalls niedrig.

Erhöhte MCHC: Wird gefunden bei Sichelellanämie (Werte bis 450 g/l), hereditärer Sphärozytose, und bei hochtitrigen Kälteagglutininen. Siehe Beitrag 15.2.1.6 – Hinweise und Störungen.

RDW

Die RDW erlaubt die Beurteilung, ob die Erythrozyten eines Patienten isozytär oder anisozytär sind /18/. Sehr hohe RDW Werte werden bei akuten hämolytischen Anämien gemessen und sind das Zeichen einer Retikulozytose. Die Klassifizierung der Anämien auf Grund von RDW und MCV zeigt Tab. 15.2-3 – Klassifizierung der Anämien auf Grund von MCV und RDW. Nach den Ergebnissen der Third National Health and Nutrition Examination Survey 1988–1994 (NHANES III) ist die RDW bei Personen im mittleren Alter und bei alten Menschen ein Indikator des Mortalitätsrisikos. Personen ohne Karzinom oder kardiovaskuläre Erkrankung und einem RDW über 14,05 % hatten ein doppelt so hohes Mortalitätsrisiko wie diejenigen mit einem RDW unter 12,6 % /19/.

15.2.2.5.4 %HYPO

Die Bestimmung des Anteils hypochromer roter Blutzellen ist ein sensitiverer Marker als die Erythrozyten Indices zur Erkennung von Erythrozyten mit vermindertem Hb Gehalt und damit einer Eisen-restriktiven Erythropoese. So führen eine Verminderung des Hb Gehaltes der Erythrozyten bis zu 10 % weder zu einer deutlichen Veränderung des MCV, noch des MCH oder MCHC. Die Bestimmung der %HYPO zeigt eine Nachweisempfindlichkeit von 2 % hypochromer Erythrozyten bei akzeptabler Präzision. Ein beginnender Eisenmangel der Erythropoese wird deshalb frühzeitiger erkannt als durch die Bestimmung der Erythrozytenindices. Das ist auch der Fall unter Eisensubstitution. Eine Response wird durch den Abfall der %HYPO nach 2–3 Wochen angezeigt /20/.

Bei Personen mit niedrigem Ferritinwert ist die Reserve an Speichereisen leer. Ein normaler %HYPO in dieser Situation zeigt an, dass noch keine Eisen restriktive Erythropoese vorliegt und die Eisenversorgung der Erythropoese noch auf einem Niveau ist, das eine normale Hb Synthese der roten Blutzellen ermöglicht (latenter Eisenmangel; Eisenmangel ohne Anämie).

Patienten mit chronischem Nierenversagen sollten einen ausgeglichenen Eisenhaushalt haben, insbesondere unter Therapie mit Erythropoese stimulierenden Agenzien (ESA). Die European Best Practice Guidelines for the Management of Anemia in Patients with Chronic Renal Failure empfehlen eine minimale Ferritinkonzentration ≥ 100 μg/l (besser 200–500 μg/l), ein %HYPO unter 10 (besser unter 2,5) oder alternativ zum %HYPO eine Transferrinsättigung über 20 % (besser 30–40 %) /21/.

15.2.2.5.5 %MIKRO/%HYPO

Dieser Quotient ist eine Screening Untersuchung auf ein β-Thalassämie Syndrom, wenn der Anteil der mikrozytären roten Blutzellen über 20 % beträgt. Ein Quotient über 0,90 bei über 18 % mikrozytären Erythrozyten ist hinweisend /22/. Die diagnostische Sensitivität des Quotienten ist gut, die Spezifität mäßig.

15.2.2.5.6 %MAKRO

Der Anteil makrozytärer roter Blutzellen (%MAKRO) ist, wenn keine Retikulozytose vorliegt, ein früherer Indikator als das MCV bei folgenden Fragestellungen:

  • Erkennung und Verlaufsbeurteilung einer Vitamin B12- oder Folsäure-Mangelanämie.
  • Beurteilung einer Alkoholabstinenz durch Kontrolle des Volumens der roten Blutzellen.

Die Klassifizierung der Anämien auf Grund von MCV, MCH und MCHC zeigt Tab. 15.2-4 – Klassifizierung der Anämien auf Grund von MCV, MCH und MCHC.

15.2.2.6 Hinweise und Störungen

MCV

Wird der untere Schwellenwert des Hämatologie-Analyzers zu hoch gesetzt, wird das MCV zu groß, da kleine Erythrozyten nicht mitgemessen werden. Sitzt der obere Schwellenwert zu hoch, werden Leukozyten mit erfasst. Das MCV stellt bei Präsenz mehrerer Erythrozytenpopulationen nur den arithmetischen Mittelwert dar, es können deshalb ohne Kenntnis der RDW insbesondere Mikrozytosen übersehen werden. Mit den Hämatologie Analyzern wird das MCV niedriger bestimmt als bei manueller Methodik, da bei letzterer der Hämatokrit auf Grund des Einschlusses einer geringen Menge Plasma zu hoch bestimmt wird.

Die Erythrozyten schwellen bei Raumtemperatur und 24 h Stehen um bis zu 10 % ihres urspünglichen Volumens an.

MCH

Bei starken Hypertriglyzeridämien und bei Leukozytenwerten über 50 × 109/l wird durch Lichtabsorption und Lichtstreuung der Hb Wert und damit auch das MCH zu hoch bestimmt. Das ist auch der Fall bei intra- und extravaskulärer Hämolyse.

MCHC

Da die interindividuelle Variation der MCHC klein ist, kann diese gut zur Plausibilitätsprüfung serieller Blutbildmessungen herangezogen werden. Sie eignet sich zur Prüfung der analytischen Zuverlässigkeit eines Hämatologie Analyzers, z.B. durch den Vergleich des Mittelwertes von Tag zu Tag und zur Überprüfung der Einstellung der Schwellenwerte.

Erhöhte Werte von MCHC lösen im Labor einen Alarm aus. Entweder sind sie ein Artefakt oder sie beruhen auf einer pathologischen Genese. Sollte es ein Problem der analytischen Zuverlässigkeit des Hämatologie-Analyzers sein, sind sofort Korrekturen erforderlich, da die Zahl roter Blutzellen, die Hb-Konzentration oder der MCV-Wert falsch gemessen sein kann. Ursachen, die eine erhöhte MCHC verursachen können sind /25/:

  • Eine falsch niedrige Erythrozytenzahl (Kälteagglutination)
  • Aggutinate der Erythrozyten
  • Lipämisches, hämolytisches oder ikterisches Plasma.
  • Leukozytose /26/
  • Sphärozytose
  • Störungen der Elektrolyte des Plasmas.

Hyperglykämie

Blutglucosewerte über 600 mg/dl (33,3 mmol/l) bewirken durch eine Schwellung des Erythrozyten einen Anstieg des MCV und des Hämatokrits und einen Abfall der MCHC /23/.

Kälteagglutinine

Siehe Beitrag 18.11 – Kälteagglutinine, Kryoglobuline, Kryofibrinogen. Sie werden gehäuft gefunden bei /24/:

  • Infektionen mit Mycoplasma pneumoniae. In diesem Fall sind hochtitrige Kälteagglutinine der Klasse IgM nachweisbar.
  • Der Epstein Barr-Virus (EBV)-Infektion (infektiöse Mononukleose). Es handelt sich um Anti-i-Kälteagglutinine der Klasse IgM oder IgG.
  • Malignen, lymphoproliferativen B-Zellerkrankungen wie der chronisch lymphatischen Leukämie oder anderen malignen Lymphomen. In diesen Fällen sind monoklonale Immunglobuline, insbesondere der Klasse M, für die Kälteagglutination der roten Blutzellen verantwortlich.

Erwärmen der Blutprobe auf 37 °C vor der Messung hebt die Kälteagglutination auf. Die Sicherung der Kälteagglutination kann durch einen Blutausstrich erfolgen. Bei 250 facher Vergrößerung wird die Agglutination der Erythrozyten bestätigt.

RDW

Die intraindividuelle Variation beträgt innerhalb von 24 h 1,7 %, von Tag zu Tag 5,9 % und von Monat zu Monat 5,3 % /10/.

Stabilität /11/

  • Erythrozytenzahl: Bei RT und 4 °C 72 h.
  • MCV: Bei 4 °C 3 Tage, bei RT 12 h, bei 37 °C 8 h.
  • MCH: Bei 4 °C und RT 3 Tage, bei 37 °C 24 h.
  • MCHC: Bei 4 °C 3 Tage, bei RT 7 h.
  • RDW: Bei 4 °C 3 Tage, bei RT 7 h.

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15.3 Hämoglobin (Hb)-Konzentration

Lothar Thomas

Der Hb-Wert des Blutes ist von der Zahl der roten Blutzellen, ihrem Hb-Gehalt und dem Plasmavolumen abhängig. Zwischen Hb-Wert im Blut und der Erythrozytenmasse des Organismus besteht eine direkte Beziehung bei konstantem Plasmavolumen. Die Verminderung des Hb-Bestandes des Organismus wird als Anämie bezeichnet. Eine Anämie liegt vor, wenn die Erythrozytenmasse reduziert ist (normal Frauen 21–27 ml/kg KG, Männer 24–32 ml/kg KG) /1/. Da die Erythrozytenmasse nur mit radioaktiven Methoden gememessen werden kann, ist die Bestimmung des Hb-Werts in einem definierten Blutvolumen eine Alternative. Denn die Hb-Konzentration erfasst das Produkt aus Erythrozytenzahl und den Hb-Gehalt des Erythrozyten. Aus dem Hb-Wert wird eine Anämie erkannt, wenn das Blutvolumen normal ist. Das ist bei Anämien, die älter als 48 h sind, in der Regel der Fall. Denn bei diesen ist die Verminderung der Erythrozytenmasse durch eine Zunahme des Plasmavolumens ausgeglichen. Das Blutvolumen beträgt bei Neugeborenen 90 ml/kg KG und bei älteren Kindern und Erwachsenen 80 ml/kg KG.

15.3.1 Indikation

Diagnostik, Verlaufs- und Therapie-Beurteilung von Anämien, Polyglobulien und Polyzythämien.

15.3.2 Bestimmungsmethode

Hämiglobincyanid-Methode

Prinzip: In Lösung werden Fe2+ zu Fe3+ des Hb oxidiert durch Kaliumhexacyanoferrat [K4Fe(CN)6]. Es bildet sich Hämiglobin (Hi), das mit Cyanidionen (CN), die von Kaliumcyanid in der Lösung bereitgestellt werden, zu HiCN generiert (Tab. 15.3-1 – Bildung von Hämiglobincyanid aus Hämoglobin). HiCN hat ein breites Absorptionsmaximum um 540 nm und die Absorption von HiCN ist bei 540 nm proportional der Hb-Konzentration. Das Analysensystem wird mit einem sekundären HiCN Standard kalibriert. Die Standards enthalten 500–800 mg/l HiCN, so dass bei der gewöhnlichen Verdünnung der Blutprobe auf 1 : 251, der Standard äquivalent einer Hb-Konzentration von 125–200 g/l ist. Die Hämiglobincyanid Methode ist Referenzmethode /2/.Siehe auch Beitrag 15.2.1.2 – Bestimmungsmethode.

15.3.3 Untersuchungsmaterial

  • EDTA-Blut (Dinatrium- oder Dikalium-EDTA): 1 ml
  • Kapillarblut (heparinisierte Kapillare): 0,02–0,05 ml

15.3.4 Referenzbereich

Siehe Lit. /3, 4, 5, 6/ und Tab. 15.3-2 – Referenzbereich von Hämoglobin.

15.3.5 Bewertung

Die Hb-Bestimmung ist die wichtigste Untersuchung zur Diagnostik, Verlaufs- und Therapie-Beurteilung der Anämie. Häufige Ursachen von Anämien zeigt Abb. 15.3-1 – Häufigkeit der Ursachen von Anämien.

15.3.5.1 Diagnostik der Anämie

Der Begriff Anämie beschreibt eine Verminderung der Hb-Konzentration, bedingt durch /78/:

  • Eine absolute Verminderung der Erythrozytenzahl, z.B. bei der Anämie chronischer Erkrankungen.
  • Abnahme des Hb-Gehaltes der Erythrozyten. Das kann der Fall sein bei leicht verminderter Zellzahl, z.B. Eisenmangelanämie oder erhöhter Zellzahl, z.B. heterozygote β-Thalassämie.
  • Eine Zunahme des Plasmavolumens mit relativer Verminderung der Erythrozytenzahl bei normaler oder sogar erhöhter Erythrozytenmasse, z.B. im letzten Drittel der Schwangerschaft. In diesem Fall wird von einer Pseudoanämie gesprochen.

Die Erkennung der Anämie ist ein wichtiger Aspekt in der ärztlichen Diagnostik. Aber die Entscheidung, ob ein Patient anämisch ist im Vergleich zum Hb-Wert in der Bevölkerung ist nicht unproblematisch /9/. Empfohlene untere Grenzwerte sind gezeigt in Tab. 15.3-3 – Untere Grenzwerte der normalen Hb-Konzentration Erwachsener.

Die Grenzwerte für die Anämie bei Kindern werden abhängig vom Alter bewertet. Die Grenzwerte des Centers for Disease Control (CDC) der USA sind aufgeführt /10/ in Tab. 15.3-4 – Untere Grenzwerte für Anämie bei Kindern in den USA .

Für bestimmte Personengruppen wie Raucher oder in Abhängigkeit von Lebensumständen (Aufenthalt in Höhenlagen) sind Anpassungen des Hb-Wertes erforderlich. Siehe:

15.3.5.2 Ausmaß der Anämie

Das Ausmaß der Anämie wird beurteilt abhängig von der Hb-Konzentration in /11/:

  • Mild; unterer Referenzbereichswert bis > 100 g/l.
  • Moderat 100–>80 g/l.
  • Schwer 80–65 g/l.
  • Lebensbedrohend; unter 65 g/l.

15.3.5.3 Klinische Symptome der Anämie

Die klinischen Symptome, die der Patient wahrnimmt, sind kalte und blasse Haut, Müdigkeit, Herzklopfen, geringe Belastbarkeit, Depression, Störung der kognitiven Funktion und eine generelle Verminderung der Lebensqualität. Bei einer schweren Anämie, wenn sich der Hb-Wert in etwa halbiert hat, kann es zur kardialen Dekompensation mit Stauungsinsuffizienz des Herzens kommen, da der koronare Blutfluss sein Maximum erreicht hat. Diese Situation ist besonders kritisch bei Patienten mit präexistenter koronarer Herzerkrankung. Auch kann bei schwerer Anämie, auf Grund einer Verminderung des renalen Blutflusses, eine leichte Proteinurie resultieren /12/.

Die Schwere der klinischen Symptome ist vom Ausmaß der Anämie und weiteren Faktoren abhängig /12/:

  • Dem physiologischen Status des Patienten. Es haben jüngere Gesunde weniger und leichtere Symptome als alte Menschen.
  • Der Komorbidität. So führen schon leichte Absenkungen des Hb-Werts bei multimorbiden oder bettlägerigen Patienten zu stärkeren Beschwerden wie Schläfrigkeit, Stürzen beim Aufstehen, Claudicatio oder pectanginösen Beschwerden.
  • Der Geschwindigkeit des Auftretens der Anämie. Langsam sich entwickelnde Anämien werden von scheinbar gesunden Personen häufig erst in körperlichen oder psychischen Stresssituationen wahrgenommen.

15.3.5.4 Häufigkeit der Anämie

In Europa und den USA haben etwa 1 % der erwachsenen Männer und 3–5 % der erwachsenen Frauen eine Anämie, für Afrika sind die Zahlen 27 % und 48 % sowie 40 % und 57 % für Südostasien. Die häufigsten Ursachen sind Mangel- und Fehlernährung sowie der Befall mit dem Hakenwurm /13/. Durch Eisenmangel sind etwa die Hälfte der Anämien bedingt, die Zahl der Menschen mit Anämie durch Eisenmangel soll weltweit über 500 Millionen betragen, die Zahl derjenigen mit Eisenmangel ohne Anämie ist etwa 3 fach so hoch.

15.3.5.5 Anämietoleranz

Junge gesunde Personen mit Normovolämie

Sie zeigen keine Hinweise auf eine kritische Verminderung der O2-Versorgung bis zu einem Hb-Wert von 50 g/l. Ab ≤ 60 g/l können aber EKG-Veränderungen und Störungen der kognitiven Funktion auftreten. Hb-Werte von 50–45 g/l sind die absolute Indikation zur Substitution mit Erythrozytenkonzentraten (EK).

Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen (CVD)

Patienten mit stabiler CVD tolerieren Hb-Werte von 70–80 g/l ohne hypoxische Schäden. Werte unter 70 g/l erhöhen die Morbidität und Mortalität.

Operative Patienten /14/

Ein präoperativer Hb-Wert ≤ 100 g/l ist mit einer erhöhten perioperativen Mortalität assoziiert. Das ist bei einem perioperativen Hb-Abfall auf ≤ 100 g/l bei Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankung (CVD) nicht der Fall. Das Risiko der Mortalität ist am Größten, wenn bei Patienten mit CVD der Abfall intraoperativ ≥ 40 g/l beträgt. Bezugnehmend auf alle Patienten ist ein perioperativer Hb-Abfall bis 70 g/l zwar mit einer erhöhten Morbidität, nicht aber mit erhöhter Mortalität verknüpft. Aber jeder Abfall um 10 g/l unter 70 g/l erhöht das Risiko der Mortalität 1,5 fach.

Patienten ohne CVD und einem präoperativen Hb-Wert von 60–90 g/l und nur geringem präoperativen Blutverlust haben eine Odds-Ratio von 1,4 für Mortalität im Vergleich zu denjenigen mit präoperativen Hb-Werten > 120 g/l (siehe auch Tab. 15.4-2 – Referenzbereiche des Hämatokrits).

Intensivpatienten

Beatmete Intensivpatienten mit Polytrauma und Sepsis scheinen nicht von einer Transfusion auf Hb-Werte > 90 g/l zu profitieren. Nur bei massiven Blutverlusten oder diffuser Blutungsneigung scheint ein Hb-Wert > 100 g/l zur Stabilisierung der Blutgerinnung beizutragen.

15.3.5.6 Einteilung der Anämien

Die Einteilung der Anämien kann erfolgen:

  • Entsprechend der Pathogenese. Diese Einteilung ist jedoch problematisch, da bei vielen Formen der Anämie mehrere Mechanismen zur Pathogenese beitragen.
  • An Hand der Morphologie der Erythrozyten in mikrozytär, normozytär und makrozytär, bzw. nach dem Hb-Gehalt der roten Blutzellen in hypochrome und normochrome Formen. Diese Einteilung hat sich in der Differentialdiagnostik der Anämien durchgesetzt.
  • Nach der Regenerativität der Erythropoese in hypo- , normo- und hyperregenerative Anämien.
  • Nach der Verlaufsform in akute und chronische.
  • In angeborene und erworbene Anämien.

Die Einteilung der Anämien nach der Regenerativität der Erythropoese zeigt Tab. 15.3-7 – Einteilung der Anämien nach der Regenerativität der Erythropoese.

Akute Anämie

Eine akute Anämie, z.B. durch Blutverlust, ist durch den Hämatokrit, die Erythrozytenzahl und die Hb-Konzentration erst nach 24 h zu erfassen, da in den ersten Stunden keine ausreichend kompensatorische Zunahme des Plasmavolumens erfolgt.

Chronische Anämie

Bei Patienten mit chronischer Anämie ist das Blutvolumen annähernd normal, da entsprechend der Verminderung der Erythrozytenmasse das Plasmavolumen zugenommen hat. Als Folge liegt eine Verminderung der Erythrozytenzahl und eine Abnahme von Hämatokrit und Hb-Wert vor.

Relative Anämie

Es besteht ein Zustand mit normaler Erythrozytenmasse, aber das gesamte Blutvolumen ist auf Grund einer Erhöhung des Plasmavolumens vermehrt. Ursache ist eine regulative Änderung im Wasser- und Elektrolyt-Haushalt, z.B. in der Schwangerschaft. Im Unterschied zur chronischen Anämie, bei der im Serum gewöhnlich ein normales Totalprotein gemessen wird, ist bei der relativen Anämie (Pseudoanämie) das Totalprotein erniedrigt oder niedrig-normal, ausgenommen ist der M. Waldenström.

Aplastische Anämie

Die aplastische Anämie beruht auf dem Mangel des Knochenmarks Blut zu bilden. Der hämatopoetische Defekt ist eine mangelnde Funktion des Endorgans, die aus unterschiedlichen pathophysiologischen Mechanismen resultiert. Die Zellularität des Knochenmarks ist vermindert, peripher besteht eine Panzytopenie  /73/.

Differenzierung der Anämien

Die häufigste Form der Anämien ist die mikrozytäre hypochrome Anämie. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, die angeboren oder erworben sein kann. Sie wird besonders diagnostiziert bei Kindern und Heranwachsenden, Frauen vor der Menopause und Schwangeren (meistens auf Eisenmangel beruhend) /64/.

15.3.5.6.1 Mikrozytäre hypochrome Anämien

Die mikrozytäre Anämie kann beruhen auf /64/:

  • Einem Eisenmangel
  • Einem Defekt in den Globingenen (Hämoglobinopathie, Thalassämie)
  • Einem Defekt der Hämsynthese
  • Einem Defekt in der Eisenverfügbarkeit oder der Eisenaufnahme der erythroiden Vorläuferzellen

Die mikrozytäre Anämie kann sideroblastische bedingt sein, eine Störung in die mehrere Gene involviert sind.

Genetisch bedingte Mikrozytosen, die auf einer Störung der Hämsynthese beruhen sind /64/:

  • Die sideroblastische Anämie (siehe Tab. 15.3-9)
  • Die erythropoetische Protoporphyrie (siehe Tab. 14.6-6)
  • Die kongenitale erythropoetische Porphyrie (siehe Tab. 14.6-6).

Genetisch bedingte Mikrozytosen, die ihre Ursache in einer mangelnden Eisenverfügbarkeit haben sind /64/:

  • Die Eisenmangelanämie (siehe Tab. 7.1-2)
  • Die Ferroportin Erkrankung
  • Die hereditäre Atransferrinämie (siehe Tab. 7.1-9)
  • Die hereditäre Acoeruloplasminämie (siehe Tab. 7.1-9)

Zur Beurteilung und Differenzierung der Anämien sollten folgende Tabellen Beachtung finden:

15.3.5.6.2 Makrozytäre Anämien

Der Mangel von Folat oder Vitamin B12 ist verantwortlich für die Ausbildung einer megaloblastären Anämie, die bei jedem der Vitaminmängel auftritt. Eine mangelnde Synchronie zwischen der Reifung des Zytoplasmas und des Zellkerns führt zur Makrozytose, zur Ausbildung eines unreifen Zellkerns und zu hypersegmentierten Granulozyten im peripheren Blut. Das dysplastische und hyperzelluläre Knochenmark kann als eine akute Leukämie fehl interpretiert werden. Die ineffektive Erythropoese führt zu einer Hämolyse im Knochenmark mit der Freisetzung von LDH. Klinische und labordiagnostische Befunde der megaloblastären Anämie sind aufgeführt in:

Siehe auch:

15.3.5.6.3 Diagnostik der Anämien

Zur Differenzierung einer Anämie sind folgende Untersuchungen wichtig:

  • Hämatokrit als Maß zur Beurteilung des Erythrozytenanteils am Blutvolumen.
  • Erythrozytenmorphologie, also MCV, MCH oder Blutausstrich, zur Erkennung des Eisenmangels, einer DNA-Synthesestörung (Vit. B12-, Folsäuremangel) oder Formveränderungen der Erythrozyten.
  • Retikulozytenzahl oder Retikulozytenindex (RI) als Maß der Regenerativität der Erythropoese. Anhand des RI werden die Anämien in normo-, hypo- und hyperregenerative Formen eingeteilt.
  • Retikulozyten-Indizes wie der Hb-Gehalt der Retikulozyten (CHr oder Ret-He) zur Beurteilung einer akut aufgetretenen Eisen-restriktiven Erythropoese.
  • Ferritin als Indikator des Speichereisens.
  • Zink Protoporphyrin zur Diagnose eines Eisenmangels der Erythropoese
  • Transferrinsättigung (TSAT) und der lösliche Transferrinrezeptor (sTfR) zur Beurteilung des verfügbaren Funktionseisens.
  • sTfR Konzentration in Bezug zum Wert des Hämatokrits zur Feststellung einer intrinsischen Hypoproliferation der Erythropoese. Siehe auch Beitrag 7.4 – Soluble Transferrinrezeptor).
  • Erythropoetin (EPO) Konzentration in Bezug zum Wert des Hämatokrits, zur Beurteilung einer adäquaten Stimulierung der Erythropoese. Siehe auch Abb. 15.10-1 – Erwarteter Erythropoetin-Konzentrationsbereich in Abhängigkeit vom Hämatokrit)
  • EPO im Serum und Beurteilung der Ratio observed/predicted (O/P), siehe auch Beitrag 7.4 – Löslicher Transferrinrezeptor. Eine O/P-Ratio unter 0,8 weist auf eine inadäquat niedrige EPO Stimulation hin und ein Wert über 1,2 auf eine hyperproliferative Erythropoese, bedingt durch verstärkte EPO Stimulation.
  • C-reaktives Protein zur Feststellung einer Infekt- und Entzündungsanämie.
  • Haptoglobin zur Diagnostik einer hämolytischen Anämie.

Die meisten Anämien beruhen auf einer Kompromittierung der Erythropoese, sind also die Folge von:

  • Chronischer Erkrankung, z.B. von systemischer Entzündung, Infektion, solidem malignen Tumor, Leukämie, Lymphom.
  • Organerkrankungen, z.B. von Niere, Leber, Schilddrüse oder Dünndarm.

Eine Untersuchung des Knochenmarks ist gewöhnlich nicht erforderlich:

  • Bei allen Anämien durch Kompromittierung der Erythropoese, ausgenommen Lymphom und Leukämie.
  • Bei allen mikrozytären Anämien, mit Ausnahme bei Verdacht auf sideroblastische Anämie.
15.3.5.6.4 Mechanismen der Anämiekompensation

Die Symptome der Anämie sind von Faktoren wie Schweregrad, Zeitraum des Auftretens, dem Alter und dem physiologischen Status des Patienten abhängig /12/. In Ruhe benötigt der Organismus 20–300 ml O2 pro Minute. Beim Gesunden überschreitet die gelieferte O2 Menge das 2–4 fache der Erfordernis. Bei einem Herzminutenvolumen von 5 Litern und einer Sauerstoffsättigung von 99 % beträgt die minütliche Anlieferung von O2 1032 ml. Ein isolierter Abfall des Hb auf 100 g/l resultiert nur noch in einer Anlieferung von 688 ml pro Minute und bei einem Hb-Abfall auf 50 g/L sind es noch 342 ml in der Minute /15/.

Der Organismus hat folgende Mechanismen der Anämie zu begegnen und die Sauerstoffversorgung zu gewährleisten /12/:

  • Erhöhung des Herzminutenvolumens, was sehr effektiv, aber metabolisch aufwändig ist
  • Erhöhung der Atemfrequenz
  • Änderung der Affinität des Häms zum O2. Die rote Blutzelle generiert verstärkt 2,3-Diphosphoglycerat (2,3-DPG), wodurch die Affinität des Häms zum O2 vermindert und vermehrt O2 an die Gewebe abgegeben wird. Die Verschiebung der Sauerstoff Dissoziationskurve nach rechts kann bis zur Hälfte das Anämie-bedingte O2 Defizit kompensieren.
  • Verminderung des pH im Kapillarblut und den Geweben, wodurch eine bessere Dissoziation des O2 vom Hb erfolgt und auch eine Vasodilatation.
  • Verstärkte Bildung von Erythropoetin und Anregung der Erythropoese. Siehe Tab. 15.10-1 – Referenzbereiche für Erythropoetin).
  • Bevorzugte Durchblutung sensitiver Organe auf Kosten von weniger vitalen Organen.

15.3.5.7 Erhöhung der Transportkapazität für Sauerstoff

Mit Zunahme einer volumämischen Anämie erhöht sich das Herzminutenvolumen, und das beruht vornehmlich auf der Zunahme des Schlagvolumens. Die Zunahme des Herzschlags kann variabel erhöht sein. Bis zu einem Hb-Wert von 75 g/l resultiert die hämodynamische Kompensation im Wesentlichen auf einer Zunahme des Herzminutenvolumens. Liegt ein noch stärkerer Hb-Abfall oder zusätzlich erschwerende Bedingungen vor, ist die Herzmuskulatur der begrenzende Faktor. In einer solchen Situation wird die utilisatorische Kompensation, also die Verschiebung der Oxyhämoglobinkurve, zum wichtigsten Kompensationsmechanismus.

Bei der utilisatorische Kompensation kommt es zur extremen Ausnutzung der Sauerstoffreserven. Sie erreicht in den meisten Organen mehr als 90 %, was einem Absinken der O2-Sättigung des Blutes von normal 150 ml/l auf 10 ml/l entspricht. Die utilisatorische Kompensation geschieht nicht beim akuten Blutverlust, sondern erst nach mehreren Tagen durch die vermehrte Bildung von 2,3-DPG und seine Wirkung am Hb (Abb. 15.3-2 – Struktur und Funktion von Hämoglobin). Auf Grund des vermehrten 2,3-DPG-Gehalts des Erythrozyten kommt es zu einer Abnahme der O2-Affinität zum Hb und konsekutiv zu einer Rechtsverlagerung der Hb-O2-Dissoziationskurve mit einer vermehrten O2-Dissoziation in die Gewebe (siehe Abb. 15.4-4 – Wirkung des 2,3-Diphosphoglycerats auf die O2-Sättigungskurve). Dadurch wird die Hälfte des durch eine moderate Anämie verursachten Sauerstoffdefizits kompensiert.

15.3.5.8 Sauerstoffbindung durch Hämoglobin

Der Sauerstofftransport von Hb ist von der Hb-Konzentration und der Hb-O2-Affinität abhängig. Letztere bestimmt das Ausmaß der O2-Beladung und der O2-Abgabe vom Hb-Molekül /16/. Die Abhängigkeit der Sauerstoffsättigung des Hb vom PO2 im Blut wird durch die Hb-Affinitätskurve beschrieben (Abb. 15.3-3 – O2-Affinitätskurve). Die Kurve ist charakterisiert durch P50, den Wert, bei dem Hb zu 50 % mit O2 gesättigt ist.

Die physiologische Bedeutung eine variablen Hb-O2-Affinität liegt in der adäquaten Anpassung der O2-Bindung damit sowohl die O2-Beladung in der Lunge, als auch die Freisetzung in den Geweben optimal aufeinander abgestimmt sind. Eine Verschiebung der Hb-O2-Bindungskurve nach links begünstigt die O2-Aufnahme, eine Verschiebung nach rechts bedeutet eine Verminderung der O2-Aufnahme und eine Begünstigung der O2-Abgabe in den Geweben.

Die Hb-O2-Bindungskurve wird verschoben /16/:

  • Nach Rechts durch Azidose, eine hohe erythozytäre 2,3- DPG Konzentration und eine erhöhte Körpertemperatur.
  • Nach links durch eine Alkalose, die Hypokapnie, ein vermindertes erythrozytäres 2,3-DPG und eine verminderte Körpertemperatur.

Effekt des pH-Wertes

Die Wirkung des pH auf die HbO2-Affinität beruht auf der Abhängigkeit des pH von Änderungen des pK-Werts ionisierbarer Aminosäurereste auf das Hb-Molekül. Azidose stabilisiert die Desoxyform des Hb-Moleküls und vermindert die HbO2-Affinität (Bohr-Effekt) /16/.

Wirkung des CO2

Eine wesentliche Wirkung von CO2 auf die HbO2-Affinität beruht dem pH-Wert der Zelle. Ein weitere Effekt ist, dass der Anstieg von CO2 bei konstantem pH die Hb-O2-Bindungskurve nach rechts verschiebt aufgrund einer reversiblen Bildung von Carbamat aus CO2 und den N-terminalen alpha- und beta-Ketten des Hb-Moleküls /16/.

15.3.5.8.1 Sauerstoffverfügbarkeit bei Anämie

Die Erythrozyten sind mit einem Gehalt an 2,3-Diphosphoglycerat (2,3-DPG) ausgestattet, der etwa 103 mal höher ist als der Gehalt anderer Zellen des Organismus /1679/. Das 2,3-DPG wird auf einem Seitenweg der Glykolyse in den roten Blutzelle gebildet. Alkalose stimuliert die Glykolyse und erhöht die Konzentration in den Erythrozyten, während Azidose den Gehalt reduziert. Das Enzym, das die 2,3-DPG-Synthese katalysiert, ist die 2,3-DPG-Mutase, während die 2,3-DPG-Phosphatase den Abbau katalysiert.

2,3-DPG bindet spezifisch an Desoxy-Hb und reduziert dort die fraktionelle Sauerstoffsättigung. Dadurch verschiebt sich die Sauerstoffbindungskurve nach rechts. Die Funktion von 2,3-DPG in der Bindung und Freisetzung von O2 am Hb-Molekül ist in Abb. 15.4-4 – Effekt von 2,3-Diphosphoglycerat (2,3 DPG) auf die O2-Sättigung aufgezeigt.

Alle Patienten mit Anämie haben einen erhöhten Gehalt an 2,3-DPG in den Erythrozyten, was die Anlieferung von O2 erhöht (PO2). Bei anämischen Patienten mit einem bestimmten Sauerstoffpartialdruck ist die O2-Sättigung vermindert. Bei einem venösen PO2 von 40 Torr beträgt die O2-Sättigung etwa 80 % und etwa 20 % des O2 im Blut liegen ungebunden vor. Demgegenüber ermöglicht bei Patienten mit einer Anämie, bei denen der Gehalt der Erythrozyten an 2,3-DPG erhöht ist, eine höhere Fraktion (etwa 30 %) von O2 ungebunden zu lassen.

Beispiel /79/: Bei einer Person mit einem Hb-Wert von 150 g/L beträgt die Sauerstoffkapazität von 100 ml Blut etwa 20 ml. Aber die Erythrozyten des Patienten haben einen höheren Gehalt an 2,3-DPG und eine niedrigere Affinität für O2. In diesem Fall werden etwa 3 ml O2 freigesetzt und das Defizit an Erythrozyten kompensiert.

Die Desoxygenierung erhöht die Syntheserate und vermehrt die 2,3-DPG Konzentration der roten Blutzelle. Im Generellen binden organische Phosphate bevorzugt an die Desoxyform des Hb mit einer Affinität, die 100 fach höher ist als zum Oxy-Hb. Die Bindung stabilisiert die Desoxyform des Hb. Zur Funktion von 2,3-DPG auf Bindung und Freisetzung von O2 vom Hb-Molekül ist siehe Abb. 15.4-4 – Effekt von 2,3-Diphosphoglycerat auf die O2-Sättigung.

15.3.5.8.2 Befunde bei hypoxämischer Anämie

Auf eine anämische Hypoxie weisen /16/: Tachykardie, Hypotonie, O2-Extraktion > 50 %, gemischt-venöse O2-Sättigung < 50 %, zentral-venöse O2-Sättigung < 60 %, gemischt-venöses PO2 < 32 mmHg und eine Lactatazidose (Azidose und Lactat > 2 mmol/l).

15.3.5.9 Polyzythämie und Polyglobulie

Bei Personen kaukasischer Abstammung ist es nicht sinnvoll den Verdacht auf eine Polyzythämie oder Polyglobulie aufrecht zu erhalten, wenn bei Frauen der Hb-Wert < 165 g/l bzw. der Hämatokrit < 0,50 und bei Männern der Hb-Wert < 180 g/l bzw. der Hämatokrit < 0,55 beträgt /1/. Siehe auch Beitrag. 15.4 – Hämatokrit.

15.3.6 Hinweise und Störungen

Antikoagulation

Für venöses Blut 1,5–2,2 mg EDTA (Dikalium- oder Dinatriumsalz) pro ml, die Endkonzentration an EDTA ist 3,7 bzw. 5,4 μmol/l /2/.

Bestimmungsmethode

Die Hämiglobincyanid Methode wird gestört, wenn die photometrische Messung mit Quarzkuvetten erfolgt. Blanking gegen das Reagenz beseitigt das Problem. Ein weiteres Problem sind Trübungen des Ansatzes. Ultrafiltration reduziert die Trübung, so dass die für die Referenzmethode geforderte Ratio der Absorption A540/504 ≥ 1,59 ist /17/.

Lipämie und Leukozyten

Trübes Blut führt zur Hb-Erhöhung um bis zu 30 g/l, durch Trübung der HiCN-Lösung /2/. Leukozyten-Werte > 100 × 109/l können den gleichen Effekt wie die Lipämie haben /2/.

Thrombozyten

Werte > 700 × 109/l bewirken eine Trübung der HiCN-Lösung und täuschen falsch-hohe Hb-Werte vor /2/.

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15.4 Hämatokrit (Hkt)

Lothar Thomas

Der Hkt beziehungsweise das Zellpackungsvolumen (Packed Cell Volume; PCV) ist das Maß des Verhältnisses des Volumens der roten Blutzellen zum Gesamtvolumen einer Probe venösen oder kapillären Blutes. Das Verhältnis wird nach entsprechender Zentrifugation gemessen und als Fraktion angegeben, also 0,42 anstatt 42 %. Der Hkt und die Erythrozytenzahl werden zur Berechnung des MCV eingesetzt und vermittels Hkt und dem MCH wird die MCHC berechnet /1/.

15.4.1 Indikation

  • Diagnostik von Anämie oder Polycythämie.
  • Abschätzung der Veränderungen bei Hämodilution und Hämokonzentration.
  • Bezugsgröße zur Beurteilung der Anämie adäquaten Erythropoetinbildung; siehe Beitrag 15.10 – Erythropoetin.
  • Determinante eines erhöhten Thomboserisikos bei Erythrozytose

15.4.2 Bestimmungsmethode

Mikrohämatokrit-Methode

Empfohlen werden wegwerfbare Borsilatglaskapillaren Typ I, Klasse B oder Natronkalk-Kapillaren, Typ II von 75 mm Länge und einem Innendurchmesser von 1,15 mm. Die Wanddicke soll 0,20 mm betragen. Folgende Anforderungen sind an die Zentrifugation gestellt /1/:

  • Mikrohämatokrit Zentrifuge mit einem Rotorradius über 8 cm.
  • Maximale Geschwindigkeit soll innerhalb 30 sec erreicht werden.
  • Relative Zentrifugalkraft (10.000–15.000) × g an der Peripherie für 5 min, ohne dass die Temperatur von 45 °C überschritten wird.

Berechnung der relativen Zentrifugalkraft: Siehe Tab. 15.4-1 – Formeln zur Bestimmung und Berechnung des Hämatokrits.

Berechnung des Hkt mit der Mikromethode: Siehe Tab. 15.4-1.

Hämatologie Analyzer

Prinzip: Siehe auch Beitrag 15.2.1.2 – Bestimmungsmethode. Im einfachsten Falle erfolgt, wie in der Gleichung dargestellt, die Kalkulation des Hkt aus RBC × MCV. Der RBC (Red Blood Count) ist die Zahl der roten Blutzellen. Einige Hämatologie Analyzer bestimmen die Summe der elektronischen Impulse und dividieren sie durch die Anzahl der Impulse. Die Berechnung erfolgt nach folgender Gleichung in Tab. 15.4-2 – Referenzbereiche des Hämatokrits.

Die Ergebnisse der HämatologieAnalyzer werden auf die Mikrohämatokrit Methode abgestimmt.

15.4.3 Untersuchungsmaterial

  • Vollblut (Dinatrium-EDTA, Trikalium-EDTA oder Heparin als Antikoagulanz): 1 ml
  • Kapillarblut (heparinisierte Kapillare): 0,05 ml

15.4.4 Referenzbereich

Siehe Lit. /1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8/ und Tab. 15.4-2 – Referenzbereiche des Hämatokrits.

15.4.5 Bewertung

Der Hkt ist eine einfache Methode zur Erkennung von Anämie, Erythrozytose und Polyzythämie. Er ist zusätzlich nützlich zur Erkennung von Änderungen bei Hämodilution und Hämokonzentration. Der Hkt ist abhängig von:

  • Der Erythrozytenmasse des Organismus. Diese beträgt bei Frauen 17–32 ml/kg Körpergewicht und bei Männern 20–36 ml/kg Körpergewicht /9/.
  • Dem mittleren Zellvolumen der Erythrozyten.
  • Dem Plasmavolumen, dessen Referenzbereich 30– 45 ml/kg Körpergewicht beträgt.

15.4.5.1 Verminderung des Hkt

Neben dem Hb-Wert ist die Verminderung des Hkt ein Kriterium zur Diagnostik der Anämie. Ausgenommen sind Patienten:

  • Mit Hyperhydratation, z.B. postoperativ mit geringem Blutverlust aber überkompensierter Volumensubstitution. Es liegt dann bei noch normaler Erythrozytenmasse eine Vergrößerung des Plasmavolumens vor, man spricht dann von Pseudoanämie.
  • Mit akuter Blutung, bei denen der Erythrozytenverlust noch nicht durch eine Zunahme des Plasmavolumens ausgeglichen ist, pathophysiologisch schon eine Anämie vorliegt, aber noch nicht durch eine Abnahme und Hb und Hkt angezeigt wird.

Bei gesunden normovolumämischen Erwachsenen kann der Hkt auf 0,15–0,20 abfallen bevor es zu einer akuten Mangelversorgung des Herzens, angezeigt durch einen Anstieg der kardialen Lactatbildung, kommt. Erst bei einem Abfall auf 0,18, entsprechend einem Hb-Wert von etwa 60 g/l, treten stärkere Störungen der kardialen Funktion bei gesunden Personen auf. Auch beim Fetus und Neugeborenen muss der Grad der Anämie sehr schwer sein, bevor es zu kardialen Funktionsstörungen kommt /10/.

Eine erhöhte Inzidenz postoperativer kardialer Komplikationen wird bei Patienten mit peripheren vaskulären Erkrankungen gefunden, wenn der Hkt unter 0,29 beträgt /11/. Bei Hämodialysepatienten sind kardiale Erkrankungen die häufigste Todesursache. Eine Erhöhung des Hkt von unter 0,30 in den Bereich von 0,30–0,38 vermindert die Herzinfarktinzidenz um 30 % im Zeitraum von 30 Monaten /12/.

Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz und einem Hkt ≤ 0,24 haben ein 51 % höheres Risiko der Mortalität und 17 % höheres Risiko der Wiedereinweisung in die Klinik, als diejenigen mit einem Hkt von 0,40–0,44. Obwohl die Anämie ein unabhängiger Risikofaktor ist, spielen die Komorbiditäten der Patienten ebenfalls eine wichtige Rolle /13/.

Der Hkt ist bedeutsam in der primären Hämostase. Eine Verminderung führt zur Reduktion der Blutviskosität und Plättchenadhäsion und bei einem Hkt von unter 0,30 kann die Blutungszeit verlängert sein /14/. Es wird deshalb angenommen, dass höhere Hkt-Werte bei Dialysepatienten eher zu einer Aktivierung des Hämostasesystems führen. Unter veno-venöser Hämofiltration bei Patienten mit akuter Niereninsuffizienz führt ein Hkt über 0,30 nicht häufiger zu einer Aktivierung des Hämostasesystems als ein Wert darunter /15/.

Erkrankungen und Zustände mit Hkt-Verminderung zeigt Tab. 15.4-3 – Erkrankungen und Zustände mit einem verminderten Hkt.

Bei Patienten mit akutem Blutverlust hängt die Anzahl der erforderlichen Blutkonserven von der Differenz des gewünschten zum aktuellen Hkt ab. Eine Kalkulation zeigt die Tab. 15.4-4 – Kalkulation der erforderlichen Blutkonserven in Abhängigkeit vom aktuellen Hkt.

15.4.5.2 Erhöhung des Hkt

Erhöhungen des Hkt bei Frauen über 0,48 und bei Männern über 0,51 beruhen auf:

  • Einer absoluten Vermehrung roter Blutzellen, vorkommend bei Erythrozytose und Polyzythämie.
  • Einer Verminderung des Plasmavolumens, z.B. bedingt durch Exsikkose.

Klinisch besteht ein Assoziation zwischen hochnormalem bzw. erhöhtem Hkt, einer erhöhten Blutviskosität und Gefäß- und Stoffwechselerkrankungen und Thrombosen. So haben:

  • Nach der Framingham-Studie Kaukasier mit einem Hkt über 0,50 ein 2–6-fach höheres relatives Schlaganfallrisiko über den Untersuchungszeitraum von 87 Monaten als Personen mit niedrigeren Werten /16/.
  • Im Puerto Heart Program Personen der urbanen Bevölkerung mit einem Hkt über 0,49 ein doppelt so hohes Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung innerhalb von 8 Jahren als Personen mit einem Hkt unter 0,42 /17/.
  • Nach einer Studie in Großbritannien ansteigende Hkt-Werte eine Assoziation zur Entwicklung eines Diabetes Typ 2 /18/. Das Risiko nimmt mit dem Anstieg des Hkt signifikant zu. So haben Personen mit einem Hkt über 0,48 ein 4 fach höheres relatives Risiko als diejenigen mit einem Hkt unter 0,42.

15.4.5.3 Erythrozytose

Die Erythrozytose ist als eine absolute Vermehrung der Erythrozytenmasse definiert und kann, muss aber nicht mit einer Erhöhung des Hkt einhergehen (Abb. 15.4-1 – Einteilung der Erythrozytosen). Ein Anstieg des Hkt oder des Hb-Werts weisen auf eine Erythrozytose hin. Ein Hkt über 0,51 bei Männern und über 0,48 bei Frauen wird als oberhalb des Referenzbereichs angesehen. Die initiale Klassifizierung der Erythrozytose beruht darauf, ob ein primärer Prozess (auch bekannt als familiäre oder kongenitale Polyzythämie) vorliegt oder, ob die vermehrte Bildung von Erythrozyten sekundärer Natur ist. Dabei wird die Erythrozytenproduktion von anderen Vorgängen angetrieben /19/.Einige Kliniker wenden die Ausdrücke Polyzythämie und Erythrozytose synomym an. Das ist aber nicht richtig, denn die Polyzythämie bezieht sich auf eine erhöhte Anzahl von hämatologischen Zellen im Blut, also Erythrozyten, Granulozyten oder Thrombozyten. Kompliziert ist die Angelegenheit bei der Polycythämia vera, ein Typ der chronisch myeloischen Leukämie, der aber nur die rote Zellreihe betrifft.

15.4.5.3.1 Primäre Erythrozytose

Die primäre Erythrozytose, auch als primäre familiäre oder kongenitale Polyzythämie (PFCP) bezeichnet, ist eine Pathologie der erythroiden Vorläuferzellen, die hypersensitiv für Erythropoetin sind /19, 20/. Die PFCP ist charakterisiert durch die isolierte Erhöhung der erythrozytären Zellmasse bei einer subnormalen Konzentration von Erythropoietin im Serum. Siehe auch Tab. 15.4-5 – Erkrankungen und Zustände mit Erhöhung des Hämatokrits.

Kongenital bedingte Störungen, die EPO-Bildung betreffend, können sein:

  • Defekte des EPO-Signalweges (EPO-Rezeptormutationen).
  • Hoch Sauerstoff affine Hämoglobine.
  • Mangel der Bisphosphorglycerat-Mutase
  • Mutation von Genen des Sauerstoff messenden Systems.
15.4.5.3.2 Sekundäre Erythrozytose /19, 20/

Sekundäre Erythrozytosen resultieren aus Ursachen, die nicht intrinsischer Natur (Knochenmark-bedingt) sind, sondern auf einer reaktiv vermehrten Produktion von EPO beruhen. Die Antwort der erythroiden Vorläuferzellen auf EPO ist in der Regel normal. Die erhöhte EPO-Produktion kann z.B. eine physiologische Antwort auf eine Gewebshypoxie sein. Siehe auch Tab. 15.4-5 – Erkrankungen und Zustände mit Erhöhung des Hämatokrits.

Ätiologisch gibt es eine Vielzahl von Ursachen:

  • Durch eine zentrale Hypoxie bedingt; eine verminderte Sauerstoffversorgung führt zur erhöhten Produktion von Erythropoetin und Erythrozytose.
  • Lokal bedingt, durch eine renale Hypoxie.
  • Eine pathologische Erythropoetin Produktion, z.B. bei Meningeom, zerebellarem Hämangioblastom, Hepatom, Adenom der Nebenschilddrüse.
  • Exogene Verabreichung von Erythropoetin stimulierenden Agentien ESA (EPO-Doping).

15.4.5.4 Verminderung des Plasmavolumens

Die Verminderung des Plasmavolumens bei normaler Erythrozytenmasse verursacht eine relative Erythrozytose. Die Verminderung des Plasmavolumens beruht auf Störungen des Elektrolyt- und Wasserhaushaltes. Diese können bedingt sein durch /27/:

  • Ungenügende Flüssigkeitszufuhr, z.B. Kleinkinder, alte Menschen, Schwerkranke.
  • Insensiblen Wasserverlust, z.B. Schwitzen.
  • Durchfälle und Erbrechen.
  • Polyurie, z.B. durch Störungen des ADH-Durstmechanismus, Diuretikaabusus, Diabetes mellitus.
  • Einnahme von Medikamenten zur Verbesserung der kardialen Funktion.
  • Rauchen. Raucher können eine relative, absolute oder kombinierte Polyzythämie haben.
  • Abusus von Alkohol, Tee, Koffein- und Cola haltigen Getränken.

15.4.6 Hinweise und Störungen

Blutentnahme

Zu langes Stauen (über 2 min) verursacht eine deutliche Zunahme des Hkt. Die größte prozentuale Abweichung nach 6 min Stauung ist 8,5 % /22/.

Antikoagulanz

Werden höhere EDTA Konzentrationen als die empfohlenen (siehe Beitrag 15.3 – Hämoglobin-Konzentration) verwendet, nimmt der MCV ab und es resultiert ein falsch-niedriger Hkt /2/.

Probe

Arterielles Blut hat einen um etwa 0,02 (5 %)höheren Hkt als venöses /2/.

Bestimmungsmethode

Die Mikrohämatokritmethode wird zwar nur selten durchgeführt, ist aber Referenzmethode. Auf Grund von eingeschlossenem Plasma sind die Werte dieser Methode um etwa 2 % höher als bestimmt mit den Hämatologie-Analyzern. Die Unterschiede sind noch höher bei abnormen Erythrozyten, z.B. Sichelzellen, Thalassämie, Eisenmangel, Sphärozyten, Makrozyten /2/.

Bei der Hkt Bestimmung mit Hämatologie Analyzern werden falsch hohe Werte bei hohen Retikulozyten- und Leukozytenzahlen berechnet, da deren höhere Zellvolumina in den Hkt eingerechnet werden. Falsch niedrige Werte werden bestimmt bei in vitro-Hämolyse, Autoagglutination und Mikrozytose.

Kompakt Analyzer, die für die bed-side-Messung des Hkt eingesetzt werden, messen den Hkt über die Leitfähigkeit des Blutes. Bei Patienten mit erhöhter Plasmaosmolalität wird der Hkt zu niedrig bestimmt /23/.

Stabilität

Bis zu 24 h bei Raumtemperatur oder 4 °C, wenn mit mechanisierten Blutzellzählgeräten bestimmt wird. Zentrifugation innerhalb von 6 h bei der Mikrohämatokrit-Methode /2/.

Leukämie

Der weiße Leukozytenpellet muss bei Auswertung der Mikrohämatokritmethode unberücksichtigt bleiben /1/.

Intraindividuelle Variation

Der VK beträgt innerhalb eines Tages 4,6 %, von Tag zu Tag 4,1 % und von Monat zu Monat 3,4 % /24/.

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15.5 Dyshämoglobine

Lothar Thomas

Erhöhte Konzentrationen der Dyshämoglobine

  • Methämoglobin (Hämiglobin),
  • Carboxyhämoglobin und
  • Sulphhämoglobin

schränken die Transportkapazität des arteriellen Blutes für Sauerstoff ein. Diese Hämoglobin (Hb)-Fraktionen werden nicht bei Messung der Sauerstoffsättigung des Blutes mit Blutgasanalysatoren erfasst. Dadurch kann es zu erheblichen Fehlinterpretationen der funktionellen Sauerstoffversorgung der Gewebe kommen /1/.

15.5.1 Methämoglobin (metHb), Hämiglobin (Hi)

MetHb ist eine oxidierte Hb-Form. Viele Medikamente und oxidierende Chemikalien können eine Methämoglobinämie und auch eine Hämolyse bewirken.

15.5.1.1 Indikation

Zyanose und Verdacht auf:

  • Toxische Methämoglobinurie.
  • Hereditäre Methämoglobinämie.
  • Verminderung der arteriellen Sauerstoffsättigung, die aus klinischer Sicht primär nicht erklärbar ist.

15.5.1.2 Bestimmungsmethode

Prinzip: Hi hat in schwach saurer Lösung ein ausgeprägtes Absorptionsmaximum bei 630 nm. Zur Erhöhung der Spezifität wird eine Differenzmessung nach Zusatz von KCN durchgeführt. Der Zusatz von Cyanid bewirkt die Entstehung von Hämiglobincyanid, das bei 630 nm keine Absorption hat. Eine Bestimmung von Methämoglobin durch simultane Mehrwellenlängen Messungen ist beschrieben /2/.

15.5.1.3 Untersuchungsmaterial

Kaliumoxalat-Blut, EDTA-Blut, Heparin-Blut: 1 ml

Für die Bestimmung wird Hämolysat eingesetzt (1 Teil Vollblut und 5 Teile A. bidest).

15.5.1.4 Referenzbereich

Hi 0,2–1,0 % /3/

15.5.1.5 Bewertung

Das Fe2+ von Häm im Hb Molekül wird in vivo laufend zu Fe3+ oxidiert und es entsteht metHb. Dessen Reduktion zu Hb erfolgt durch die NADH abhängige Methämoglobinreduktase. Im kleinen Rahmen ist auch eine nicht enzymatische Reduktion von metHb durch Ascorbinsäure und reduziertes Glutathion möglich. Eine Methämoglobinämie vermindert die Bindungskapazität für Sauerstoff, da Fe3+ den Sauerstoff nicht mehr reversibel binden kann.

Von einer Methämoglobinämie wird gesprochen, wenn mehr als 1 % des Hämoglobineisens in oxidierter Form (Fe3+ ) vorliegt.

An eine Methämoglobinämie ist zu denken, wenn die arterielle Sauerstoffsättigung eines Patienten, gemessen mit der Pulsoximetrie nur etwa 85 % beträgt.

15.5.1.5.1 Hereditäre Methämoglobinämie

Es handelt sich um ein autosomal rezessiv vererbtes Leiden, bei dem ein Mangel der NADH abhängigen Met-Hb-Reduktase vorliegt, die Aktivität ist unter 20 %. Der metHb-Anteil im Blut beträgt 8–40 %, es kann eine schokoladenbraune Farbe annehmen. Der heterozygote Met-Hb-Reduktase Mangel geht nicht mit einer Methämoglobinämie einher /4/.

Neugeborene haben nur eine geringe Aktivität der NADH abhängigen Met-Hb Reduktase und sind deshalb anfällig für eine Methämoglobinämie. So kann die Gabe von Pharmaka oder von Nitrat haltigem Wasser, das im Gastrointestinaltrakt in Nitrit umgewandelt wird, eine Methämoglobinämie verursachen. Die klinischen Zeichen einer angeborenen Methämoglobinämie sind Zyanose und neurologische Störungen.

15.5.1.5.2 Toxische Methämoglobinämie

Bei der toxischen Methämoglobinämie ist die Aktivität der NADH abhängigen Met-Hb-Reduktase normal. Die Methämoglobinämie tritt auf /3, 5/:

  • Bei Personen, die einen direkten Kontakt mit Oxidantien haben, z.B. Arbeiter in der chemischen Industrie und Schweißer.
  • Bedingt durch Pharmaka, die Hb direkt in Hi umwandeln oder indirekt eine Umwandlung durch die Bildung von Sauerstoffradikalen in der Zirkulation fördern. Substanzen, die eine Methämoglobinämie verursachen können, sind aufgeführt in Tab. 15.5-1 – Substanzen, die eine Methemoglobinämia induzieren können. Die klinischen Symptome sind abhängig vom Anteil des metHb am Hb (Tab. 15.5-2 – Korrelation klinischer Symptome mit dem metHb Anteil). Die Behandlung umfasst die Gabe von Sauerstoff und die Infusion von Methylenblau zur Reduktion des Fe3+ zu Fe2+. Es werden in einer 10-minütigen Infusion 1 mg Methylenblau/kg Körpergewicht gegeben.

15.5.1.6 Hinweise und Störungen

Stabilität

MetHb ist instabil in intakten Erythrozyten und kann enzymatisch zu Hb transformiert und in HbO2 umgewandelt werden. Das ist der Fall, wenn das Blut länger als 2 h mit Dikalium-EDTA, Lithium-Heparin oder Kaliumoxalat als Antikoagulanz vor der Messung steht. Fluorid sollte nicht eingesetzt werden, da seine Interaktion mit metHb zu falsch-niedrigen Werten für Gesamt-Hb und metHb führt /1/. Wird die Blutprobe mit 5 Teilen A. bidest verdünnt und die Erythrozyten hämolysiert, ist eine Stabilität von mindestens 45 h gewährleistet.

Störfaktoren

Hypertriglyceridämie und Hyperbilirubinämie stören die metHb-Bestimmung. Bei der Mehrwellenlängenmessung stören Triglyceride erst ab 1.000 mg/dl (11,4 mmol/l) und Bilirubin ab 10 mg/dl (171 μmol/l) /6/.

15.5.2 Carboxyhämoglobin (COHb)

Kohlenmonoxid ist ein farb-, geruch- und geschmackloses, nicht reizendes Gas, das bei unvollständiger Verbrennung von Kohlenstoff haltigen Materialien anfällt. Häufige Ursachen sind die Inhalation des Rauchgases von Feuer, Automobilabgasen, schlecht ventilierte Verbrennung in Kohle-, Gas- oder Ölöfen, Zigarettenrauch und Methylenchlorid /5/. Silent Killer ist der häufigste Spitzname für CO.

15.5.2.1 Indikation

Unspezifische Symptome wie Grippe-ähnliche Symptomatik, Kopfschmerz, Synkope, erstmalig auftretende Krämpfe und Anamnese der Kohlenmonoxid-Exposition.

15.5.2.2 Bestimmungsmethode

Methoden zur Bestimung von C0 /9/

  • CO Monitor: Es wird das Volumen von CO in der Ausatmungsluft gemessen kurz vor dem Schluss der Ausatmung und der Anteil gemessen als Millionstel (ppm). Es erfolgt danach eine Berechnung auf den Hämoglobin(Hb)-Wert.
  • COHb-Bestimmung: COHb wird spektrophotometrisch bei unterschiedlichen Wellenlängen bestimmt. Unterschiedliche Korrekturfaktoren werden angewendet um Störungen zu eliminieren wie z.B. Bilirubin oder Triglyzeride. Es erfolgt die Messung bei drei Wellenlängen, z.B. 415 nm, 380 nm und 450 nm /17/ oder 575 nm, 562 nm und 598 nm.
  • Totales CO (TBCO) im Blut: Die Messung von TBCOHb ermöglicht das gesamte CO zum Zeitpunkt der Probennahme zu bestimmen. Die Probe enthält CO das an Hb gebunden ist und freies im Blut gelöstes CO. Ein Nachteil von TBCO ist, dass die Bestimmung nur mittels GC-MS/MS durchführbar ist.
  • HPLC kombiniert mit der Absorptionsspektrometrie: Es ist möglich alles CO in der Probe zu bestimmen. Das Verfahren wird in zwei Schritten durchgeführt. Zuerst werden COHb und freies CO von einander getrennt durch HPLC, das freie CO wird mit Essigsäure, H202 und Tetramethylbenzidin versetzt. Es resultiert eine blaue Farbe, deren Intensität photometrisch gemessen wird.

15.5.2.3 Untersuchungsmaterial

Vollblut (EDTA, Oxalat, Heparin): 5 ml

Das Probengefäß ist so zu füllen, dass eine möglichst kleine Luftsäule über dem Blut steht.

15.5.2.4 Referenzbereich

CO Hb /8/

Nichtraucher

≤ 3,0 %

Raucher

≤ 10,0 %

15.5.2.5 Bewertung

Der CO-Gehalt in der freien Natur ist unter 0,001 % (10 ppm), ist aber in urbanen Regionen höher. Die vom Körper absobierte CO-Menge ist vom Atemminutenvolumen, der Dauer der CO-Exposition und der CO-Konzentration der Umgebung abhängig. Beim Kochen mit Gas erreicht die Raumkonzentration einen Wert von 100 ppm, ein Zigarettenraucher setzt sich 400–500 ppm aus und der Auspuffdampf eines Benzinmotors kann 10.000 ppm CO enthalten. Bei Exposition von 70 ppm über 4 h wird ein COHb Gehalt von 10 % erreicht und bei 350 ppm von 40 % /9/. Die CO-Konzentration am Arbeitsplatz soll in den USA bei einem 8-stündigem Arbeitstag 50 ppm nicht überschreiten /9/.

Die häufigsten Quellen der CO-Vergiftungen sind die Abgase von Verbrennungsmotoren sowie falsch oder defekt installierte Heiz- und Kochgeräte auf Verbrennungsbasis. Unfälle mit Gasbadeöfen, Heizungen im Winterbetrieb von Campingwagen und Standheizungen bei PKW und LKW haben deshalb eine hohe Inzidenz. Der MAK-Wert (maximale Arbeitsplatz-Konzentration) ist in Deutschland auf 30 ppm (33 mg/m3) festgesetzt /8/.

Die pathologische Wirkung von CO beruht auf einer Veminderung der O2-Transportkapazität des Blutes, der Reduzierung der O2-Extraktion in den Geweben und einer direkt toxischen Wirkung von CO auf die Zelle. Bei niedrigen Werten wirkt CO als Neurotransmitter (siehe Beitrag 19.2 – Oxidativer Stress) und moduliert Inflammation, Zellproliferation und Apoptose /10/. Die CO-Affinität für Hb ist 240 fach höher als für O2 und die Oxyhämoglobin Dissoziationskurve ist links verschoben (siehe Abb. 15.4-4 – Wirkung des 2,3-Diphosphoglycerats auf die O2-Sättigungskurve). CO wird vorwiegend in den Lungen gebunden und verursacht eine Blockade der O2-Diffusion in Lunge und Muskulatur, denn CO dissoziiert weniger rasch vom Hb als O2. Der Nachweis von COHb weist immer auf eine verminderte O2 Verfügbarkeit der Gewebe hin, die nicht durch die Bestimmung des Hb-Werts erkannt wird und klinisch weitaus bedeutsamer ist als ein entsprechender anteiliger Hb-Abfall /10/.

Die klinische Symptomatik in Abhängigkeit von der COHb-Konzentration ist aufgeführt in Tab. 15.5-3 – COHb-Konzentration und klinische Symptomatik.

15.5.2.5.1 COHb bei Gesunden

Die COHb Werte von Nichtrauchern betragen 1–3 %. und resultieren aus endogener Produktion und aus der Umgebung. Erhöhungen dieses Untergrunds bei Nichtrauchern bis auf etwa 3 % sind vorwiegend durch Passivrauchen, weniger durch Umweltverschmutzung bedingt. Tabakrauch hat einen CO-Gehalt von 4 % und die meisten Raucher haben in Abhängigkeit von der Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten ein COHb Gehalt im Blut von 3–8 %. Bestimmte Berufsgruppen, z.B. nicht-rauchende Feuerwehrleute, haben um 1–2 % höhere COHb-Werte als Nichtraucher. Die Halbwertszeit der Elimination des COHb beträgt etwa 4 h bei Atmung in Raumluft und 1 h bei Atmung von 100 % O2 /9/.

15.5.2.5.2 Konstant leichte CO-Erhöhungen

Hat die Atemluft einen konstanten CO-Anteil von 25 ppm, kommt es zu einem COHb-Gehalt im Blut von 3,5 % und bei 50 ppm zu 6–8 % /9/. Schon kurzfristige, geringe CO-Anteile in der Atemluft, die zu COHb Werten von 2–6 % führen, können bei Patienten mit Atherosklerose unter Belastung pectanginöse Beschwerden und Arrhythmien auslösen /11/.

15.5.2.5.3 Schwangerschaft und Rauchen

CO passiert die Plazenta komplett und kleine Mengen COHb im mütterlichen Blut haben eine erhebliche Auswirkung auf den Fetus. Das fetale Hb hat eine hohe O2-Affinität (P50, 19,4 mmHg) im Vergleich zum Hb des Erwachsenen (P50, 26,3 mm Hg auf Meereshöhe), wodurch die O2-Aufnahme aus dem mütterlichen hypoxischen Uterusblut begünstigt wird. Im steilen Teil der HbO2-Dissoziationskurve beträgt die fetale O2-Sättigung nur 75–80 %. Daher ist der Fetus schon für kleine Schwankungen in der O2-Sättigung anfällig /10/. Raucht z.B. eine Schwangere täglich ein Päckchen Zigaretten, kann der COHb-Anteil 6 % und mehr betragen. Dadurch wird der mütterliche P50 von 26 auf 23 mmHg gesenkt und der O2-Partialdruck im Uterusblut von 38 auf 32 mmHg, was zu einer Verminderung des Diffusionsgradienten in Richtung Plazenta führt. Als Folge vermindert sich im Nabelschurblut der O2-Partialdruck von 28 auf 22 mmHg, die fetale arterielle O2-Sättigung nimmt von 75 % auf 58 % ab und der Fetus kommt in eine O2-Mangelversorgung /12/.

15.5.2.5.4 Vergiftung mit CO

Die klinischen Symptome einer akuten Vergiftung mit CO sind Kopfschmerz, Übelkeit, Konfusion, Stupor und Koma. Bei leichten Vergiftungen mit COHb Werten bis 25 % vermitteln die Patienten den Eindruck eines grippalen Infektes /9/.

Kopfschmerz, Übelkeit und Müdigkeit sind auch die Beschwerden bei chronischer Vergiftung. Jedoch besteht weiterhin noch eine erhebliche Beeinträchtigung des intellektuellen Verhaltens mit Konzentrationsschwäche und kognitiven Störungen. Mehr als 40 % der Patienten mit chronischer CO-Exposition haben auch noch 3 Jahre nach deren Beendigung neurologische Probleme. Oft wird an eine CO-bedingte Symptomatik nicht gedacht und entsprechende Untersuchungen unterbleiben.

Der klinische Schweregrad der CO-Vergiftung korreliert oft schlecht mit dem COHb Anteil im Blut und wird eher von der Dauer der CO-Vergiftung bestimmt. So kann ein Patient, der kurzfristig einer hohen CO-Konzentration ausgesetzt ist, keine klinische Symptomatik haben, während ein Patient der längerfristig der gleichen Menge ausgesetzt ist eine schwere Symptomatik aufweisen kann /9/.

Fünf Schweregrade der CO-Vergiftung sind klassifiziert, wobei ein COHb-Anteil über 50 % als potentiell tödlich erachtet wird (Tab. 15.5-3 – COHb Konzentration und klinische Symptomatik). Das oft kirschrote Aussehen von Blut und Gewebe ist ein unzuverlässiges Zeichen und wird nur bei schwersten CO-Vergiftungen gefunden.

In der forensischen Medizin weist ein COHb-Gehalt von über 50 % auf eine CO-Vergiftung als primäre Todesursache hin. Werte von 10–50 % zeigen an, dass Rauch inhaliert wurde und CO ein Faktor der Todesursache sein könnte, dass aber das Opfer noch lebte, als der Brand begann.

Pathophysiologisch wird die schlechte Korrelation zwischen CO-Vergiftung und den klinischen Effekten erklärt durch die Kombination von

  • Hypoxie durch die Bildung von COHb und
  • eine direkte toxische Wirkung von CO auf zellulärer Ebene.

Die Effekte von CO sind nicht nur auf den Zeitraum kurz nach der Exposition beschränkt, sondern nach einer scheinbaren Besserung kommt es innerhalb einer Latenz von 2–40 Tagen zu neurologischen Symptomen mit Gedächtnisverlust, Konfusion, Ataxie, Krämpfen Urin- und Stuhlinkontinenz, Desorientierung und psychiatrischen Symptomen /9/.

15.5.2.5.5 Erhöhter endogener CO-Anfall

Endogenes CO fällt bei dem Abbau von Hb, Myoglobin sowie Enzymen mit Hämstruktur, z.B. Peroxidase, Katalase oder Cytochrom c, an. Die endogene CO-Bildung ist verantwortlich für die physiologische COHb Konzentration im Blut. Erhöhte endogen bedingtes COHb tritt bei Zuständen mit starker Hämolyse oder Myolyse auf. Auch bei Patienten mit COPD sind im Stadium IV die COHb Werte höher als im Stadium II und III /13/. Beim Ikterus des Neugeborenen werden Werte bis zu 12 % COHb gemessen.

Bei der Sichelzellanämie bewirkt endogenes CO eine Verschlechterung der Situation:

15.5.2.6 Hinweise und Störungen

Probe

Die Blutentnahme sollte mit einem luftdicht verschraubbaren Röhrchen erfolgen. Zur Lagerung im Labor soll über dem antikoagulierten Blut ein möglichst geringer freier Luftraum sein /15/.

Bestimmungsmethode /9/

  • COHb-Bestimmung: Obwohl COHb ein direkter Biomarker des Ausgesetztseins mit CO ist, kann der COHb-Wert niedrig sein bei Personen, bei denen der Verdacht auf eine CO Vergiftung besteht oder bei Patienten bei denen ein höherer Wert erwartet wird.
  • CO-Monitor: CO wird in der Ausatmungsluft bestimmt, und zwar kurz vor dem Ende des Ausatmens. Gemessen wird das Volumen von CO.
  • Totales CO (TBCO) im Blut: Ein CO-Anstieg kann neben einer CO-Vergiftung auch durch folgende Effekte bedingt sein: erhöhten oxidativen Stress, veminderte Funktion der Mitochondrien, Enzündungsreaktion im Gehirn.
  • Die Kohlenstoffmonoxid-Pulsoximetrie sollte nicht als Screeningmethode auf eine CO-Kontamination eingesetzt werden, da die Nachweisempfindlichkeit zu gering ist. Die Pulsoximetrie spielt eine Rolle außerhalb der Klinik, wenn es darum geht, rasch eine CO-Vergiftung festzustellen /27/.

Störfaktoren

Hypertriglyceridämie führt bei der spektrophotometrischen Bestimmung zu falsch hohen Werten, da eine konstante Absorption hinzu addiert wird. Auch täuscht die Methämoglobinämie zu hohe Werte von COHb mit dieser Methode vor /615/.

Stabilität

Die Aufbewahrung von Vollblut soll im Kühlschrank oder tiefgefroren erfolgen, eine stärkere Lichtexposition der Probe unterbleiben. Der Gehalt des CO der Probe kann Wochen bis Jahre bei 3 °C oder tiefgefroren konstant bleiben /15/.

15.5.3 Freies Hämoglobin

Zell-freies Hämoglobin (freies Häm, Plasmaprotein-gebundenes Häm und freies Hämoglobin) im Plasma können eine Gewebeschädigung bei hämolytischen Erkrankungen auslösen. Zell-freies Hämoglobin ist ein potentieller Fänger von Stickstoffmonoxid (NO), aktiviert Entzündungen und bewirkt Redoxreaktionen, die zu einem oxidativen Stress führen können. Neben dem oxidativen Stress wird auch TLR4 aktiviert und das in Gang gesetzte Inflammationsgeschehen führt zu einer ausgedehnten Gewebeschädigung. Beim TLR4 handelt es sich um ein Membranprotein. Es gehört zur Familie der Toll-like Rezeptoren und ist ein Bestandteil der Pattern recognition Familie. Zur quantitativen Bestimmung von Zell-freiem Hämoglobin muss dieses vom Total-Hämoglobin des Blutes getrennt werden.

15.5.3.1 Indikation

Hämolytische Erkrankungen

  • Extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO)
  • Kardiopulmonaler Bypass
  • Dialyse
  • Sichelzell-Erkrankung.

15.5.3.2 Bestimmungsmethode

Spektralphotometrische Methoden

Prinzip: Messung des Hb bei verschiedenen Wellenlängen und Einsatz unterschiedlicher Korrekturverfahren zur Elimination von Störfaktoren, z.B. von erhöhtem Bilirubin oder erhöhten Triglyceriden. Durchgeführt wird eine dreifach Wellenlängen Messung, z.B. bei 415 nm, 380 nm, 450 nm /16/ oder bei 578 nm, 562 nm und 598 nm /17/.

Immunnephelometrie

Verwendet wird polyklonales Antiserum vom Kaninchen, gerichtet gegen humanes Hämoglobin A. Es besteht keine Kreuzreaktivität mit Myoglobin /18/.

HPLC kombiniert mit Absorptions-Spektrophotometrie

Prinzip: Die Methode arbeitet in zwei Schritten. Zuerst wird Protein gebundenes und freies Hb mittels HPLC getrennt. Die Fraktion des freien Hb wird mit Essigsäure, H2O2 und Tetramethylbenzidin versetzt. Es bildet sich ein blauer Farbstoff, der mittels Absorptions-Spektrophotometrie bei 600 nm gemessen wird.

Betrachtung des Plasmas

Sichtbar wird die intravasale Hämolyse ab einer Konzentration des freien Hb von etwa 300 mg/l /19/.

15.5.3.3 Untersuchungsmaterial

Heparinplasma, Citratplasma: 1 ml

15.5.3.4 Referenzbereich

Freies Hämoglobin:

Plasma < 100 mg/l /20/

15.5.3.5 Bewertung

Am Ende ihrer Lebenszeit werden gealterte Erythrozyten vom retikuloendothelialen System (RES), vor allem der Milz und des Knochenmarks phagozytiert. Dabei wird ein kleiner Teil des Hämoglobins in das Plasma freigesetzt, dissoziiert zum Dimer, wird an Haptoglobin gebunden und zur Katabolisierung wieder in das RES zurück transportiert.

Die tägliche Hämolyse von 1 % der Erythrozytenmasse, entsprechend etwa 3 g Hb, zusätzlich zum normalen Erythrozytenabbau, führt zum vollständigen Verschwinden von Haptoglobin aus dem Plasma und der Nachweisbarkeit von freiem Hb /21/.

Der Anstieg des freien Hb ist ein empfindlicherer Indikator der intravasalen Hämolyse als der Anstieg der LDH. So verursacht bei einer LDH Aktivität von 165 U/l erst eine Hämolyse, die zu einer freien Hb-Konzentration von 800 mg/l führt, einen Anstieg der LDH um 58 % und damit über den oberen Referenzbereichswert /22/.

Die Bestimmung des freien Hb ist eine wichtige Messgröße zur Beurteilung des Ausmaßes der Hämolyse, z.B. bei Herzklappenprothese, extrakorporalem Kreislauf beim herzchirurgischen Eingriff, Hämoglobinopathie, erythrozytärem Membran- und Enzymdefekt, Intoxikation von Arzneimitteln und Schwermetallen, Malaria.

Die Einordnung der Untersuchungen zum Nachweis einer intravasalen Hämolyse nach ihrer diagnostischen Sensitivität ergibt, unter der Voraussetzung, dass keine Akute-Phase Reaktion vorliegt, folgende Reihenfolge:

Haptoglobin nicht nachweisbar > Retikulozytenerhöhung > Erhöhung des freien Hämoglobins > LDH Erhöhung > Bilirubin Erhöhung.

Bei leichter akuter Hämolyse ist nur das Haptoglobin erniedrigt, etwa 3 Tage später erfolgt ein leichter Anstieg der Retikulozyten. Bei mittelgradiger Hämolyse erfolgt ein Anstieg des freien Hb und evtl. der LDH, insbesondere der Isoenzyme 1 und 2.

Eine schwere Hämolyse zeigt immer eine Erhöhung von LDH und wenn die Hämolyserate über 5 % ist, entsprechend einer täglichen Hb-Freisetzung von über 15 g, kommt es auch zu einer Erhöhung des unkonjugierten Bilirubins.

Die Abgrenzung der in vivo- von der in vitro-Hämolyse kann durch die Bestimmung von Kalium und Haptoglobin erfolgen. Eine hämolytische Probe mit Erhöhung des Kaliums und normalem Haptoglobinwert ist verdächtig auf das Vorliegen einer in vitro-Hämolyse.

Siehe auch Tab. 15.5-4 – Hämolyse und freies Hämoglobin im Plasma.

15.5.3.6 Hinweise und Störungen

Antikoagulanz

EDTA darf nicht als Antikoagulanz verwendet werden. Im EDTA-Plasma ist freies Hb etwa 20-fach höher als im Heparinplasma. Serum sollte nicht untersucht werden, da bei der Gerinnung Hb aus den Erythrozyten austritt. Ohne Vorliegen einer intravasalen Hämolyse kann im Serum die Konzentration des freien Hb bis 100 mg/l betragen /18/.

Probe

Die Blutentnahme sollte mit einem luftdicht verschraubbaren Röhrchen erfolgen. Zur Lagerung im Labor soll über dem antikoagulierten Blut ein möglichst geringer freier Luftraum sein /15/.

Bestimmungsmethode /9/

  • COHb-Bestimmung: Obwohl COHb ein direkter Biomarker des Ausgesetztseins mit CO ist, kann der COHb-Wert niedrig sein bei Personen, bei denen der Verdacht auf eine CO Vergiftung besteht oder bei Patienten bei denen ein höherer Wert erwartet wird.
  • CO-Monitor: CO wird in der Ausatmungsluft bestimmt, und zwar kurz vor dem Ende des Ausatmens.Gemessen wird das Volumen von CO.
  • Totales CO (TBCO) im Blut: Ein CO-Anstieg kann neben einer CO-Vergiftung auch durch folgende Effekte bedingt sein: erhöhten oxidativen Stress, veminderte Funktion der Mitochondrien, Entzündungsreaktion im Gehirn.
  • Die Pulsoximetrie kann nicht zum Nachweis von CO eingesetzt werden, denn sie ist nicht epfindlich genug. Ihre Anwendung ist gerechtfertigt, wenn der Verdacht auf eine CO-Vergiftung besteht /27/.

Störfaktoren

Hypertriglyceridämie führt bei der spektrophotometrischen Bestimmung zu falsch hohen Werten, da eine konstante Absorption hinzu addiert wird. Auch täuscht die Methämoglobinämie zu hohe Werte von COHb mit dieser Methode vor /615/.

Stabilität

Die Aufbewahrung von Vollblut soll im Kühlschrank oder tiefgefroren erfolgen, eine stärkere Lichtexposition der Probe unterbleiben. Der Gehalt des CO der Probe kann Wochen bis Jahre bei 3 °C oder tiefgefroren konstant bleiben /15/.

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15.6 Retikulozytenzahl und -indices

Lothar Thomas

Die Bestimmung von Retikulozyten im peripheren Blut ist ein Indikator der erythropoetischen Aktivität des Knochenmarks. Die automatisierte Analytik der Retikulozyten umfasst die Bestimmung der Retikulozytenzahl und von Retikulozyten-Indices wie:

  • Das Zellvolumen.
  • Die zelluläre Konzentration und den Gehalt an Hämoglobin (CHr, RetHe)
  • Das Reifungsmuster der Retikulozyten.

15.6.1 Der Retikulozyt

Der Retikulozyt ist eine unreife rote Blutzelle (RBC) ohne Zellkern. Es handelt sich um eine Übergangszelle vom orthochromatischen Erythroblasten zum kernlosen, reifen Erythrozyten. Der Retikulozyt ist eine RBC, deren RNA-Gehalt noch so hoch ist, dass dieser fluoreszenzoptisch im Durchflusszytometer oder panoptisch im Mikroskop erkannt wird. Um mit mikroskopischer Technik als Retikulozyt identifiziert zu werden, muss die Zelle mindestens zwei blaugefärbte RNA Partikel enthalten, die mikroskopisch ohne Feinfokussierung der Zelle sichtbar sind. Die Partikel sollen nicht am Rand der Zelle liegen, um eine Verwechslung mit Heinz Körpern zu vermeiden /1/.

Die morphologische Klassifikation des Retikulozyten unterscheidet folgende Gruppen /2/:

  • Gruppe 0; Normoblasten und Megaloblasten, die beide einen Kern und ein dichtes perinukleäres Retikulum enthalten.
  • Gruppe 1; Retikulozyten mit einem Retikulum in Form dichter Klumpen.
  • Gruppe 2; Retikulozyten mit einem kranzförmigen Retikulum.
  • Gruppe 3; Retikulozyten mit einem diffus verstreuten Retikulum.
  • Gruppe 4; Retikulozyten mit einem Retikulum in Form verstreuter Granula und Fragmente. Hier ist das Endstadium des Reifungsprozesses erreicht. Der Retikulozyt verliert die Granula und Fragmente nach und nach und wird zum reifen Erythrozyten.

Bei gesunden Personen gehört im Blut nur ein kleiner Teil Retikulozyten den Gruppen 1 und 2, etwa 30 % der Gruppe 3 und über 60 % der Gruppe 4 an /3/. Bei der hyperregenerativen Erythropoese kommt es zu einer Vermehrung von Retikulozyten der Gruppen 1 und 2 und im Blutausstrich zu einer Polychromasie der Erythrozyten /4/.

15.6.1.1 Reifung der Retikulozyten

Bei Reifung der roten Blutzellen im Knochenmark erfolgt mit Reduzierung der Zellgröße eine zunehmende Kondensation nukleären Chromatins und einer Abnahme der Kerngröße /5, 6/. Wird der Kern pyknotisch, erfolgt die Ausstoßung. Parallel nimmt die Hb Synthese zu. In den Erythroblasten werden die Globinketten in den RNA haltigen Polyribosomen und das Häm in den Mitochondrien gebildet. Die Verknüpfung beider Bestandteile erfolgt mitochondrial /5/.

Die RNA enthaltenden Ribosomen können bis zu 4 Tage in der kernlosen roten Blutzelle im Knochenmark verbleiben. Während dieser Zeit kommt es zur kontinuierlichen Abnahme der Polyribosomen und auch der Hb Bildung. Der Retikulozyt hat ein größeres Zellvolumen als reife Erythrozyten. Da die Hb Synthese noch nicht beendet ist, färbt der Erythrozyt sich nach Pappenheim oder Giemsa-Wright polychromatisch an. Das Auftreten polychromatischer Erythrozyten im peripheren Blut reflektiert die vorzeitige Freisetzung von Erythrozyten aus dem Knochenmark und zeigt eine gesteigerte Erythropoese an /4/.

Die primäre Retikulozytenreifung im Knochenmark erfolgt normal 3 Tage. Dann verlässt der Retikulozyt das Mark und vollendet innerhalb von 1 Tag seine Reifung im peripheren Blut. Mit dem Verlust der Protein synthetisierenden Polyribosomen hört auch die Hb-Bildung auf und die Transformation vom Retikulozyten zum Erythrozyten ist vollzogen /5/.

Nach Pyknose des Kerns können Retikulozyten mit Supravitalfarbstoffen wie Brilliant-Kresylblau oder Neu-Methylenblau angefärbt werden. Gefärbt wird die RNA der Polyribosomen. Eine Darstellung der RNA erfolgt auch mit Fluoreszenzfarbstoffen wie Thiazolorange, Acridinorange oder Pyronin Y /6/.

15.6.1.2 Störungen der Retikulozytenreifung

Beim akute Blutverlust mit Abfall des Hb Werts unter 80 g/l kommt es zu einer Stresssituation des Knochenmarks und es resultiert eine stark hyperregenerative Erythropoese. Das führt zu folgenden Veränderungen der Reifung:

  • Die Retikulozyten verbleiben keine 3-4 Tage, sondern nur 1,5 Tage im Knochenmark und ihre endgültige Reifung vollzieht sich im Blut. Sie sind dann 1,7–3 Tage in der Zirkulation anstatt 0,8–1,2 Tage /7/. Es resultiert eine Erhöhung der Retikulozytenzahl mit einem Shift der Retikulozyten in die Reifungsgruppen 1 bis 3.
  • Im peripheren Blut erscheinen Stress-Retikulozyten. Es handelt sich um Retikulozyten mit einem großen Volumen und hohem RNA-Gehalt (Makroretikulozyten). Die aus ihnen entstehenden Erythrozyten haben eine verkürzte Lebenszeit /8/.

15.6.2 Retikulozytenzahl und abgeleitete Indices

Die absolute Retikulozytenzahl und die von ihr abgeleiteten Kenngrößen Retikulozyten-Index und Retikulozyten-Produktionsindex sind Indikatoren der erythropoetischen Aktivität und ermöglichen Rückschlüsse zu deren Effektivität.

15.6.2.1 Indikation

  • Beurteilung der erythropoetischen Aktivität nach Diagnose einer Anämie.
  • Abgrenzung der hämolytischen oder posthämorrhagischen Anämie (hyperregenerativ) von der Anämie chronischer Erkrankungen (hyporegenerativ).
  • Therapiemonitoring (Eisenmangelanämie, megaloblastäre Anämie).
  • Untersuchung auf frühe Regeneration nach Knochenmark- oder Stammzell Transplantation.
  • Monitoring der Therapie mit Erythropoese stimulierenden Agentien (ESA).

15.6.2.2 Bestimmungsmethode

Es können bestimmt werden:

  • Retikulozytenzahl.
  • Retikulozyten-Index (Hämatokritkorrektur).
  • Retikulozyten-Produktions-Index (Shift-Korrektur).
15.6.2.2.1 Retikulozytenzählung

Mikroskopische Retikulozytenzählung

Prinzip: Durch Färbung unfixierter Zellen mit Vitalfarbstoffen entsteht im unreifen Erythrozyten ein netzförmiges Präzipitat, die Substantia reticulo filamentosa. Dazu wird Vollblut mit einem Vitalfarbstoff (Brillant-Kresyl-Blau oder Neu-Methylenblau) zu gleichen Teilen gut vermischt und auf mehreren Objektträgern ausgestrichen. Nach Lufttrocknung werden unter dem Mikroskop mit Ölimmersion und Okularblende alle Zellen mit bläulichen, fadenförmigen oder granuliertem Präzipitat auf 1.000 Erythrozyten ausgezählt /9/. Die Angabe erfolgt in Prozent.

Automatisierte Retikulozytenzählung

Allen automatisierten Analysensystemen gemeinsam ist das Prinzip der Durchflussmessung, bei der die einzelne Zelle eine Messzelle passiert, die von einem Lichtstrahl durchquert wird. Die Färbung der Retikulozyten geschieht vor der flowzytometrischen Sortierung der Zellen. Einige Analyzer wenden ein Detektionsprinzip an, das auf Lichtabsorption oder Lichtstreuung beruht, basierend auf den Präzipitaten in den Retikulozyten. Andere verwenden fluoreszierende Retikulozytenreagenzien /10/.

Fluoreszenz-aktivierte Zytometrie: Ein Fluoreszenzfarbstoff, z.B. Thiazolorange, Acridinorange, Pyronin Y, bindet an RNA des Retikulozyten. Das Ausmaß der Fluoreszenzemission, die durch Anregung des gebundenen Farbstoffes erzeugt wird, verhält sich proportional dem RNA Gehalt des Retikulozyten und invers zu seiner Reifungsstufe /6/.

Durchflusszytometrie: Die Detektion von Retikulozyten basiert auf dem Prinzip, dass die durch das Fixier- und Färbereagenz bewirkte Präzipitation und Färbung Licht absorbiert oder streut. Als Farbstoffe werden z.B. Methylenblau oder Oxazin verwendet /10/.

Retikulozytenzahl

Die Retikulozytenzahl wird angegeben als:

  • Absolute Zahl pro Volumeneinheit.
  • Relative Zahl in % (Retikulozytenzahl/100 Erythrozyten).

Berechnung der absoluten aus der relativen Zahl:

  • Retikulozyten/μl = Retikulozyten (%) × Eythrozytenzahl (μl) /9/.
15.6.2.2.2 Retikulozyten-Index, RI (Hämatokritkorrektur)

Die Retikulozytenzahl kann, in Relation zu den Erythrozyten, dadurch erhöht sein, dass mehr Retikulozyten im Blut sind oder, dass das Blut weniger Erythrozyten enthält /9/. Deshalb muss die gemessene Retikulozytenzahl auf einen Hämatokrit (Hkt) von 0,45 (45 %) korrigiert werden. Die Korrektur erfolgt nach der Gleichung in Tab. 15.6-1 – Hematokrit-und Shift-Korrektur.

15.6.2.2.3 Retikulozyten-Produktionsindex (Shift-Korrektur)

Retikulozytenwerte, die auf den Hkt korrigiert sind, geben die Retikulozytenproduktion nicht richtig wieder, denn die Retikulozytenzahl kann durch die vorzeitige Freisetzung aus den Knochenmark verändert sein (Shift) /9/. Wenn Shift-Zellen (polychromatische Erythrozyten) in der Färbung nach Wright im Ausstrich erkannt werden, muss eine empirische Korrektur der roten Blutzellreifung erfolgen. Die Reifungszeit beträgt abhängig vom Hkt:

  • 1 Tag bei Hkt 0,45 (45 %).
  • 1,5 Tage bei Hkt 0,35 (35 %).
  • 2 Tage bei Hkt 0,25 (25 %).
  • 3 Tage bei Hkt 0,15 (15 %).

Die Kalkulation des Shifts bzw. des Retikulo­zyten­produktions-Index (RPI) zeigt Tab. 15.6-1. Hat der Patient einen Hkt korrigierten Retikulozyten-Index (RI) von 10 % und einen Hkt von 25 %, so ist der RPI 10/2 = 5. Ein Shift des RPI > 3 wird als eine adäquate erythropoetische Antwort angesehen, ein Wert < 2 ist inadäquat. Die erwarteten unteren Grenzwerte einer adäquaten erythropoetische Antwort in Abhängigkeit vom Hkt zeigt Tab. 15.6-2 – Erwartete untere Grenzwerte von RPI und Retikulozytenzahl in Abhängigkeit vom Hkt.

15.6.2.3 Untersuchungsmaterial

EDTA-Blut: 1 ml

15.6.2.4 Referenzbereich

Siehe Tab. 15.6-3 – Retikulozyten-Referenzbereiche.

15.6.2.5 Bewertung

Die Bestimmung der Retikulozytenzahl absolut und relativ sowie des RI und RPI sind wichtige Indikatoren der erythropoetischen Aktivität des Knochenmarks und der Verkürzung der Erythrozytenlebenszeit.

15.6.2.5.1 Absolute Retikulozytenzahl

Die Aussage der Retikulozytenzahl pro Volumen ist ein Maß der Effektvität des Knochenmarks zur Bildung von Erythrozyten. Das gilt für eine normoregenerative Erythropoese (Steady state), die hyperregenerative und die hyporegenerative /15/.

15.6.2.5.2 Relative Retikulozytenzahl

Die Aussage der Retikulozyten in % der Erythrozyten ist ein Maß der Erythrozytenlebenszeit. Sie ermöglicht bei chronischen Anämien im Steady state eine Abschätzung der Erythrozytenlebenszeit-Verkürzung. Je höher die Retikulozyten (%), desto niedriger die Lebenszeit /15/.

15.6.2.5.3 Retikulozyten-Index (RI)

Der RI ermöglicht im steady state bei chronischen Anämien eine Abschätzung der Verkürzung der Lebenszeit der Erythrozyten im Vergleich zu normal. Je höher der RI, desto kürzer ist die Lebenszeit.

15.6.2.5.4 Retikulozyten-Produktions-Index (RPI)

Ein erhöhter Retikulozytenwert ist ein Indikator für /15/:

  • Die erhöhte Bildung von Erythrozyten bei Verkürzung der Erythrozytenlebenszeit.
  • Eine verlängerte Verweildauer der Retikulozyten im peripheren Blut.

Der RPI reflektiert die Steigerung oder Verminderung der Erythropoese um ein Vielfaches der Norm. Eine Steigerung der Reaktivität der Erythropoese ist bei ESA Stimulierung bis um das 8 fache möglich. Eine Hyporeaktivität liegt vor, wenn nur eine Steigerung der Reaktivität von weniger als 2 fach möglich ist. Bei fallendem Hkt nimmt die Erythropoetin stimulierte Reaktivität der Erythropoese zu. Bei hyperreaktiver Erythropoese ist die Reifungszeit der Retikulozyten im Knochenmark proportional zur Absenkung des Hkt verkürzt, und die Verweilzeit im periphere Blut verlängert. Die Hkt abhängige längere Verweildauer im Blut wird durch den RPI berücksichtigt /1/. Ohne Korrektur der verlängerten Verweilzeit wird bei zunehmender Anämie die Erythrozytenbildung durch die absolute Retikulozytenzahl zu hoch eingeschätzt und die Erythrozytenlebenszeit durch die relative Retikulozytenzahl zu niedrig. Mindestwerte des RPI und der Retikulozytenzahl, die bei intakter Markfunktion erzielt werden sollten sind in Tab. 15.6-2 – Erwartete untere Grenzwerte von RPI und Retikulozytenzahl in Abhängigkeit vom Hkt angegeben /16/. Bei einem Hkt von 0,35 weist ein RPI um ≥ 2 auf eine regenerative, ein RPI ≥ 3 auf eine hyperregenerative Erythropoese hin. Ein RPI < 2 zeigt eine hyporegenerative Erythropoese, z.B. Anämie chronischer Erkrankungen durch Entzündung, Infektion, malignen Tumor oder eine intrinsische Hypoplasie der Erythropoese an.

15.6.2.5.5 Retikulozytose

Bei einem Hämatokrit unter 0,30 muss der RPI bestimmt werden, da sonst zu häufig eine Retikulozytose diagnostiziert wird /15/.

Eine wichtige Bedeutung kommt der Retikulozyten­bestimmung bei den normozytären Anämien zu (Abb. 15.6-1 – Diagnostische Hinweise bei normozytären Anämie durch Bestimmung der Retikulozyten). Eine Retikulozytose bei makrozytärer Anämie weist auf den anbehandelten Folat- oder Vitamin B12-Mangel hin (Abb. 15.6-2 – Diagnostische Hinweise bei makrozytärer Anämie durch Bestimmung der Retikulozyten­/17/. Bei den mikrozytären Anämien sollte die Retikulozytenzahl erst dann bestimmt werden, wenn der Wert des Ferritins oder der Transferrinsättigung keine eindeutige Aussage liefern (Abb. 15.6-3 – Diagnostische Hinweise bei mikrozytärer Anämie durch ­Bestimmung der Retikulozyten). Erkrankungen und Zustände mit Retikulozytose zeigt Tab. 15.6-4 – Erkrankungen und Zustände mit Retikulozytose.

15.6.2.5.6 Retikulozytopenie

Sie ist das Zeichen einer hyporegenerativen Erythropoese und kommt vor bei:

  • Mangelanämien, z.B. Eisen-, Kupfer-, Vitamin B6-, Vitamin B12- und Folatmangel.
  • Der Anämie chronischer Erkrankungen (Infektion, chronische Entzündung, maligner Tumor) auf Grund einer durch inflammatorische Zytokine induzierten Hypoproliferation der Erythropoese /18/.
  • Der chronischen Niereninsuffizienz. Bedingt durch eine ineffektive Wirkung von Erythropoetin ist die Proliferation der Erythropoese vermindert /19/.
  • Dem myelodysplastischen Syndrom (MDS). Die Anämie beim MDS ist hypoproliferativ mit einer peripheren Retikulozytopenie trotz eines hyperzellulären Marks mit bis zu 90 % ineffektiver Erythropoese /20/. Häufig ist die Konzentration des löslichen Transferrinrezeptors erhöht.
  • Den kongenitalen dyserythropoetischen Anämien. Es werden drei Typen unterschieden. Sie haben eine moderate Anämie mit einem Hb-Wert um die 90 g/l bei verminderter bis normaler Retikulozytenzahl /21/.

15.6.2.6 Hinweise und Störungen

Bestimmungsmethode

Mikroskopische Methode: Die mikroskopische Auswertung des Blutausstrichs ist ungenau und hat einen intralaboratoriellen VK von etwa 25 % und einen interlaboratoriellen von 25–50 %, wenn die Retikulozytenzahl auf 1.000 Erythrozyten bestimmt wird /9/. Bei der Färbung der Ausstriche werden auch Howell-Jolly Körperchen, Heinz Körper und Malariaparasiten mit erfasst /9/.

Hämatologie-Analyzer: Die Zählungenauigkeit ist geringer, da etwa 10.000 Zellen gezählt werden. Der interlaboratorielle VK für eine Retikulozytose über 2,5 % beträgt 24 % und ist etwa halb so groß wie bei der mikroskopischen Zählung bei gleichem Retikulozytenanteil /26/.

Gestört wird die flowzytometrische Methode durch Howell-Jolly Körperchen, kernhaltige rote Blutzellen, Sichelzellen, Riesenthrombozyten, Kälteagglutinine, Parasiten (Malaria, Babesiose), Plättchenklumpen. Die zytometrischen Methoden unterscheiden sich systematisch auf Grund der Verwendung unterschiedlicher Farbstoffe /27/.

Stabilität

Abhängigkeit von der Färbe- und Bestimmungsmethode. Bei 20 °C Abfall nach 24 h, bei 4 °C Lagerung bis zu 72 h und mehr /27/.

15.6.3 Retikulocyte Maturity Index und Immature Reticulocyte Fraction

Der Reticulocyte Maturity Index (RMI) und die Immature Reticulocyte Fraction (IRF) sind arbiträre Messgrößen zur Quantifizierung der Reifungsstufen der Population von Retikulozyten. Die Untersuchung beruht auf der Bestimmung der Konzentration der RNA in der Substantia granulo- filamentosa der Retikulozyten. Gemessen wird die Intensität des Absorptions- oder Fluoreszenzsignals. Unreife Formen haben im Vergleich zu reifen Formen einen höheren Gehalt an RNA. Eine Zunahme unreifer Retikulozyten im Blut führt zum Anstieg von RMI und IRF.

15.6.3.1 Indikation

Beurteilung der erythropoetischen Aktivität:

  • Bei Anämien.
  • Nach Knochenmark Transplantation und nach Chemotherapie.

15.6.3.2 Bestimmungsmethode

Reticulocyte Maturity Index (RMI)

Hämatologie Analyzer zur Retikulozytenzählung nutzen die Eigenschaften von spezifisch und schnell an Nukleinsäuren bindende Stoffe wie Ethidiumbromid, Auramin O (Sysmex), CD4K530 (Abbott), Oxacin 750 (Siemens) oder Neu-Methylenblau (Beckman Coulter). Die Lichtenergie eines Lasers wird z.B. von den Fluoreszenzfarbstoffen Auramin O oder Ethidiumbromid absorbiert und das nach Anregung emittierte Lichtsignal in Relation zu einem Streulichtsignal in einem Koordinatensystem aufgetragen. Gewöhnlich wird die Population der Retikulozyten durch entsprechende Schwellenwertsetzung in die drei Reifungsstufen Low Fluorescence Reticulocytes (LFR), Medium Fluorescence Reticulocytes (MFR) und High Fluorescence Reticulocytes (HFR) unterteilt (Abb. 15.6-4 –Einteilung der Retikulozyten in Reifungsstadien/28/.

Gesunde Personen haben gewöhnlich nur Retikulozyten der LFR Fraktion. Im Gegensatz zu den Fluoreszenzmethoden wird bei anderen Hämatologie Analyzern die Absorption von Neu-Methylenblau gemessen oder die Eigenschaft von Oxacin 750 genutzt, nach Bindung an die RNA seine Farbe und damit die Absorption zu ändern.

Immature Reticulocyte Fraction (IRF)

Das Verhältnis der unreifen Fraktion zu allen Retikulozyten wird gebildet [IRF% = HFR (%) + MFR (%)].

15.6.3.3 Untersuchungsmaterial

EDTA-Blut: 1 ml

15.6.3.4 Referenzbereich

Siehe Tab. 15.6-5 – RMI and IRF Referenzbereiche.

15.6.3.5 Bewertung

Das Reifungsstadium der Retikulozyten im peripheren Blut ist vorwiegend abhängig von:

  • Dem Schweregrad der Anämie.
  • Dem Eisen-, Vitamin B12- und Folsäurestatus.
  • Der Stimulation mit Erythropoetin.
  • Der Einbeziehung des Knochenmarks in ein inflammatorisches Geschehen.

Der RMI oder IRF zeigen keine klare Beziehung Bildung der Erythozyten oder Verkürzung und ihrer Lebenszeit. Sie weisen aber unter nicht Steady-state Bedingungen frühzeitig auf eine beginnende Regeneration oder Suppression der Erythropoese oder deren Ansprechen auf eine Therapie mit ESA hin /15/. Die diagnostische Wertigkeit des RMI in Kombination mit der Retikulozytenzahl ist gezeigt in Tab. 15.6-6 – Diagnostische Bedeutung von Retikulozytenzahl und Retikulozyten-Reifungsindex /32/.

15.6.3.5.1 Akute Blutung

In Abhängigkeit vom Abfall des Hb ist die Reifungszeit der Retikulozyten im Knochenmark verkürzt, es treten vermehrt unreife Retikulozyten in das Blut über. RMI und IRF nehmen zu auf Grund eines erhöhten Anteils von MFR und HFR /10/.

Bei größeren akuten Blutverlusten steigen beide Messgrößen schon nach 5–8 h an, während der Anstieg der Retikulozyten erst nach 24–48 h signifikant ist.

15.6.3.5.2 Renale Anämie, perniziöse Anämie, myelodysplastisches Syndrom

Die Reifungszeit der Retikulozyten im peripheren Blut ist verlängert. Patienten mit diesen Erkrankungen haben eine niedrige Retikulozytenzahl bei erhöhtem RMI und IRF /10/.

15.6.3.5.3 Knochenmark Transplantation

Bei der allogenen und heterologen ­ Trans­plantation des Knochenmarks und Chemotherapie wird ein Anstieg der HFR, z.B. über 2 %, als Indikator einer Erholung des Marks angesehen /30/. Erreicht am 21. Tag nach Transplantation die Retikulozytenzahl einen Wert von 15 × 109/l und die HFR einen Wert von 0,5 × 109/l, zeigt dies das Funktionieren des Transplantates zu 100 % an /32/.

Gegenüber dem Anstieg polymorphkerniger Granulozyten und der Retikulozytenzahl zeigen RMI und IRF jedoch keine eindeutigen Vorteile /31/.

15.6.3.6 Hinweise und Störungen

Unreife Retikulozyten sind unterschiedlich definiert. In einigen Studien wird darunter nur die Fraktion der HFR verstanden, in anderen die Summe von HFR und MFR. Zur Ermittlung der IRF werden die HFR- und die MFR-Fraktion herangezogen /31/.

Bestimmungsmethode

Die Methoden an den verschiedenen Hämatologie Analyzern sind nicht vergleichbar, da keine Standardpräparation von Retikulozyten zur Verfügung steht und jeder Hersteller unterschiedlich kalibriert. Da die HFR Fraktion normalerweise nur wenige Prozent der Retikulozyten ausmacht, werden bei 50.000 gezählten roten Blutzellen etwa 500 Retikulozyten sein, von denen nur wenige in das Fenster HFR fallen. Es kann deshalb zu erheblichen Störungen mit falsch positivem HFR Ergebnis kommen durch große Blutplättchen, Leukozyten, Erythroblasten, Erythrozyten mit Malariaparasiten oder Howell-Jolly Körperchen /31/.

15.6.4 Retikulozytenindices

Die Retikulozytenanalytik wurde von der Zählung der Retikulozyten erweitert um die Bestimmung der Retikulozytenindices (Volumen, Hämoglobinkonzentration und Hämoglobingehalt) /33/.

15.6.5 Mittleres zelluläres Volumen der Retikulozyten (MCVr)

Während der Reifung der erythropoetischen Vorläuferzellen im Knochenmark nimmt deren Volumen kontinuierlich ab. Beim Retikulozyten erfolgen die stärksten Abnahmen:

  • Im Knochenmark vom Stadium 0 (orthochromatischer Erythroblast) zum Stadium 1 (Retikulozyt mit einem Retikulum in Form eines dichten Klumpens), auf Grund des Verlusts des Zellkerns.
  • Im Blut beim Übergang vom Stadium 4 (Retikulozyt mit einem Retikulum mit wenigen Granula oder Fragmenten) in die reifen Erythrozyten. Im Blut ist der Retikulozyt mit einem Durchmesser von 8,5 μm etwa 1–1,5 μm größer als der Erythrozyt und mit einem MCVr von im Mittel 106 fl im Vergleich zum mittleren MCV der Erythrozyten von 88 fl auch um etwa 20 % voluminöser.

15.6.5.1 Indikation

  • Verdacht auf Stresserythropoese nach akuter Blutung, mangelnder Sauerstoffversorgung, Überstimulierung des Knochenmarks durch Therapie mit ESA.
  • Beurteilung des therapeutischen Ansprechens bei Mangelanämie (Eisen, Folsäure, Vitamin B12).

15.6.5.2 Bestimmungsmethode

Prinzip: Zur Messung am Advia 120 Hämatologie Analyzer wird EDTA Blut mit einem Retikulozyten Reagenz verdünnt. Es handelt sich um Natriumdodecylsulfat, das die roten Blutzellen in eine sphärische Form zwingt. Die Retikulozyten werden mit Oxazin 750 angefärbt. Da sie eine größere Lichtabsorption haben als die Erythrozyten, können sie von diesen abgetrennt werden. Vermittels flowzytometrischer Analyse wird durch Messung der Streuung von Laserlicht das Zellvolumen und die Hb-Konzentration der Retikulozyten ermittelt /31/.

Bei den Hämatologie Analyzern von Sysmex wird das MCV der Retikulozyten aus der Vorwärtsstreuung der Fluoreszenz markierten Retikulozyten abgeleitet.

15.6.5.3 Untersuchungsmaterial

EDTA-Blut: 1 ml

15.6.5.4 Referenzbereich

Erwachsene /34/: 92–120 fl

15.6.5.5 Bewertung

Die Verminderung des MCVr ist typisch für die Anämie durch Eisenmangel, die Erhöhung für die Folsäure- und Vitamin B12-Mangelanämie. Makroformen der Retikulozyten treten bei Stresssituation der Erythropoese, z.B. bei akuter Hypoxie auf.

15.6.5.5.1 Stress Erythropoese

Makroformen der Retikulozyten haben ein MCVr, das um mehr als 27 % größer ist als das der Erythrozyten /4/. Das MCVr kann im Vergleich zum MCV der Erythrozyten bis zu 3-fach erhöht sein. Makroformen der Retikulozyten treten unter Situationen durch Stress auf und werden auch als Stressretikulozyten bezeichnet.

Im Blutausstrich können Stress Retikulozyten als polychromatische Erythrozyten nachweisbar werden. Sie treten auf:

  • 5–8 h nach stärkeren akuten Blutungen.
  • Beim Aufenthalt in großer Höhe.
  • Als Antwort der erfolgreichen Therapie einer Eisenmangel-Anämie in der frühen Phase (ersten 2–3 Tage).
  • Als Response auf eine Therapie mit Erythropoese stimulierende Agentien (ESA). Die Gabe von ESA führt bei Personen mit normalem Eisenstatus und ohne Akute-Phase Reaktion zu einem Anstieg der Retikulozytenzahl und des MCVr, die Hb-Konzentration des Retikulozyten (CHCMr) nimmt jedoch ab. Entwickelt sich bei Personen mit nicht ausgeglichenen Eisenstatus eine Eisen-restriktive Erythropoese, so kommt es zu keinem Anstieg des MCVr und es werden kleine Retikulozyten gebildet.
15.6.5.5.2 Hämolytische Anämie

Bei akuter und massiver hämolytischer Anämie, z.B. einer Autoimmunhämolyse, kann es zu einer verstärkten endogene Synthese von Erythropoetin mit erheblicher Stimulation der Erythropoese und Ausbildung einer Eisen-restriktiven Erythropoese kommen. Als deren Folge resultiert eine inadäquat niedrige Retikulozytenbildung. Das MCVr ist erniedrigt und es resultiert eine Inversion des Verhältnisses MCVr/MCV, das normalerweise über 1,0 ist /35/. In Phlebotomie-Untersuchungen wurde gezeigt, dass diese Situation etwa 2 Tage nach Erniedrigung der Transferrin-sättigung auftritt.

15.6.5.5.3 Folsäure- und Vitamin B12-Mangelanämie

Bei beiden Anämien besteht eine Makrozytose der Erythrozyten und der Retikulozyten und das Verhältnis MCVr/MCV ist über 1,0. Bei Behandlung der Anämie zeigt eine Inversion des Verhältnisses das Ansprechen des Marks an. Ursache ist die früherzeitige abnehmende Makrozytose der Retikulozyten als die der Erythrozyten. In einer Studie /35/ hatten nach 17-tägiger Behandlung mit Vitamin B12 die gebildeten Retikulozyten einen MCVr von 108,8 fl, während der MCV noch 109,8 fl betrug, da die meisten Erythrozyten schon vor Beginn der Therapie gebildet worden waren.

15.6.6 Hämoglobingehalt der Retikulozyten (CHr, Ret-He)

Retikulozyten haben einen höheren Flüssigkeitsgehalt, einen um 1–3 pg höheren Hb-Gehalt und ein bis zu etwa 20 % größeres Volumen als Erythrozyten. Die Folge ist, dass sie hypochromer als die Erythrozyten sind.

15.6.6.1 Indikation

  • Diagnostik der Eisen restriktiven Erythropoese.
  • Beurteilung des Behandlungserfolgs einer Eisenmangelanämie.
  • Monitoring des Eisenbedarfs der Erythropoese unter Therapie mit ESA.

15.6.6.2 Bestimmungsmethode

Am Advia 120 wird die Hb-Konzentration des einzelnen Retikulozyten (CHCMr) gemessen und der Hb-Gehalt (CHr in pg) nach der Gleichung CHr = MCVr × CHCMr berechnet /31/. Zusätzlich kann der Hb-Gehalt der Retikulozytenfraktion (RFHb) nach der Gleichung RFHb = Retikulozytenzahl × CHr ermittelt werden.

An Sysmex Hämatologie Analyzern wird der Ret-He bestimmt. Die Intensität des Vorwärtsstreulichts von Fluoreszenz markierten Retikulozyten korreliert mit ihrem Hb-Gehalt. Die Angabe erfolgt in pg /36/.

15.6.6.3 Untersuchungsmaterial

EDTA-Blut: 1 ml

15.6.6.4 Referenzbereich

Siehe Tab. 15.6-7 – Referenzbereiche für Retikulozyten-Hämoglobin.

15.6.6.5 Bewertung

CHr und Ret-He sind Marker zur Bestimmung des aktuellen Eisenbedarfs der Erythropoese. Ein Wert unter 28 pg zeigt eine Eisen restriktive Erythropoese an. Beginnt diese, nehmen CHr und Ret-He innerhalb von 48–72 h ab. Andere Marker wie die %HYPO oder biochemische Marker des Eisenstoffwechsels zeigen frühestens nach 10–20 Tagen Veränderungen, der MCV und MCH der Erythrozyten erst nach 2–3 Monaten.

15.6.6.5.1 Eisenmangel

Die Erkennung eines Eisenmangels, bevor es zur Entwicklung einer mikrozytären hypochromen Anämie kommt, ist wichtig zur Vermeidung systemischer Komplikationen des Eisenmangels. Klassische biochemische Parameter zur frühen Diagnostik des Eisenmangels sind die Bestimmung von Ferritin, der Transferrinsättigung und des löslichen Transferrinrezeptors im Serum. Bei Kindern, Jugendlichen im Wachstumsschub, Ausdauersportlern, Frauen im menstruationsfähigen Alter und Mehrfachblutspendern kann der Ferritinwert als Indikator eines Eisenmangels kritisch sein, da diese Personen schon niedrige Werte trotz noch ausreichenden Eisenversorgung haben /41/.

Bei gesunden Personen, die mit ESA behandelt wurden, konnte gezeigt werden, dass die Abnahme von CHr und Ret-He frühe Indikatoren eines Eisenmangels der Erythropoese sind /42/. Schon 3–5 Tage nach Beginn der Therapie mit ESA kam es zu einem signifikanten Abfall des CHr bzw. Ret-He.

In der Diagnostik des Eisenmangels bei Kindern hat der CHr einen höheren Vorhersagewert als die biochemischen Marker des Eisenmangels /43/.

Der Anteil hypochromer Retikulozyten (CHCMr unter 270 g/l), der normalerweise unter 25 % beträgt, ist ebenfalls ein früher Indikator einer Eisen restriktiven Erythropoese. Mit Progression des Eisenmangels nehmen der CHr bzw. Ret-He ab und der Anteil hypochromer Retikulozyten zu.

15.6.6.5.2 Funktionseisen Mangel

Der funktionelle Eisenmangel ist ein Status der Eisen-verarmten Erythropoese beruhend auf ungenügender Mobilisation von Eisen aus den Speichern bei einem erhöhten Bedarf an Eisen. Die Anämie beim funktionellen Eisenmangel bildet sich aus durch eine Steigerung der Erythropoese, bedingt durch eine endogene oder exogene Stimulation der Erythropoese. Es besteht eine Imbalance zwischen der Eisenanforderung des Knochenmarks und der Eisenverfügbarkeit. Eisen wird in den Makrophagen des retikuloendothelialen Systems sequestriert. Die Eisenspeicher sind normal oder erhöht (Ferritin 100–299 μg/l) in Kombination mit einer Transferrinsättigung unter 20 %.

Beim Funktionseisen Mangel liegt also eine Situation vor, mit einem Eisenbedarf des Knochenmarks, der die Freisetzung von Eisen aus den Speichern und die Transportkapazität von Transferrin überschreitet. Als Folge werden hypochrome Retikulozyten und Erythrozyten gebildet. Der Hb-Gehalt des Retikulozyten (CHr, RetHe) ist vermindert /44/.

Bei Hämodialysepatienten unter Therapie mit ESA ist die Verlaufsbeurteilung von CHr und RetHe ein besserer Indikator der Eisenversorgung als die biochemischen Marker des Eisenstoffwechsels (Ferritin, Transferrinsättigung).

Ein CHr und RetHe unter 28 pg zeigen eine Eisen restriktive Erythropoese an /41/:

  • Bei Tumorpatienten, bedingt durch Blutung, Hämolyse und zytostatische Therapie.
  • Bei der Anemia of chronic disease (ACD). Ausgelöst durch eine Inflammation induziert IL-6 in den Hepatozyten die Synthese des Peptids Hepcidin, das eine verstärkte Eisenretention in den Makrophagen und eine verminderte intestinale Eisenabsorption bewirkt. Dadurch wird der Eisenturnover vermindert mit der Folge einer Eisen restriktiven Erythropoese, die sich bei 5–10 % der ACD Patienten entwickelt. Die Retikulozyten und Erythrozyten haben einen verminderten Hb-Gehalt, meist aber noch einen normalen MCV-Wert.
  • Bei Dialysepatienten, der Grenzwert der Eisen restriktiven Erythropoese beträgt 29 pg /45/.

Ein Mangel an Funktionseisen liegt auch vor, wenn der CHr oder RetHe kleiner als der MCH-Wert der Erythrozyten ist (CH-Inversion) /37/.

15.6.6.5.3 Diagnostisches Diagramm

Die Entstehung des Eisenmangels und des Mangels an Funktionseisen in Abhängigkeit von der Speichereisen-Reserve kann anhand des diagnostischen Diagramms in Abb. 15.6-5 – Diagnostisches Diagramm zur Beurteilung, Monitoring und Therapie des Eisenstatus erkannt und verfolgt werden. In dem Diagramm dient der Ferritin-Index (sTfR/log10 Ferritin) als Indikator der Speichereisen-Reserve (Eisenangebot), da er eine gute Korrelation zum histologisch darstellbaren Eisen des Knochenmarks zeigt. Der CHr bzw. RetHe sind Indikatoren des Eisenbedarfs der Erythropoese /41/. In einer Studie /46/ war bei klassisch serieller Bestimmung von hämatologischen und Parametern und Markern des Eisenstoffwechsels primär eine Differenzierung der Anämie in 32 % der Fälle nicht möglich, bei Anwendung des Diagramms aber nur zu 14 %. Das Konzept des Diagramms und die Behandlungsvorschläge der verschiedenen Anämieformen haben sich in einer Therapiestudie an Tumorpatienten als wertvoll erwiesen /47/.

15.6.6.5.4 Sichelzellanämie

Bei der Sichelzellanämie ist die Hb-Konzentration des Retikulozyten (CHCMr) erhöht und in der Regel über 380 g/l. Unter Therapie mit Hydroxyharnstoff kommt es in den ersten 2 Wochen zu einem Abfall der CHCMr auf Grund einer verbesserten Hydratisierung der Sichelzellen, die dadurch nicht mehr so stark zur Sichelzellbildung neigen /48/.

Patienten mit einer Sichelzellanämie haben im Vergleich zu Gesunden einen 2–3 fach höheren Hb-Gehalt der Retikulozytenfraktion (RetHb). Der Hb-Gehalt der roten Blutzellfraktion (RbcHb) ist vermindert. In einer Studie /49/ betrugen die RetHb-Werte von Kontrollpersonen 1,76 ± 0,69 g/l und bei Patienten mit SS4α 6,5 ± 4,2 g/l. Die RbcHb/RetHb Ratio ist ein wichtiger Indikator der Sichelzellanämie. Bei Gesunden und auch bei der Eisenmangelanämie ist die Ratio ≥ 50, bei der Sichelzellanämie < 50. Das RbcHb wird berechnet durch die Subtraktion des RetHb vom Gesamt-Hb.

15.6.6.6 Hinweise und Störungen

Bestimmungsmethode

CHr und Ret-He sind mit den Hämatologie Analyzern Advia 120 von Siemens und Sysmex Analyzern zu bestimmen, der CHCMr nur am Advia 120. Alle Angaben beziehen sich deshalb auf diese Systeme.

Stabilität

Bei Lagerung der Blutprobe nimmt nach 60 min das MCVr zu und die CHCMr ab, aber CHr und Ret-He sind für mindestens 24 h stabil /31/.

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15.7 Hämoglobinopathien

Elisabeth Kohne

Das Hämoglobin (Hb) des Menschen besteht aus der Hauptkomponente HbA und mehreren Minorkomponenten, von denen nur das HbA2 genetisch determiniert ist, während die sogenannten modifizierten Hämoglobine HbA1a, HbA1b und HbA1c unter exogenen Einflüssen erst sekundär im Erythrozyten entstehen.

Während der Fetalzeit werden zunächst die embryonalen Hämoglobine Hb Gower 1, Hb Gower 2 und Hb Portland gebildet, die ab der 5.–7. Gestationswoche von HbF abgelöst werden. Reife Neugeborene haben etwa 80 % HbF und 20 % HbA. Im Verlauf des ersten Lebenshalbjahrs vollzieht sich allmählich die Umschaltung von Hb, bis nach dem 12. Lebensmonat der bleibende Status des Erwachsenen erreicht wird.

Gemeinsames Strukturprinzip aller Hämoglobine ist deren Zusammensetzung aus 4 Häm Molekülen und den Proteinanteilen (Globin), bestehend aus jeweils zwei Paaren identischer Polypeptidketten /123/. Siehe Tab. 15.7-1 – Normale menschliche Hämoglobine.

Der Begriff Hämoglobinopathien umfasst hereditäre Störungen der Bildung des Blutfarbstoffs, die je nach zugrunde liegendem Defekt klassifiziert werden als

  • Thalassämie Syndrome (Synthesemangel des normalen Hämoglobins)
  • Anomale Hämoglobine (Strukturvarianten des Hb).

Synthesemangel und Strukturvarianten des Hb werden durch Mutationen und/oder Deletionen der α- und β-Gene verursacht. Wenn Gendefekte eine mangelnde Synthese von Hämoglobin verursachen, kommt es zur Ausbildung einer Thalassämie. In diesen Fällen ist die Hämoglobinstruktur normal. Kommt es zur Bildung von Hb mit veränderter Struktur, resultiert ein anomales Hb. Es gibt auch Misch- oder Kombinationen beider Störungen, z.B. HbSC-Krankheit, HbS-β-Thalassämien oder HbE-α-Thalassämien. Die Erscheinungsformen, die Pathophysiologie und das Krankheitsbild der einzelnen Hb-Muster ist unterschiedlich und somit auch eine klare Einteilung schwierig /24/.

Epidemiologie der Hämoglobinopathien

Hämoglobinopathien gehören mit etwa 7 % Anlageträgern als häufigste monogene Erbkrankheiten zu den großen Gesundheitsproblemen der Weltbevölkerung. Ursprünglich erstreckten sich die wichtigen Verbreitungsgebiete über den Mittelmeerraum, weite Teile Asiens und Afrikas. Von dort ausgehend hat die globale Migration eine Verbreitung in alle Welt gezeitigt. In weiten Teilen Europas werden die Hb-Defekte heute als endemische Krankheiten eingestuft (Tab. 15.7-2 – Prävalenz der Hämoglobinopathie-Genträger) /45/. Auch in Deutschland haben die Hämoglobinopathien erheblich zugenommen und stellen ein Versorgungs relevantes Problem in der Medizin dar. Am häufigsten sind die Thalassämien und Sichelzell Syndrome /456/. Epidemiologische Studien zur Prävalenz gibt es nicht, jedoch wird rechnerisch auf der Basis derzeit verfügbarer Anhaltszahlen von 1 % Genträgern einer Hämoglobinopathie bezogen auf die heute in Deutschland lebende Bevölkerung ausgegangen /4/. Eine Zusammenstellung der hierzulande wichtigsten Hämoglobinopathien in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit befindet sich in Tab. 15.7-3 – Wichtige Hämoglobinopathien in Deutschland /5/.

Labordiagnostik

Art und Umfang der Labordiagnostik ergeben sich je nach der Fragestellung, die aus der Anamnese (angeborene Störung/Erkrankung, Familie, ethnische Abstammung), sowie aus den klinischen und hämatologischen Daten resultiert. Bei im Referenzbereich liegenden Werten aller hämatologischen Parameter ist eine Hämoglobinopathie ausgeschlossen. Wenn andererseits die Hämoglobin Analyse bei ganz bestimmten hämatologischen Befunden im Referenzbereich liegende Werte ergibt, muss eine Erweiterung und Spezifizierung des labordiagnostischen Programms in Betracht gezogen werden.

Besonderheiten

Bemerkenswert und typisch für Einwanderungsländer wie Deutschland ist die große Vielfalt der Defekte und hämatologischen Symptome, entsprechend der sehr differenten ethnischen Zusammensetzung der heute hierzulande lebenden Bevölkerung. Die Erscheinungsformen variieren von leichten Hypochromien und Mikrozytosen mit oder ohne Anämie bis hin zu komplexen Krankheitsbildern mit vielfältigen Konstellationen /5/. Diese Besonderheiten bedeuten für die Labormedizin eine große Herausforderung hinsichtlich Methodenarsenal und Kenntnissen zur Interpretation der Befunde.

15.7.1 Indikation

  • Mikrozytär hypochrome Anämien nach Ausschluss eines Eisenmangels.
  • Chronisch hämolytische Anämien.
  • Gefäßverschlusskrisen ungeklärter Ätiologie bei Patienten aus HbS- und/oder HbC-Verbreitungsgebieten.
  • Durch Medikamente induzierte Anämien.
  • Hämatologisch bedingte Erythrozytosen und/oder Zyanosen.
  • Hydrops fetalis Syndrom ungeklärter Ätiologie.
  • Genetische- und präventivmedizinische Fragestellungen: Familienuntersuchung, Partnerdiagnostik für genetische Beratungen
  • Pränatale Diagnostik.

Die ungezielte Durchführung einer Hämoglobinanalyse bei jeder Anämie ist nicht sinnvoll und wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen, schon gar nicht bei Personen ohne Migrationshintergrund.

Indikation zur DNA-Analyse

Im Rahmen der Thalassämie-Diagnostik:

  • Genetische Typisierung der β-Thalassämia major.
  • Molekulare Diagnose der β-Thalassämia intermedia.
  • Kombination verschiedener Thalassämie Formen oder von Thalassämien mit Hb Strukturanomalien.
  • Verdacht auf stumme β-Thalassämie Anlageträger.
  • Diagnostik der α-Thalassämien.
  • Genetische und präventivmedizinische Fragestellungen.

Diagnostik von Hb-Strukturanomalien:

  • Identitätsbestimmung seltener Anomalien.
  • Zur Klärung bei gegebenem Verdacht, jedoch fehlender elektrophoretischer oder chromatographischer Trennung.
  • Bei genetischen und präventivmedizinischen Fragestellungen.
  • Kombinationsformen verschiedener Hämoglobinopathien untereinander oder mit Thalassämien.

DNA-Analysen sollen bzw. dürfen nur bei Fragestellungen durchgeführt werden, die mit der konventionellen Hb-Analyse nicht geklärt werden können.

15.7.2 Bestimmungsmethode

Die Laboruntersuchungen der Hämoglobinopathien bestehen aus der hämatologischen Basisdiagnostik, klinisch-chemischen Untersuchungen und Analytik der Hämoglobine. Bei gegebener Indikation werden molekulargenetische Untersuchungen zur Bestimmung des jeweils zugrunde liegenden Gendefektes eingesetzt. Das Standardprogramm zur Labordiagnostik von Hämoglobinopathien ist aufgelistet in Tab. 15.7-4 – Standardprogramm zur Labordiagnostik von Hämoglobinopathien.

Bei Bedarf kann die Zuhilfenahme eines Speziallabors erforderlich sein, zumal auch aus wirtschaftlichen Gründen selbst größere Labors den personellen Aufwand und die Ausstattung auf diesem speziellen, ursprünglich rein hämatologischen Gebiet in Grenzen halten werden.

Als Untersuchungsplan für das praktische Vorgehen zur kompletten Analytik der Hämoglobinopathien hat sich der ein Stufenplan bewährt. Siehe Abb. 15.7-1 –Plan für die stufenweise Labordiagnostik der Hämoglobinopathien

15.7.2.1 Hämatologische Basisdiagnostik

Bei Verdacht auf eine Hämoglobinopathie ist die Bestimmung des vollständigen roten Blutbildes mit Retikulozytenzahl, Hb-Wert, Erythrozytenzahl und den Erythrozytenindices MCH, MCV und MCHC obligat. Gute Hinweise liefert auch der RDW Wert (red cell distribution width; Erythrozytenverteilungsbreite), der als Maß für eine Anisozytose beim Eisenmangel meist erhöht ist, während bei den Minor Thalassämien normale RDW Werte gesehen werden (Abb. 15.7-2 – Anwendung der RDW Werte zur Diagnostik der Thalassämia minor).

Diagnostisch wertvolle Informationen werden durch die Beurteilung von Präparaten des Blutausstrichs erhalten, weil die Thalassämien und die meisten Hämoglobinstruktur-Anomalien charakteristische Veränderungen der Erythrozytenmorphologie aufweisen /2/.

15.7.2.2 Klinisch-chemische Untersuchungen

Diese umfassen Parameter des Eisenstatus, den Wert des Ferritins und die Transferrinsättigung, des weiteren (je nach Fragestellung) die Hämolyse-Parameter Bilirubin, Haptoglobin, LDH und den Coombs-Test.

15.7.2.3 Hämoglobinanalysen

Siehe auch Lit. /2789101112/

Hb-Elektrophorese

Bei der üblichen Routine-Elektrophorese (Mikrozonen-Elektrophorese) werden Zelluloseazetatfolien als Trägermedium und ein alkalisches Tris-EDTA-Borat-Puffersystem mit pH 8,5 verwendet (Abb. 15.7-3 – Trennschema normaler und anomaler Hämoglobine; Mikrozonen-Elektrophorese). Hiermit werden nicht normale Hämoglobinfraktionen allerdings nur dann von den normalen abgetrennt, wenn ein elektrischer Ladungsunterschied gegeben ist. Mit der sauren Agarosegel-Elektrophorese in Maleinsäurepuffer pH 6,1 als ergänzende Elektrophorese Technik können Hämoglobine getrennt werden, die im alkalischen System gemeinsam wandern.

HPLC

Eine optimale Methode zur Trennung normaler und abnormer Blutfarbstoffe ist die HPLC (Kationen- und Anionenaustauscher-Systeme). Die HPLC ist auch die Methode der Wahl für quantitative Analysen aller trennbaren Hb-Fraktionen.

15.7.2.4 Bestimmung von HbF und HbF-Zellen

Die klassische Methode zur exakten Quantifizierung des HbF-Anteils ist die Alkalidenaturierung. Zum Nachweis von HbF-Zellen auf in Blutausstrichen (Frage fetomaternale Transfusion, unklare HbF Vermehrungen) dient die Säure-Elutionsmethode /2/. HbA wird aus den Erythrozyten durch einen Zitronensäure-Puffer bei pH 3,2 eluiert während HbF in der Zelle verbleibt und fixiert wird. Im Falle eines negativen HbF-Nachweises ist der Vorgang der Alkalidenaturierung nicht erforderlich. HbF-Bestimmungen können mit hinreichender Genauigkeit auch über die HPLC durchgeführt werden, hierbei werden höhere Werte als mit der Alkalidenaturierung gemessen. Siehe Abb. 15.7-3 – Trennschema normaler und anomaler Hämoglobine; Mikrozonen-Elektrophorese.

15.7.2.5 HbS-Löslichkeitstest

Der Löslichkeitstest ist notwendig zur Abgrenzung des HbS von anomalen Hämoglobinen mit identischer Wanderung in der Elektrophorese, wie HbD oder HbG. In einem Hämolysat zu dem Dithionit zur Entfernung von O2 hinzugefügt wurde, ist HbS das einzige Hämoglobin das präzipitiert und eine deutliche Trübung bewirkt /2/.

15.7.2.6 Identifizierung anomaler Hämoglobine

Die häufigen Varianten HbS, HbC, HbE und HbD repräsentieren in der täglichen Laborpraxis mehr als 90 % aller Strukturanomalien des Hb /2781011/. Diese können in der Regel durch die Auswertung der elektrophoretischen Wanderung bzw. der chromatographischen Eigenschaften direkt diagnostiziert werden, bei Bedarf unter Einbeziehung chemischer Testverfahren, z.B. des Löslichkeitstests. Zur Identifizierung der seltenen pathologischen Varianten des Hb werden DNA Analysen eingesetzt.

Molekulargenetische Untersuchungen sollten sich aber auf diejenigen Anomalien von Hb beschränken, die mit den Methoden der konventionellen Hb-Analyse nicht geklärt werden können.

15.7.2.7 DNA-Analysen

Die molekulargenetischen Verfahren sind Tab. 15.7-5 – Basisinformation zu den molekulargenetischen Methoden aufgeführt /13/.

15.7.3 Untersuchungsmaterial

Es werden antikoagulierte Erythrozyten benötigt. Optimal ist EDTA-Blut (in beschichteten Probengefäßen), das bei Bedarf gleichzeitig für die Bestimmung des Blutbildes einschließlich der Erythrozytenmorphologie und für die Erythrozytenenzyme geeignet ist. EDTA-Blut kann ohne wesentlichen Qualitätsverlust einige Tage gelagert werden. Für die routinemäßigen Untersuchungen sind 5 ml Blut ausreichend, größere Volumina werden bei starker Anämie benötigt.

15.7.4 Referenzbereich

Siehe Tab. 15.7-6 – Referenzbereich der Hämoglobine.

15.7.5 Bewertung

Allgemein bedeutsame Kriterien sind das Alter des Patienten, die ethnische Abstammung, die Familienanamnese und die hämatologischen Befunde. Die Grundformen. der Hämoglobinopathien sind dargestellt in Tab. 15.7-7 – Grundformen der Hämoglobinopathien.

Die Bewertung einer Hämoglobin Analyse umfasst:

  • Die Beurteilung quantitativer Veränderungen der normalen Komponenten von Hb, wie sie in Form der HbA2- und/oder der HbF Vermehrung typisch sind für die Thalassämien.
  • Den Ausschluss oder die Sicherung einer anomalen Variante, im positiven Fall auch deren Identifizierung und Quantifizierung. In jedem Fall muss die Frage geklärt werden, ob das nachgewiesene anomale Hämoglobin für die Symptomatik der Krankheit verantwortlich ist oder einen Zufallsbefund ohne krankmachende Bedeutung darstellt.

15.7.5.1 Thalassämie Syndrome

Dieser Begriff beinhaltet alle Mangelzustände der normalen Hämoglobinsynthese. Thalassämien sind weltweit die häufigsten monogenetischen Erkrankungen. Mutationen der Globingene verursachen den Mangel oder das Fehlen von Globinketten und resultieren in einer Thalassämie. Die Mutationen erfolgen in den Genen, die alpha-, beta-, gamma- und delta-Globine kodieren. Insgesamt ist die Synthese von Hämoglobin gestört. Die verschiedenen Genotypen bei der Thalassämie verursachen unterschiedliche Phänotypen. Die Phänotypen variieren von der Thalassämia minor zur Thalassämia major mit milder bis schwerer Anämie. Ehepartner, die beide eine Thalassämie haben, spielen eine große Rolle in der Verbreitung der Thalassämien. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind eines Thalassämie-Ehepaars eine Thalassämia major erwirbt, beträgt 25 %. Unter autosomal rezessiven Bedingungen haben alpha- und beta-Thalassämien die größte Bedeutung. Heterozygote Thalassämieträger sind nicht komplett gesund, denn sie haben Symptome der mikrozytären hypochromen Anämie, die eine Differenzierung zwischen milder Thalassämie, Eisenmangelanämie und refraktärem Eisenmangel erfordert /10, 11, 14, 15, 16/.

15.7.5.1.1 α-Thalassämien

Die α-Thalassämien sind monogene genetische Erkrankungen und beruhen auf einem Defekt der α-Globingene auf dem kurzen Arm des Chromosoms 16. Hämoglobin (Hb) Bart’s hydrops fetalis ist die schwerste Form der α-Thalassämien. Auf der molekularen Ebene, resultieren die α-Thalassämien aus einer teilweisen (α+) oder kompletten (α0) Deletion oder seltener Mutation eines oder mehrerer Globingene (αα/αα).

Sie kommen vorwiegend in Afrika, den Arabischen Nationen, und in Südost-Asien vor. Sie werden klinisch manifest vor der Geburt. Siehe Tab. 15.7-8 – Zusammenstellung wichtiger Kriterien der α-Thalassämien.

Es gibt vier wichtige Krankheitsbilder der α-Thalassämie anhand der Gene die betroffen sind.

  • Die klinisch inapparente α-Thalassämia minima (heterozygote α+-Thalassemie, –α/αα). Sie wird diagnostiziert durch die milde Hypochromie bei einer geringen Erniedrigung des Hb-Wertes.
  • Die α-Thalassemia minor (heterozygote α0-thalassemia, ––/αα, or homozygote α+-Thalassemie, –α/–α) mit milder Anämie, Hypochromie und Mikrozytose.
  • HbH Erkrankung (compound heterozygote α+0-Thalassämie mit drei inaktiven α-Genen, ––/–α); moderate Hypochromie, hämolytische Anämie mit Splenomegalie. Anämische Krisen sind bedingt durch virale Infektionen und Oxidantien (Medikamente). Komplikationen sind kardiale Probleme, Gallensteine, Unterschenkelgeschwüre und ein Folsäuremangel.
  • Hb-Bart’s Hydrops fetalis (homozygote α0-Thalassämie) ist die schwerste Form der α-Thalassämien mit schwerer hämolytischer Anämie schon im Uterus bedingt durch einen Synthesemangel der α-Globinketten (––/––). Der Hydrops fetalis ist mit dem Leben nicht vereinbar. Sind beide, Vater und Mutter des Kindes Träger eines α-Globingendefektes haben sie zu 25 % die Chance ein Kind mit Hb-Bart’s Hydrops fetalis zu zeugen, und das bei jeder Schwangerschaft /18/.
15.7.5.1.2 β-Thalassämien

Die β-Thalassämien beruhen auf einer insuffizienten (β+) oder abwesenden (β0) Bildung von β-Globinketten (Tab. 15.7-9 – Zusammenstellung wichtiger Kriterien der β-Thalassämien). Die Ursachen sind Mutationen im β-Globingen. Die meisten Patienten kommen aus dem Mittelmeerraum, Südosteuropa, den Arabischen Ländern und Asien. Die hämatologischen Symptome manifestieren im Alter von 3–6 Monaten aufwärts.

15.7.5.1.3 β-Thalassämia minor

Ausgangspunkt dieser heterzygoten β-Thalassemie für die Bewertung bildet das rote Blutbild mit den Erythrozyten-Indices MCV und MCH. Die signifikanten Laborparameter der β-Thalassämia minor sind erhöhte HbA2- und/oder erhöhte HbF-Werte. Liegt der MCH-Wert unter 27 pg und der HbA2-Wert über 3,5 % wird die Diagnose der heterozygoten β-Thalassämie (Thalassämia minor) gestellt. Die Mehrzahl der β-Thalassämie-Anlageträger haben MCH Erniedrigungen auf 23–19 pg und HbA2-Werte von 4,0–6,0 %, HbA2 Erhöhungen auf 6,5–8,0 % kommen vor. In etwa 30 % findet sich gleichzeitig eine HbF-Vermehrung auf 1–3 %, seltener auf über 3,0–15 %. Zu beachten sind die alterssabhängig höheren HbF-Werte bei jungen Kindern mit β-Thalassämia minor. Der Eisenstatus (Ferritin, Transferrin-Sättigung) ist in der Regel normal. Ausnahmen, d.h. ein Eisenmangel bei der β-Thalassämia minor kann bei Kindern und in der Schwangerschaft vorkommen. Ein gleichzeitiger Eisenmangel kann den HbA2-Wert vorübergehend falsch zu niedrig erscheinen lassen. Im Zweifel ist eine Kontrolle nach Ausgleich des Eisenmangels erforderlich.

15.7.5.1.4 β-Thalassämia major

Es handelt sich um eine homozygote oder gemischt heterozygote β-Thalassemie Diese Erkrankung manifestiert sich frühestens ab einem Alter von etwa drei bis fünf Monaten. Die Anämie ist bei Diagnosestellung variabel, meist liegt der Hb Wert unter 8 g/dl. Die Anämie ist immer hypochrom mit einem MCH-Wert ≤ 22 pg. Der MCV liegt zwischen 50 und 60 fl. Im Blutausstrich sieht man eine, thalassämische Erythrozytenmorphologie mit einer signifikanten Poikilozytose. Die Hämoglobinanalyse zeigt variable Anteile an HbA, HbF und HbA2. Ganz generell kann man davon ausgehen, dass bei einer HbF-Erhöhung zwischen 20 und 98 % zusammen mit der typischen klinisch-hämatologischen Symptomatik eine Thalassämia major oder Thalassämia intermedia vorliegt.

Der Transfusionsstatus des Patienten muss in die Beurteilung einbezogen werden. Ein zunehmend häufigeres diagnostisches Problem ergibt sich bei Patienten mit behandelter Thalassämia major, d.h. unter Dauertransfusionstherapie. Hierbei lassen sich die spezifisch-diagnostischen Laborparameter der Major Thalassämie nicht mehr nachweisen, vielmehr wird ein Normalbefund erhoben. Eine Diagnosesicherung ist nur mittels DNA-Analyse möglich. Diese Fragestellung betrifft vor allem jugendliche Patienten oder junge Erwachsene, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen.

15.7.5.1.5 β-Thalassämia intermedia

Der Begriff kennzeichnet zunächst eine klinische Diagnose bei Patienten mit einem Hämoglobinmuster wie bei der Thalassämia major, die durch einen fehlenden oder geringeren Transfusionsbedarf auffallen. Die diagnostische Abgrenzung zur Majorthalassämie erfolgt eine Zeit lang durch regelmäßige klinisch-hämatologische Kontrollen. Bei Bedarf wird eine DNA-Analyse durchgeführt. Dabei wird entweder eine hohe Restaktivität der β-Globingene nachgewiesen oder man findet eine klassische Thalassämia major, jedoch mit zusätzlichen Einflussfaktoren, das sind vor allem eine hereditäre HbF-Persistenz oder eine α-Thalassämie.

15.7.5.1.6 Diagnostische Bedeutung einer HbF-Vermehrung

Eine klinisch harmlose, häufig angeborene HbF-Vermehrung ist die hereditäre HbF-Persistenz. Auf die spezifisch diagnostische Bedeutung erhöhter HbF-Werte bei den β-Thalassämien wurde hingewiesen. Auch die δβ-Thalassämien sind durch hohe HbF-Werte gekennzeichnet. Bei der Sichelzellkrankheit hat ein hoher HbF-Wert eine positive prognostische Bedeutung. Unabhängig von den Hämoglobinopathien können HbF-Vermehrungen als Sekundärphänomen bei zahlreichen hämatologischen Erkrankungen vorkommen /2/.

15.7.5.2 Anomale Hämoglobine (Hämoglobin­struktur­varianten)

Diese Gruppe der autosomal dominant vererbten Hämoglobinopathien beruht auf Defekten in der Struktur von veränderten Aminosäuresequenzen in den α- oder β-Ketten. Der Kliniker muss unterscheiden zwischen klinisch harmlosen Hämoglobinanomalien und denjenigen, die eine Erkrankung verursachen. Letztere werden in folgende vier Gruppen eingeteilt /2, 5, 10, 11, 17/:

  • HbS: Varianten mit der Tendenz zur Aggregation unter Bildung von Sichelzellen, z.B. Sichelzell Syndrom.
  • HbE: Varianten mit einer abnormen Hämoglobinbildung.
  • Instabile Hämoglobine, z.B. Hb Köln: Varianten mit der Tendenz zur Präzipitation und Hämolyse.
  • Varianten mit einem abnormen Transportvermögen für O2 und kongenitale Polyzythämien (Hb Johnstown) oder Varianten mit kongenitaler Zyanose wie beispielsweise abnorme Methämoglobine und HbM Anomalien (HbM Iwate).

Die Formen in den letzten beiden Gruppen verursachen eine schwere Erkrankung bei heterozygoten Merkmalsträgern.Bei homozygoten Merkmalsträgern ist die Klinik fatal. Die klinisch bedeutsamsten anomalen Hämoglobine sind HbS, HbE und HbC. Die große Gruppe der seltenen Hämoglobinopathien kommen über die gesamte Welt verstreut isoliert vor. Sie sind meistens vergesellschaftet mit Hämoyse, Polyzythämie oder Zyanose. An solche Hämoglobinopathien sollte gedacht werden, wenn keine andere mögliche hämatologische Erkrankung sich diagnostisch ergeben hat. Sie stehen in der Diagnostik der Hämoglobindefekte an erster Stelle und umfassen mehr als 90 % der Anomalien. Im Routinelabor weniger alltäglich sind HbD- und HbG-Varianten, HbO Arab, HbG und HbJ. Alle anderen Blutfarbstoffdefekte, z.B. die instabilen Hämoglobine (Hb Köln, Hb Zürich) sind extrem selten, sie kommen bei Deutschen und Ausländern mit gleicher Frequenz, d.h. nur bei Einzelpersonen oder in einzelnen Familien vor und sind nicht Bestandteil der Standard Hämoglobindiagnostik /5/. Siehe auch Tab. 15.7-10 – Klinische Klassifikation der wichtigsten pathologischen Hämoglobinvarianten.

15.7.5.2.1 HbS und Sichelzellkrankheit

Der Begriff Sichelzell Krankheit umfasst den gesamten Formenkreis, der durch das pathologische HbS bedingten Hämoglobin Krankheiten (mit einem HbS-Anteil von über 50 %). Folgende im Zusammenhang mit dem Sichelzell-Hb verursachten Krankheiten werden unter dieser Bezeichnung zusammengefasst: Die homozygote HbS-Hämoglobinopathie (HbSS), die HbS-β-Thalassämie (HbS-β+- oder HbS-β0), die Sichelzell HbC-Krankheit (Hb SC) und die selteneren Kombinationsformen HbSD, HbSO-Arab und HbS-Lepore. Die häufigsten Manifestationsformen der Sichelzell Krankheit sind die HbS-Homozygotie und die HbS-β0- und HbS-β+-Thalassämien /1, 2, 17/.

Kardinalsymptome und diagnostische Kriterien

Die klinischen Symptome beginnen vor der dem ersten Lebensjahr mit chronisch hämolytischer Anämie und Entwicklungsstörungen. Die wesentliche Symptomatik sind Schmerzkrisen (Sichelzellkrisen), die den Rücken, die Extremitäten, den Thorax, Abdomen und das zentrale Nervensytem betreffen. Auch sind die Patienten empfindlich für Infektionen. Die Präsenz von HbS ist die problematischste aller Hämoglobinopathien. Die Sichelzellen führen zu einer Verminderung der O2-Versorgung, Gefäßverschlüssen und Infarzierungen mit Nekose von Geweben und kommt in Organen vor (Haut, Leber, Milz, Knochen, Niere, Retina, Zentralnervensystem). Die chronisch hämolytische Anämie wird relativ gut toleriert. Aplastische Krisen mit schwerer Anämie werden nach viralen Infekten gesehen.

HbS wird primär mit der konventionellen Hb-Analyse diagnostiziert. Besondere Indikationen zur DNA-Analytik sind Kombinationsformen von HbS mit anderen Anomalien, mit β-Thalassämien oder α-Thalassämien und Fragestellung zur Pränataldiagnostik.

HbS-Heterozygotie

Heterozygote HbS-Träger sind klinisch nicht beeinträchtigt und haben ein normales Blutbild. Die Diagnose basiert auf dem Nachweis einer HbS Fraktion in typischer Position auf der Elektrophorese, deren mittels HPLC bestimmter quantitativer Anteil niedriger ist als der von HbA und im Mittel etwa 35–40 % vom gesamten Blutfarbstoff ausmacht. HbS Werte unter 30 % sind verdächtig auf einen gleichzeitig bestehenden Eisenmangel oder auf eine koexistierende α-Thalassämie. In beiden Fällen ist der MCH erniedrigt.

HbS-Homozygotie

Die Konzentration von Hb im Blutbild beträgt meistens 6–9 g/dl. Im Blutausstrich finden sich Sichelzellen und Targetzellen. Bei der Hb-Elektrophorese wird bei HbSS (homozygote Form) kein normales HbA nachgewiesen. Der Anteil von HbF variiert und liegt gewöhnlich bei 5–15 %. Höhere HbF-Anteile kommen oft vor.

HbS-β-Thalassämien

HbS-β-Thalassämien sind in Deutschland nicht selten. Das hämatologische Erscheinungsbild ähnelt demjenigen der Sichelzellkrankheit. Die Abgrenzungsmerkmale zur HbS-Homozygotie bestehen in einer Mikrozytose und Hypochromie. Die Differenzierung der HbS-βo-Formen von den HbS-β+-Formen erfolgt im einfachsten Fall durch den Nachweis einer HbA-Fraktion bei der HbS-β+-Kombination, während bei der HbS-β0-Form kein HbA vorhanden ist. Die Diagnose kann mittels Hb-Analyse oder molekulargenetisch gesichert werden (Tab. 15.7-11 – Diagnostische Charakteristika von Sichelzell-ß-Thalassämien).

Hinweise zu den HbS--β-Thalassämien:

  • Ein erhöhtes HbA2 bei HbS-Heterozygotie ist kein Merkmal für eine HbS-β-Thalassämie.
  • HbS-β-Thalassämien sind Sichelzell Krankheiten mit variablen klinischen Symptomen, sie dürfen nicht als eine Art Thalassämie gedeutet werden.
15.7.5.2.2 HbE und HbE-Krankheit

HbE ist eine häufige Hb-Variante in Südostasien. Das Krankheitsmuster ist der β-Thalassämie vergleichbar. HbE ist instabil, was bedeutet, dass eine Hämolyse bei viralen Infekten und bedingt durch Medikamente auftreten kann. HbE kommt oft mit einer Thalassämie vergesellschafet vor, was sich in einer schweren Form, vergleichbar der Major Form einer Hämoglobinopathie manifestiert /1, 2, 10, 11/.

HbE-Heterozygotie

Es besteht eine leichte, variable Hypochromie (MCH 25 pg) und Mikrozytose. Der Anteil an HbE liegt in der Regel bei 30–45 %, der Rest ist HbA. Das HbF ist nicht erhöht. Bei niedrigeren Konzentrationen an HbE muss immer an das gleichzeitige Vorkommen eines Eisenmangels oder einer α-Thalassämie gedacht werden.

HbE-Homozygotie (HbE-Krankheit)

Typisch ist die Hypochromie mit Mikrozytose (MCH 20 pg, MCV 65 fl) bei ausgeprägter Erythrozytose. Weiterhin Präsenz von reichlich Targetzellen. Der Anteil an HbE beträgt ca. 95 %; der Rest ist HbF und HbA2. Elektrophoretisch wandert HbE identisch mit HbO, HbC und HbA2. Molekulargenetische oder spezielle elektrophoretische, immunologische und chromatographische Methoden, insbesondere die HPL-Chromatographie erlauben eine Differenzierung dieser Anomalien.

HbE in Kombination mit anderen Anomalien

Die Kombination mit der β-Thalassämie (HbE-β-Thal), führt zu einer mittelschweren bis schweren hypochromen und dyserythropoetischen Anämie, die der Thalassämia intermedia bzw. Thalassämia major entspricht. In der Kombination mit der α-Thalassämie ist der Anteil an HbE, abhängig von der Zahl inaktiver α-Globingene, deutlich erniedrigt, die Hypochromie ist stärker ausgeprägt. Siehe auch:

15.7.5.2.3 HbC-Anomalie und HbC-Krankheit

HbC Homozygotie bzw. die HbC-Erkrankung verläuft vergleichbar der Sichelzell Erkrankung, ist aber weniger schwer im Verlauf. Eine variable hämolytische Anämie ist die meist dominierende Form. Heterozygote Merkmalsträger sind gesund /1, 2, 10, 11/.

HbC-Heterozygotie

Bei HbC Anlageträgern besteht keine Anämie. Targetzellen sind im Blutausstrich nachweisbar. Das MCHC ist erhöht. Auf der alkalischen Hb-Elektrophorese wandert die HbC-Fraktion in typischer Position identisch wie HbA2, der quantitative HbC-Anteil bei Anlageträgern macht 30–40 % vom Blutfarbstoff aus. Die Abgrenzung zu den Hämoglobinen mit identischer Wanderung, d.h. zu HbO und HbE wird mit der sauren Elektrophorese durchgeführt. Für quantitative Analysen wird die HPLC eingesetzt.

HbC-Homozygotie (HbC-Krankheit)

Im Blutbild sind überwiegend Targetzellen. Der Hb-Wert beträgt 100–120 g/l, die MCHC ist über 350 g/l. Auf der Hb-Elektrophorese findet sich nahezu 100 % HbC. Das HbF kann leicht erhöht sein. Siehe auch Tab. 15.7-12 – Klinische Klassifizierung der wichtigsten pathologischen Hämoglobinvarianten.

15.7.6 Hinweise und Störungen

Bestimmungsmethode

Die Zielsetzung zur Untersuchung von Hämoglobinopathien ist der Ausschluss oder die Bestätigung einer Thalassämie oder eines abnormen Hämoglobins. In der Regel sind die Elektrophorese, klinisch-chemische Laboruntersuchungen und zytologische Untersuchungen ausreichend zur Bestätigung einer Thalassämie. In einigen Fällen sind weiterführende Untersuchungen erforderlich, die in Speziallaboratorien durchgeführt werden. Das gilt auch für andere spezielle Untersuchungen (z.B. Methämoglobin), spektralanalytische Untersuchungen, Bestimmung der Sauerstoffaffinität und von 2,3-DPG.

Einflussgrößen

Das zur Diagnostik beauftragte Labor sollte über eine vorausgegangene Bluttransfusion informiert werden, da die Beurteilung der Ergebnisse hierbei besonders große Erfahrung voraussetzt. Im Zweifel ist eine Kontrolle nach Abbau der fremden Erythrozyten erforderlich.

Störfaktoren

Die unzureichende Entfernung von Serumproteinen führt zur Darstellung von Artefaktbanden, die meist anodenwärts von HbA sichtbar werden. Das gleiche gilt für Denaturierungsprodukte aus überalterten, verunreinigten oder hämolytischen Blutproben. Empfehlenswert ist es, bei allen Untersuchungsgängen normale Kontrollproben und nach Möglichkeit Referenz- und/oder Standardproben mitlaufen zu lassen.

Stabilität

Eine Kühlung des Untersuchungsmaterials ist, außer bei sehr hohen Außentemperaturen, nicht notwendig, sie kann für einige Fragestellungen sogar nachteilig sein. Ratsam ist ein möglichst kurzer bzw. zeitgünstiger Probentransport, der auch am Wochenende erfolgen kann, wenn das Empfängerlabor die Versorgung der Eingänge anbietet. Die Probenstabilität beträgt bei 8–12 °C 1 Woche für die Hämoglobinanalyse, für das Blutbild aber nur 24 h.

15.7.7 Pathophysiologie

Gemeinsame Ursache aller Hämoglobinopathien sind Mutationen und/oder Deletionen in den α- oder β-Globingenen. Bewirken die Gendefekte Störungen der Hb-Synthese, entstehen die Thalassämien. Hierbei ist die Struktur der Hämoglobine normal. Wenn Gendefekte Veränderungen der Hb-Struktur hervorrufen, entstehen die anomalen Hämoglobine. Zwischen den einzelnen Gruppen gibt es zahlreiche Kombinations- und Interaktionsformen (Tab. 15.7-7 – Grundformen der Hämoglobinopathien).

Thalassämie Syndrome /21415/

Gemeinsame Kriterien: Der Erbgang ist autosomal rezessiv. Nomenklatur und Einteilung der Thalassämien richten sich nach der jeweils vom Synthesedefizit betroffenen Globinkette. Gemeinsames Merkmal ist eine reduzierte Synthese des vom Defekt betroffenen Kettentyps mit Verlust der Synthesebalance. Die insgesamt resultierenden Pathomechanismen prägen das hämatologische Bild:

  • Die Verminderung der Hb-Synthese verursacht eine Anämie.
  • Bei den schweren Formen wird die Anämie vor allem durch eine ineffektive Erythropoese und Hämolyse hervorgerufen.
  • Der Mangel an Substrat bewirkt eine verminderte Hämoglobinisierung der Erythrozyten mit Hypochromie und Mikrozytose.

Heterozygote Träger der Thalassämie sind nicht vollständig gesund, haben vielmehr eine in jedem Fall Klärungs bedürftige Symptomatik mit leichter, Eisen refraktärer hypochrom mikrozytärer Anämie.

Homozygote oder gemischt-(compound-) heterozygote Major-Formen gehen mit schweren, hypochrom hämolytischen Anämien und komplexen Krankheiten einher.

α-Thalassämien /1415/

Den α-Thalassämien liegt ein Synthesedefizit an α-Globinketten zugrunde. Die molekulare Basis sind partielle (α+) oder totale (α0) Deletionen, seltener Mutationen eines oder mehrerer der vier α-Globingene (αα/αα). Je nach der Anzahl der vom Aktivitätsverlust betroffenen Gene gibt es vier α-thalassämische Erscheinungsbilder, die sich sämtlich bereits perinatal manifestieren (Tab. 15.7-8 – Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien der α-Thalassämien):

  • Die klinisch inapparente α-Thalassämia minima (heterozygote α+-Thalassämie; −α/αα) erkennbar an einer leichten Hypochromie bei kaum messbar erniedrigten Hb Werten.
  • Die α-Thalassämia minor (heterozygote α0-Thalassämie; −−/αα) oder homozygote α+-Thalassämie (−α/−α) mit einer leichten Anämie, Hypochromie und Mikrozytose.

Bei der HbH-Krankheit (compound heterozygote α+0-Thalassämie) mit drei inaktiven α-Genen (−α/−−) wird die Pathophysiologie hervorgerufen einerseits durch den Hb-Synthesemangel, andererseits durch das instabile Überschuss-Hb HbH, das aus Tetrameren der β-Ketten (β4) aufgebaut ist. Daraus resultiert ein intermediäres Krankheitsgeschehen mit einer hypochrom hämolytischen Anämie und Splenomegalie. Krisenhafte Anämien kommen vor bei viralen Infekten und durch oxidative Noxen (Medikamente). Komplikationen sind kardiale Probleme, Gallensteine, Unterschenkelgeschwüre und ein Folsäuremangel.

Das Hb Bart’s Hydrops fetalis Syndrom (homozygote α0-Thalassämie; −−/−−) ist ein schon intrauterin ablaufender Hb-Synthesedefekt. Hierbei besteht der Blutfarbstoff überwiegend aus dem nicht zur Sauerstoffbindung befähigten d.h. funktionslosen γ-Kettentetramer Hb Bart’s (γ4). Das Syndrom ist daher im Prinzip nicht mit dem Leben vereinbar. Die blassen und generalisiert ödematösen Kinder erkranken bereits intrauterin im letzten Drittel des Fetalalters an einer schwersten hämolytischen Anämie mit Hydrops und Aszites und sterben ohne Therapie meistens vor oder kurz nach der Geburt (Tab. 15.7-8 – Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien der α-Thalassämien).

β-Thalassämien /214/

Die β-Thalassämie Syndrome resultieren aus Defiziten der Synthese der β-Globinketten. Molekulare Ursache sind Mutationen der β-Globingene. Die meisten Patienten stammen aus den Mittelmeerländern, aus Südosteuropa, Arabien und Asien. Die hämatologischen Veränderungen manifestieren sich frühestens ab dem Lebensmonat 3–6. Die Heterogenität der Erscheinungsformen resultiert aus der großen Zahl verschiedenen Mutationen, die jeden Schritt der Genexpression betreffen können, mit differenten pathophysiologischen Auswirkungen. Je nach teilweisem oder vollständigem Ausfall der Synthese von β-Ketten werden β+- oder β0-Thalassämien unterschieden (Tab. 15.7-9 – Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien der β-Thalassämien).

Thalassämia minor: Der Hb-Synthesemangel verursacht die typische hypochrome, mikrozytäre Anämie leicht gradiger Ausprägung, d.h. der Hb-Wert ist gering erniedrigt oder liegt im unteren Referenzbereich.

Thalassämia major: Die homozygote β-Thalassämie ist eine schwere Erkrankung (Thalassämia major). Hierbei werden einerseits zu wenig β-Ketten gebildet, auch werden die nicht betroffenen α-Ketten im Überschuss produziert. Der β-Kettenüberschuss bewirkt bereits in den erythroiden Knochenmark Vorstufen deren vorzeitigen Untergang und somit die hochgradig ineffektive Erythropoese. Das Korrelat dieser Pathomechanismen ist die parallel zur Hb-Umschaltung beginnende schwerste Anämie, die unbehandelt in wenigen Jahren zum Tode führt. Als bedrohliche Komplikation besteht eine Verwertungsstörung für Eisen und erhöhte Eisenresorption. Im Krankheitsverlauf entwickelt sich deshalb und in Folge der obligaten Therapie durch Transfusionen eine Hämosiderose mit multiplen Funktionsdefekten der Organe. Siehe auch Tab 7.1-9 – Eisenüberladung primär nicht bedingt durch ein Störung der Hepcidin-Ferroportin-Achse.

Thalassämia intermedia: Die mittelschwere Thalassämia intermedia kann sowohl durch eine milde homozygote als auch eine ungewöhnlich schwere heterozygote β-Thalassämie verursacht werden, wobei die hämatologische Manifestation durch die Mitvererbung von bestimmten genetischen Besonderheiten bedingt ist.

δβ-Thalassämien: Aufgrund einer Gendeletion werden δ- und β-Ketten vermindert oder gar nicht gebildet. Die heterozygoten Formen haben eine typische Thalassämia minor Konstellation mit auf 5–10 % erhöhtem HbF, aber eher niedrigem HbA2. Homozygote δβ-Thalassämien verursachen ein Intermedia Syndrom, weil über eine Reaktivierung der γ-Ketten-Synthese mittlere Hb-Werte aufrecht erhalten werden.

Hb Lepore-Anomalien: Hb Lepore ist ein anomales Hb, dessen nicht-α-Kette ein Fusionsprodukt von δ- und β-Ketten-Anteilen darstellt. Hierbei ist die Hb-Synthese insgesamt deutlich reduziert. Klinisch-hämatologisch resultiert ein Bild wie bei der β-Thalassämie. Homozygotie für Hb Lepore oder die Kombination Hb Lepore/β-Thalassämie gleicht der Thalassämia major, während die heterozygote Hb Lepore-Konstellation der Thalassämia minor entspricht.

Anomale Hämoglobine (Hämoglobinstrukturvarianten) /124/

Gemeinsame Kriterien: Diese Gruppe von autosomal dominant vererbten Hb-Defekten entstehen auf der Basis fehlerhafter genetischer Codes als Produkte einer veränderter Aminosäurensequenz oder von Deletionen der Baustein der α- und β-Ketten des Hb. Klinisch harmlose müssen von krankmachenden Hb-Anomalien unterschieden werden. Letztere werden je nach ihren pathophysiologischen Auswirkungen in fünf gut abgrenzbare Gruppen unterteilt (Tab. 15.7-10 – Klinische Klassifizierung der wichtigsten pathologischen Hämoglobinvarianten).

Molekularbiologische Grundlagen: Mehr als 90 % der über 1.100 bislang entdeckten Hb-Varianten werden durch Punktmutationen bzw. durch eine Missense Mutation in einem der Globingene verursacht. Des weiteren gibt es wenige Varianten mit elongierter oder verkürzter Globinkette durch Mutationen des normalen Terminatorcodons bzw. durch Nonsense- und Frameshift-Mutationen im dritten Exon des β-Globin-Gens. Fusionsgene zwischen eng benachbarten Genen verursachen Fusionsproteine, z.B. Hb Lepore, das auch zu den β-Thalassämien in Beziehung steht.

HbS und Sichelzellkrankheit: Die Pathophysiologie wird durch HbS verursacht, dessen Strukturdefekt besonders unter Sauerstoffentzug eine Aggregationsneigung der Hb-Moleküle hervorruft. Infolgedessen nehmen die Erythrozyten eine Sichelform an, verlieren ihre Verformbarkeit und verändern ihre rheologischen Eigenschaften. Das Krankheitsbild ist durch eine Vielfalt phänotypischer Ausprägungen gekennzeichnet, von denen die homozygote Sichelzellkrankheit und die Sichelzell-β-Thalassämien die schwergradige Manifestation aufweisen. Die sich nach dem 1. Lebenshalbjahr entwickelnde klinische Symptomatik besteht aus zwei markanten Symptomenkomplexen: Der Gefäßverschlusskrankheit mit multiplen Gewebe- und Organschäden und der chronisch hämolytischen Anämie.

HbE-Anomalie und HbE-Krankheit: Charakteristisches Merkmal ist die quantitativ reduzierte Hb-Produktion d.h. HbE manifestiert sich ähnlich den β-Thalassämien. HbE ist außerdem leicht instabil, so dass unter dem Einfluss oxidativer Substanzen Hämolysen ausgelöst werden.

HbC-Anomalie und HbC-Krankheit: Die Pathophysiologie des HbC beruht ebenso wie bei HbS auf einer gestörten intrazellulären Löslichkeit von HbC mit intraerythrozytärer Kristallbildung und erhöhter Neigung zur Zellaggregation.

Kombinationen von anomalen Hämoglobinen mit Thalassämien: Diese Kombinationsformen bilden eine spezielle Krankheitsgruppe. Die größte praktische Bedeutung haben die Kombinationen von β-Thalassämie und β-anomalen Hämoglobinen. Hierbei kommt es auf Grund der Interaktion der unterschiedlichen pathophysiologischen Effekte zu charakteristischen biochemischen Konstellationen bzw. klinisch hämatologischen Syndromen. Der Nachweis einer Genanlage für Thalassämie darf nicht dazu führen, das Krankheitsbild als eine Art Thalassämie zu deuten, denn klinisch spielt die Komponenten der Thalassämie keine Rolle.

Hämoglobinopathien mit gestörter Sauerstofftransportfunktion: In dieser Gruppe werden drei Formenkreise voneinander abgegrenzt:

a) Anomalien in permanentem Zustand an Methämoglobin (HbM-Anomalien).

b) Anomalien mit erhöhter Sauerstoffaffinität.

c) Anomalien mit erniedrigter Sauerstoffaffinität.

Merkmale der unter b genannten Hämoglobinopathien sind eine Polyglobulie und/oder Zyanose. Die Gruppe c geht mit Anämie und Zyanose einher. Wichtige Merkmale anomaler Hämoglobine gibt an Tab. 15.7-12 – Charakteristische Merkmale der wichtigsten anomalen Hämoglobine.

Instabile Hämoglobine: Hierbei rufen Substitutionen von Aminosäuren eine Instabilität der Hb-Struktur hervor, wodurch der anomale Blutfarbstoff spontan, meistens jedoch unter der Einwirkung oxidativer Substanzen (Medikamente) oder auch bei Virusinfektionen innerhalb der Erythrozyten denaturiert. Differente Molekül Strukturen der mehr als 150 verschiedenen instabilen Hämoglobine bewirken mehr oder weniger unterschiedliche Pathomechanismen bzw. Erkrankungen. Die bekannteste und häufigste Anomalie ist Hb Köln, andere Beispiele in der hiesigen Bevölkerung sind Hb Tübingen, Hb Presbyterian, Hb Freiburg und Hb Zürich.

Die klassische Symptomatik besteht in der chronischen hämolytischen Anämie mit Heinz-Körper Erythrozyten und Ausscheidung eines braunen Farbstoffes im Urin (Mesobilifuszinurie).

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15.8 Erythrozyten-Enzyme

Elisabeth Kohne

Erythrozyten-Enzyme haben eine Schlüsselfunktion in der erythrozytären Stoffwechselregulation. Der Mangel an Enzymen beeinträchtigt die Energiebereitstellung und kann über eine verkürzte Lebenszeit der Erythrozyten hämolytische Anämien verursachen /1, 2, 3/.

Den meisten Enzymdefekten liegen nicht quantitative Defizienzen, sondern analog zu den Hämoglobinopathien anomale Enzymproteine (Enzymopathien) zugrunde. Aufgrund veränderter funktioneller Eigenschaften kommt es zur beschleunigten Inaktivierung von Enzymen, gleichbedeutend mit einer reduzierten oder fehlenden Enzymaktivität. Genetische Ursache der Enzymopathien sind Mutationen im Bereich der kodierenden Gene. Die meisten Enzymdefekte werden autosomal oder Geschlechts gebunden (X-chromosomal) rezessiv vererbt. Heterozygote Anlageträger weisen eine reduzierte Enzymaktivität auf, sind aber in der Regel nicht krank.

Homozygot (oder compound heterozygot) vererbte Enzymopathien können sich mit diversen klinischen Erscheinungsbildern präsentieren, wobei die hämolytischen Anämien die größte Gruppe bilden. Andere wichtige Formen der Manifestation sind Polyglobulien (Erythrozytosen), des weiteren Syndrome mit Entwicklungsstörungen sowie schwer gradige neurologische Defekte /3/. Die Enzymopathien sind in der Mehrzahl als angeborene Krankheiten labordiagnostisch ab dem Neugeborenenalter nachweisbar.

Die wichtigsten Enzymdefekte der Erythrozyten sind:

  • Pyruvatkinase (PK)-Mangel, er ist der häufigste Enzymdefekt der Glykolyse /4/.
  • Glucose-6-Phosphatdehydrogenase (G-6-PD)-Mangel, er ist der häufigste Enzymdefekt des Pentosephosphatzyklus /2/.

Weitere zwar sehr seltene, aber relevante Enzymopathien sind:

  • Triosephosphatisomerase Mangel, der eine neuromuskuläre Symptomatik verursacht.
  • Hexokinase-Mangel, er geht mit chronisch hämolytischer Anämie einher.
  • Glukosephosphatisomerase Mangel, der eine schwere hämolytischer Anämie verursacht.
  • 2.3-Diphosphoglyceratmutase Mangel, geht mit einer Polyglobulie einher.

Aus der Vielfalt der erythrozytären Enzymdefekte werden nachfolgend der PK-Mangel und der G-6-PD-Mangel ausführlicher beschrieben. Bezüglich der sonstigen bzw. der seltenen Enzymopenien wird auf die Spezialliteratur verwiesen /3/.

Häufigkeit und Verbreitung

Defekte der erythrozytären Enzyme gehören weltweit mit mehr als 400 Mio. Genträgern zu den häufigsten angeborenen Stoffwechselstörungen. An erster Stelle steht der G-6-PD-Mangel, dessen geographische Verbreitung weitgehend mit den Malariaregionen übereinstimmt, weil ein Selektionsvorteil für Träger der G-6-PD-Mangel Erbanlage besteht /2/. In Mittelmeerländern, Südostasien, Afrika und in der afro-amerikanischen Bevölkerung liegt die Genfrequenz des G-6-PD-Mangels bei 10–20 %. In Mittel- und Nordeuropa ist diese Enzymdefizienz ursprünglich selten, jedoch hat sich die Anzahl der Betroffenen durch die Zuwanderung vieler Personen aus den Endemiegebieten deutlich erhöht /1, 2, 3/.

Der zweithäufigste Enzymdefekt ist der PK-Mangel, der vor allem in Mittel- und Nordeuropa sowie in Nordamerika seinen Ursprung hat. Bei der in Deutschland lebenden Bevölkerung ist insgesamt bei höchstens 10 % aller Patienten mit kongenitaler hämolytischer Anämie mit einer Enzymopathie zu rechnen /1/.

15.8.1 Indikation

Chronisch hämolytische Anämien, die nach einer hämatologischen Vordiagnostik ätiologisch unklar geblieben sind.

15.8.2 Bestimmungsmethode

Für Routineaufgaben werden in der Regel automatisierte Enzymanalyse-Systeme eingesetzt /1, 2, 3/. Das Prinzip besteht in einer spektrophotometrischen Messung der Enzymaktivitäten im Hämolysat. Dieses wird bei 37 °C mit einem Testgemisch aus Substrat und Hilfsreagenzien inkubiert, das so konzipiert ist, dass die zu bestimmende Enzymaktivität Geschwindigkeits begrenzend für die Reaktion ist. Messgröße ist die Konzentrationsänderung der Pyridinnukleotide NADH bzw. NADPH, die photometrisch erfasst wird. Mit Hilfe standardisierter Formeln werden die Enzymaktivitäten berechnet. Für die G-6-PD und die PK gibt es außerdem orientierende Screening Tests, die vor allem für Reihenuntersuchungen eingesetzt werden.

Bei einem Teil der Enzymopathien äußert sich die biologische Funktionsstörung über charakteristische Veränderungen eines breiten Spektrums physikalisch chemischer Eigenschaften. Hierbei reicht die alleinige Bestimmung der Enzymaktivitäten nicht aus, vielmehr müssen zusätzliche Parameter, z.B. Enzymkinetik, Enzymelektrophorese, pH-Optimum und Thermostabilität für die Diagnose mit herangezogen werden.

DNA-Analysen

G-6-PD: Wenn die Mutation des Gens G-6-PD bei dem zu diagnostizierenden Patienten bekannt ist, kann eine PCR basierte DNA Analyse durchgeführt werden. Inzwischen gibt es vereinzelt Laboratorien, die eine vollständige Sequenzierung des Gens G-6-PD anbieten, mit denen die bekannten G-6-PD-Mutationen ausgeschlossen bzw. nachgewiesen werden können /12/. Die Indikation beschränkt sich auf die diagnostische Sicherung heterozygoter Mangelträger des Enzyms, z.B. Frage des Überträgerstatus, oder in extremen Fällen auf Fragen der Pränataldiagnose.

PK: Bei Patienten mittel- und nordeuropäischer Abstammung kann auf Grund der hohen Frequenz von Mutationen des Typs 1529 G → A eine gezielte PCR-Restriktions Enzymanalyse erfolgen. Diese Methode ist auch für die pränatale Diagnostik in belasteten Familien einsetzbar, wenn bei den Eltern ein 1529 G → A PK-Defekt vorliegt. Für die molekulare Diagnose der PK existieren europaweit nur einzelne Speziallabors, welche die bisher bekannten PK-Varianten nachweisen bzw. ausschließen können /45/. Dieses gilt auch für die anderen erythrozytären Enzymopathien.

15.8.3 Untersuchungsmaterial

EDTA-Blut: 5 ml

15.8.4 Referenzbereich

Siehe Tab. 15.8-1 – Referenzbereich der Erythrozyten-Enzyme.

15.8.5 Bewertung

Mangelzustände von Enzymen werden in der Regel durch erniedrigte oder fehlende Enzymaktivitäten angezeigt. Die Zuordnung eines Befundes zu einer definierten Diagnose kann wegen der großen Variabilität der Konstellationen Schwierigkeiten bereiten.

Beachtet werden muss, dass:

  • Retikulozyten und junge Erythrozyten eine höhere Enzymaktivität als alte Zellen haben. Während hämolytischer Krisen jedweder Genese kann daher bei stark verjüngter Zellpopulation ein falsch-normaler Befund erhoben werden. Auf die Aktivitätsrelationen der verschiedenen Enzyme und die Zellverteilung muss daher besonders geachtet werden.
  • Falsch normale Enzymaktivitäten nach kürzlich erfolgter Bluttransfusion gemessen werden können.
  • Patienten mit hypochromer Anämie scheinbar erhöhte Enzymwerte haben, wenn als Bezugsgröße für die Enzymaktivitäten die Konzentration von Hb genommen wird.

15.8.5.1 Glucose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel

Hilfreich ist eine Einteilung abnormer Enzymbefunde nach folgenden Kategorien /2/:

1. Sehr leichter Enzymmangel.

2. Mäßiger Enzymmangel.

3. Schwerer Enzymmangel.

4. Schwerster Enzymmangel.

Gruppe 1 ist klinisch ohne Bedeutung. In Gruppe 2 wird eine Hämolyse nur durch oxidativen Stress ausgelöst.

In Gruppe 3 treten unter oxidativer Belastung schwerste hämolytische Krisen auf.

Gruppe 4 ist durch eine permanente Hämolyse gekennzeichnet, die sich unter oxidativer Exposition zusätzlich krisenhaft verschlimmern kann.

In die Beurteilung einzubeziehen sind Besonderheiten, die sich aus der X-chromosomalen Vererbung des Mangels an G-6-PD-ergeben.

Je nach den bei Männern und Frauen differenten Genotypen gibt es folgende Manifestationen:

  • Männer können hemizygot normal oder hemizygot defizient sein.
  • Bei Frauen sind drei Möglichkeiten gegeben: Homozygot normal oder defizient und heterozygot; heterozygote Frauen haben normale, intermediäre oder sehr niedrige -Aktivitäten der G-6-PD, entsprechend dem Zeitpunkt der Inaktivierung des X-Chromosoms nach der Lyon-Hypothese.

Zum Zeitpunkt einer akuten Hämolyse kann die Diagnose des G-6-PD Mangels sehr schwierig sein, da nach Destruktion der mangelhaft mit Enzym ausgestatteten Zellen diejenigen mit relativ hoher Aktivität übrig geblieben sind. Eine Kontrolluntersuchung kann angeraten sein.

In wenigen Fällen von Mangel an G-6-PD ist auch ohne Exposition die Lebensdauer der Erythrozyten stark verkürzt. Die resultierende chronische nicht sphärozytäre hämolytische Anämie unterscheidet sich nur insofern von der bei Defekten der Glykolyse (z.B. PK-Mangel) bekannten Form, als durch oxidative Noxen zusätzlich hämolytische Krisen ausgelöst werden können. In allen näher untersuchten Fällen wurden Enzymvarianten mit besonders ungünstigen kinetischen Eigenschaften, geringer Stabilität und niedriger Aktivität gefunden. Bezüglich weiterer Einzelheiten siehe Tab. 15.8-2 – Befunde und Enzymcharakteristika der wichtigsten Erythrozyten-Enzymopathien.

15.8.5.2 Pyruvatkinase-Mangel

Die Höhe der Enzymaktivität allein ist als diagnostischer Parameter unsicher bis ungeeignet, da keine exakte Korrelation zwischen Enzymaktivität und Schwere der hämolytischen Anämie besteht /4, 7, 8/. Als Orientierung gelten folgende Erfahrungswerte: Die überwiegende Mehrzahl der PK-Mutanten, die mit einer schweren hämolytischen Anämie einhergehen, haben Enzymaktivitäten von weniger als 30 % der Norm.

In Fällen mit mildem klinischen Verlauf kann Aktivität des Enzyms deutlich darüber, seltener auch darunter liegen. Die Berücksichtigung der Retikulozytenzahl ist unbedingt erforderlich. In jedem Fall sind Kontrollmessungen, z.B. bei unterschiedlichen Retikulozytenzahlen empfehlenswert. Die klinisch hämatologischen Erscheinungsformen und die Enzymbefunde des G-6-PD-Mangels und PK-Mangels sind dargestellt in Tab. 15.8-2 – Befunde und Enzymcharakteristika der wichtigsten Erythrozyten-Enzymopathien.

15.8.6 Hinweise und Störungen

Stabilität

Aufbewahrung der Proben 3–4 Tage bei 4–6 °C möglich.

15.8.7 Pathophysiologie

Glucose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel /126/

Die kodierende Sequenz der 515 Aminosäuren umfassenden Polypeptidkette des G-6-PD Wildtyps GdB+ ist in den Nukleotiden der Exons 2–13 des G-6-PD-Gens fixiert. Die GdA-Variante der Schwarz-Afrikaner basiert auf der Mutation 376 A → G (Struktur; 126 Asn → Asp); der Mittelmeertyp GdB wird durch die Mutation 563 C → T (Struktur; 188 Ser → Phe) verursacht. Eine Vielzahl anderer Varianten mit unterschiedlicher phänotypischer Expression wurde gefunden und es gilt als erwiesen, dass auch die Bevölkerung Südostasiens in großer Zahl betroffen ist.

Die wichtigsten Enzymdefekte sind der Mittelmeertyp (Gd Mediterranean, fast fehlende Aktivität) bzw. die abnormen Varianten der schwarzen Bevölkerung Typ A+ (GdA+, mäßige Aktivitätsverminderung) bzw. Typ A (GdA, Restaktivität 5–15 %).

Der weitaus überwiegende Teil der Träger des Mangels an G-6-PD hat ohne Exposition gegenüber oxidativer Schädigung ei normales Hb und normale Retikulozytenzahlen. Hämolytische Krisen werden hierbei durch eine Reihe von oxidativen Schädigungen, vor allem Infektionen, Medikamente Favabohnen, Azidose und andere Faktoren ausgelöst. Siehe Tab. 15.8-3 – Medikamente und Chemikalien, die bei Glukose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel eine Hämolyse erzeugen.

Wasserstoffperoxid oder andere freie Radikale oxidieren reduziertes Glutathion, das in Folge des Enzymmangels nicht wieder reduziert werden kann. Die nachfolgende Präzipitation des Hb in Form von Heinz Körpern bewirkt eine massive intravasale Hämolyse. Diese kann nach Zerstörung der älteren Zellen mit der geringsten Enzymaktivität selbst limitierend sein. Eine Ausnahme ist der mediterrane Mangel-Typ, z.B. beim Favismus.

Pyruvatkinase-Mangel /457/

Der PK Mangel basiert auf einer Vielzahl heterogener Mutationen, die wiederum sehr unterschiedliche funktionelle Eigenschaften des Enzyms hervorrufen. Die differenten molekularen PK Formen werden durch zwei Gentypen kodiert:

  • Das M-Gen oder Muskeltyp Gen, nachweisbar in Leukozyten und vielen Geweben.
  • Das L-Gen oder Lebertyp Gen, das auch die PK der Erythrozyten steuert und als R-Typ bezeichnet wird.

Nur die Varianten des PK-L-Gens verursachen eine hämolytische Anämie. Es wird angenommen, dass in Folge der verminderten ATP-Synthese die Zellmembran geschädigt wird. Das Problem betrifft vor allem die Retikulozyten und jungen Erythrozyten. Über den Verlust an Energiequellen entsteht eine Störung der Zellmembran Integrität mit zunehmender Rigidität und Schrumpfung der Zelle. In einem Teil der Fälle sind unregelmäßig geformte Zellen beobachtet worden. Sie werden vom retikuloendothelialen System vermehrt sequestriert und phagozytiert. Die Milz eliminiert vor allem die jugendlichen Zellen, denn nach der Splenektomie steigt die Zahl der Retikulozyten erheblich an.

Die Anämie kann sehr leicht sein, so dass die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wird. Bei den schwer verlaufenden Formen kann bereits das Neugeborene mit dem Vollbild des Morbus hemolyticus neonatorum schwer erkranken. Eine Splenomegalie entwickelt sich gewöhnlich erst mit 4–6 Monaten. Blässe und Anämie in den ersten Lebenswochen sind die Regel. Später wechseln hämolytische Krisen, besonders bei Infekten mit Perioden, in denen die Anämie nur mittelschwer ist.

Andere hereditäre Enzymopathien der Erythrozyten sind bei der Pathogenese der enzymopenisch bedingten hämolytischen Anämien nur von untergeordneter Bedeutung und werden nur in Einzelfällen nachgewiesen (Übersicht Lit. /12/).

Literatur

1. Jacobasch G. Hereditäre Membrandefekte und Enzymopathien roter Blutzellen. In: Ganten D, Ruckpaul K (eds). Handbuch der Molekularen Medizin. Berlin: Springer-Verlag, 2000; 6: 392–441.

2. Beutler E. Glucose-6-phosphate dehydrogenase deficiency and other red cell enzyme abnormalities. In: Beutler E, Lichtman MA, Coller BS, Kipps TJ, Seligsohn U (eds). Williams Hematology 6th ed. New York: McGraw-Hill, 2001: 527–45.

3. Prchal JT, Gregg XT. Red Cell Enzymes. Hematology Am Soc Hematol Educ Program 2005; 19–23.

4. Zanella A, Bianchi P. Red cell pyruvate kinase deficiency:from genetics to clinical manifestations. Baillieres Best Pract Res Clin Haematol 2000; 13: 57–81.

5. Pissard S, Max-Audit I, Skopinski L, Vasson A, Vivien Pascal, Bimet C, Goossens M, Galacteros F, Wajcman H. Pyruvate kinase deficiency in France: a 3-year study reveals 27 new mutations. J Haematology 2006; 133: 683–9.

6. Mehta A, Mason PJ, Vulliamy TJ. Glucose-6-Phosphatdehydrogenase deficiency. Baillières Best Pract Res Clin Haematol 2000; 13: 21–38.

7. Beutler E, Blume KG, Kaplan JC, Löhr GW, Ramot B, Valentine WN. International Commitee for Standardization in Haematology: Recommended methods for red-cell enzyme assays. Brit J Haemat 1977; 35: 331–40.

8. Pekrun A, Schröter W. Erythrozytenenzymdefekte als Ursache angeborener hämolytischer Anämien. In: Huber H, Löffler H, Faber V, eds. Methoden der diagnostischen Hämatologie. Berlin: Springer-Verlag, 1994.

15.9 Enzymopenische Methämoglobinämien

Elisabeth Kohne

Es handelt sich um eine Gruppe seltener Krankheiten mit autosomal rezessivem Erbmodus, die ursächlich durch einen Mangel an NADH-Cytochrom B5-Reduktase hervorgerufen werden /12/. Der klinische Oberbegriff für alle Formen ist kongenitale, rezessive Methämoglobinämie.

Die Cytochrom B5-Reduktase existiert in zwei Varianten, einer löslichen erythrozytären Form, welche in die MetHb Reduktion in Erythrozyten involviert ist und einer Membran gebundenen Form in verschiedenen somatischen Zellsystemen, die in zahlreiche metabolische Vorgänge eingebunden ist. Dementsprechend können Enzymdefizienzen sich unterschiedlich auswirken bzw. mit zwei unterschiedlichen Krankheiten einhergehen:

  • Die hereditäre enzymopenische Methämoglobinämie Typ I ist auf die Erythrozyten beschränkt. Homozygote bzw. gemischte heterozygote Patienten erkranken an einer Methämoglobinämie, Heterozygote sind unauffällig.
  • Die hereditäre enzymopenische Methämoglobinämie Typ II ist die generalisierte Form. Neben der angeborenen Methämoglobinämie bestehen progrediente neurologische Symptome mit schwerster psychomotorischer Störung und Tod im frühen Kindesalter.

15.9.1 Indikation

  • Differenzialdiagnose der Methämoglobinämien
  • Unklare Zustände der Zyanose.
  • Zyanose, die sich unter Sauerstoffzufuhr nicht bessert.
  • Bei Zustände der Zyanose mit normaler oder gering erniedrigter (≈ 85 %) Sauerstoffsättigung im arteriellen Blut.

15.9.2 Bestimmungsmethode

Initial erfolgt eine Messung der MetHb-Konzentration des Blutes. Siehe Beitrag 15.5 – Dyshämoglobine.

Die Bestimmung der MetHb-Reduktase (Cytochrom B5-Reduktase)-Aktivität in erythrozytären Hämolysat wird spektralphotometrisch durchgeführt /3/. Zur Sicherung der Diagnose, Festlegung des Erbstatus und Klassifizierung des Typs einer nachgewiesenen hereditären Methämoglobinämie ist eine DNA-Analyse erforderlich.

15.9.3 Referenzbereich

Cytochrom B5-Reduktase-Aktivität in Erythrozyten /3/

Neugeborene

9,61 ± 1,91 IU/g Hb

Erwachsene

19,2 ± 3,9 IU/g Hb

15.9.4 Bewertung

Bei Patienten mit einer angeborenen, persistierenden Methämoglobinämie und einem enzymatisch gemessenen Mangel an Cytochrom B5-Reduktase wird die Diagnose der enzymopenischen Methämoglobinämie gestellt. Bei Heterozygotie fehlen klinische Symptome. Mit dem Nachweis des zugrunde liegenden molekularen Basisdefekts kann die Klassifizierung des Krankheitstyps vorgenommen werden. Die Untersuchung, einschließlich einer genetischen Beratung der Eltern, ist Bestandteil des diagnostischen Programms. Bei Bedarf kann eine Pränataldiagnose erfolgen.

15.9.4.1 Allgemeine Symptomatik

Die Patienten fallen durch eine von Geburt an bestehende Zyanose auf. Die Werte des Methämoglobins können bei Neugeborenen auf über 40 % ansteigen. Bei größeren Kindern und Erwachsenen liegen sie in der Regel bei 10–25 %, es kommen aber auch Werte bis 40 % vor. Jahreszeitliche Schwankungen erklären sich mit Einnahme von unterschiedlich Vitamin C reicher Nahrung. Manche Patienten entwickeln eine mäßige kompensatorische Polyglobulie.

15.9.4.2 Enzymopenische Methämoglobinämie Typ I

Der Typ I des Cytochrom-B5-Reduktase Mangels ist dadurch charakterisiert, dass er sich allein auf die Erythrozyten beschränkt. Homozygote bzw. gemischt heterozygote Patienten erkranken an einer unkomplizierten Methämoglobinämie. Heterozygote Mangelträger sind unauffällig, sie sind jedoch empfindlich gegenüber oxidierenden Substanzen.

15.9.4.3 Enzymopenische Methämoglobinämie Typ II

Der Typ II ist die generalisierte und letale Form des Cytochrom-B5-Reduktase Mangels, der neben der Methämoglobinämie mit progredienten neurologischen Symptomen einhergeht. Die neurologischen Veränderungen beinhalten schwere mentale Entwicklungsstörungen, Mikrozephalie, Minderwuchs, Katarakt, sowie Krämpfe, Opisthotonus und generalisierte Hypertonie. Der Defekt betrifft nicht nur die Erythrozyten, sondern auch die mikrosomale Cytochrom-B5-Reduktion in Leber, Gehirn, Muskeln, Leukozyten, Thrombozyten und Fibroblasten. Hinzu kommen schwere Störungen im Lipidstoffwechsel mit Erniedrigung der Cerebroside im Gehirn, Erhöhung der Palmitinsäure und Erniedrigung der Linolensäure im Fettgewebe und charakteristische Veränderungen im Bereich der Phospholipide, der Phosphoglyceride und des Cholesterins in Leber, Nieren, Milz, Muskeln und Nebennieren. Die Erkrankung führt meistens im frühen Kindesalter zum Tode.

Literatur

1. Kleihauer E, Kohne E, Kulozik AE. Anomale Hämoglobine und Thalassämie-Syndrome: Grundlagen und Klinik. Landsberg; ecomed Verlagsgesellschaft, 1996.

2. Percy MJ, Lappin TR. Recessive congenital methaemoglobinaemia: cytochrome b5 reductase deficiency. Brit J Haemat 2008; 141: 298–308.

3. Beutler E. Red cell metabolism. A manual of biochemical methods. 3th ed. Grune and Stratton, Inc 1984.

15.10 Erythropoetin (EPO)

Lothar Thomas

Die rote Blutzellmasse des Organismus wird unter physiologischen Bedingungen konstant gehalten, um die Sauerstoffversorgung der Gewebe optimal zu gewährleisten. Täglich gehen durch die Mauserung der Blutzellen etwa 2 × 1011 Erythrozyten verloren und ohne Ersatz würde der Hämoglobin (Hb) Wert in 24 h um 1 g/l abfallen. Da der Hb-Gehalt des Erythrozyten über sein Volumen genetisch determiniert ist und ebenfalls seine Lebenszeit, kann die Aufrechterhaltung der Erythrozytenmasse nur durch eine dynamische Anpassung der Erythropoese erfolgen.

Dies geschieht durch einen empfindlichen homöostatischen Mechanismus, der die Produktion der roten Blutzellen an die Sauerstoffanforderung der Gewebe koppelt. Der Vermittler dieses Prozesses ist das in der Niere gebildete Interleukin EPO. Bei Minderung der Sauerstoffversorgung wird EPO verstärkt gebildet, es resultiert eine Hyperproliferation der Erythropoese. Die Hemmung der EPO Synthese führt zur Ausbildung einer hypoproliferativen normozytären normochromen Anämie.

Bei Anämie und kompensatorischer Proliferation der Erythropoese durch endogenes oder exogenes EPO wird Eisen benötigt, dass durch eine erhöhte Freisetzung aus den Speichern und Erhöhung der enteralen Absorption bereitgestellt wird. Damit das erfolgen kann wird im EPO stimulierten Knochenmark in den Erythroblasten das Gen Erfe exprimiert das die Bildung des Erythroid Regulaors Erythroferron aktiviert. Erythroferron trägt zur Korrektur der Anämie bei, indem es die Bildung von Hepcidin hemmt und somit der Erythropoese verstärkt Eisen zur Verfügung stellt. Siehe Abb. 15.10-1 – Wirkung von Erythroferron bei akuter Blutung.

15.10.1 Indikation

  • Unklare normozytäre Anämie.
  • Bei hyporegenerativer Erythropoese zur Differenzierung der inadäquaten EPO Synthese von der intrinsischen Hypoproliferation des Marks (siehe auch Beitrag 7.4 – Löslicher Transferrinrezeptor).
  • Differenzierung der Erythrozytose, (Polyzythämie), siehe auch Beitrag 15.4 – Hämatokrit.
  • Verdacht und Verlaufsbeurteilung der paraneoplastischen Bildung von EPO.
  • Vor Therapie nicht-renaler Anämien mit Erythropoese stimulierenden Agentien (ESA).
  • Erkennung einer fetalen Notsituation.

15.10.2 Bestimmungsmethode

Radioimmunoassay

Als Tracer wird 125J markiertes humanes rekombinantes EPO verwendet, der primäre Antikörper stammt vom Kaninchen, der sekundäre Antikörper zur Präzipitation des Immunkomplexes von der Ziege.

Immunometrischer Assay

Erythropoetin wird vermittels zweier monoklonaler Antikörper gegen rekombinantes EPO nachgewiesen. Der Zweitantikörper ist mit einem Enzym oder mit einem Chemolumineszenz Label markiert /3/. Die Kalibration bezieht sich auf die WHO 2nd IRP 67/343.

15.10.3 Untersuchungsmaterial

Serum, Plasma (Heparin): 1 ml

Zusätzlich sollte EDTA-Blut abgenommen werden, damit ein Bezug des EPO-Werts auf den Hämatokrit oder den Hb-Wert erfolgen kann.

15.10.4 Referenzbereich

Siehe Lit. /1, 4/ und Tab. 15.10-1 – Referenzbereiche für Erythropoetin.

15.10.5 Bewertung

Gewebshypoxie stimuliert die -Synthese von EPO, während eine normale Sauerstoffversorgung der Gewebe die Bildung bremst.

15.10.5.1 Beurteilung der Erythropoese

Die Konzentration von EPO muss in Beziehung zur Masse der Erythrozyten, deren Maßstab der Hämatokrit (Hkt) oder die Hb Konzentration ist, gesetzt werden. Somit kann bei chronischen Anämien festgestellt werden, ob eine zur Verminderung der Masse der Erythrozyten adäquate Stimulation der Erythropoese erfolgt.

Es besteht eine inverse Beziehung zwischen dem Hb-Wert bzw. dem Hkt und dem dekadischen Logarithmus der Konzentration von EPO im Serum. Das ist nur der Fall bei Anämie, nicht aber innerhalb des Referenzbereichs der Hb-Konzentration oder des Hkt /7/. Bei einem leichten Abfall des Hkt auf 0,38–0,35 bzw. des Hb auf 125–115 g/l beginnt ein leichter Anstieg von EPO im Referenzbereich. Jedoch zu deutlichen Anstiegen von EPO kommt es erst ab einem Hkt ≤ 0,30 bzw. einem Hb ≤ 100 g/l (Abb. 15.10-2 – Erwarteter Konzentrationsbereich von Erythropoetin in Abhängigkeit vom Hämatokrit/5/.

Für den gleichen Grad einer Anämie resultiert jedoch nicht immer ein adäquater EPO Anstieg, sondern es besteht eine Abhängigkeit von der Ursache der Anämie /6/. So werden die stärksten Anstiege bei der aplastischen Anämie gemessen, die geringsten bei der Anämie chronischer Erkrankungen und dem Endstadium der chronischer Niereninsuffizienz; die Eisenmangelanämie liegt dazwischen (Abb. 15.10-3 – Beziehung zwischen Hkt und Konzentration von EPO).

Bei Feten ist die Konzentration von EPO niedriger als bei Erwachsenen, obwohl die Erythropoese sehr regenerativ ist. Die Konzentration von EPO ist im Mittel ≤ 5 U/l bis zur 37. SSW. Auf Grund der fetalen Belastung während der Geburt steigen die Werte im Mittel 10 fach an, um in der ersten Lebenswoche wieder abzufallen. Im Alter von 7–12 Wochen hat das Kleinkind eine physiologische Anämie mit einem Hb-Wert von 90–110 g/l, auch die EPO Werte sind niedrig, mit der Ausnahme eines kleinen Anstiegs am Nadir des Hb /8/.

Die Feststellung einer mangelnden EPO-Bildung bezieht sich darauf, wie die Konzentration von EPO im Vergleich zu Patienten (Eisenmangelanämie, hämolytische Anämie, Thalassämia intermedia) mit vergleichbarem Hb-Wert oder Hkt ist /7/ (Abb. 15.10-2).

Bei Werten im Bereich einer verminderten EPO Bildung kommen folgende Ursachen in Frage:

  • Neonatale Anämie.
  • Entzündungsanämie (rheumatoide Arthritis, chronische Infektion, AIDS, entzündliche Darmerkrankung, Autoimmunerkrankung, kritisch Kranke).
  • Tumoranämie ohne oder mit Chemotherapie (solider Tumor, multiples Myelom, malignes Lymphom).
  • Erythrozytose (Polyzythämie), siehe Beitrag 15.4 – Hämatokrit.

Das Verhalten von EPO im Serum bei den verschiedenen Anämien zeigen:

15.10.5.2 Chronische Nierenerkrankung

Der Begriff chronische Nierenerkrankung umfasst nach der National Kidney Foundation der USA /10/ neben Patienten mit chronischer Verminderung der Nierenfunktion auch die Dialyse-pflichtigen und diejenigen mit der Fehlfunktion eines Nierentransplantats. Unbehandelt verursachen renale Anämien folgende Störungen: Vermindertes Sauerstoffangebot an die Gewebe, Vergrößerung des Herzminutenvolumens, Herzvergrößerung, ventrikuläre Hypertrophie, Angina, Stauungsinsuffizienz des Herzens, verminderte mentale Wachsamkeit, reduzierte Immunantwort und eine Störung der Menstruation. Bei Kindern kommt es zur Verzögerung des Wachstums und zur verminderten intellektuellen Fähigkeit.

Die renale Anämie beruht auf einer inadäquaten Bildung von EPO durch die geschädigten Nieren. Zusätzliche Faktoren sind Eisenmangel, Blutverlust, akute und chronische Entzündungen, Aluminium Toxizität, und eine verkürzte Lebenszeit der Erythrozyten.

Eine differentialdiagnostische Abkärung der Anämie bei chronisch Nierenkranken sollte erfolgen, wenn /10/:

  • Bei prämenopausalen Frauen und präpubertären Patientinnen der Hb-Wert < 110 g/l (Hkt < 0,33) beträgt.
  • Bei Männern und postmenopausalen Frauen der Hb-Wert < 120 g/l (Hkt< 0,36 ) absinkt.

Eine Anhebung des Hb-Werts durch Therapie mit ESA auf 130–150 g/l reduziert nicht das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse innerhalb von 3 Jahren /11/. Zum Eisenstoffwechsel und Therapie mit ESA bei Patienten im Endstadium chronischer Nierenerkrankung siehe Tab. 7.3-3 – Erkrankungen und Zustände mit verminderter Ferritinkonzentration im Serum.

15.10.5.3 Chronische Entzündung

Bei anämischen Patienten mit chronisch entzündlicher Erkrankung ist die inflammatorische Blockade der EPO-Bildung die wesentliche Ursache der normozytären normochromen Anämie /12/.

Rheumatoide Arthritis: Diese Patienten haben gelegentlich Hb-Werte < 80–90 g/l, aber kaum einer benötigt Erythrozytenkonzentrate. Bei schwer anämischen Rheumatikern ist die Anämie mit einem Eisenmangel verknüpft. Eine generelle Therapie mit ESA wird nicht empfohlen, kann aber in Einzelfällen wichtig sein.

AIDS: Etwa zwei Drittel dieser Patienten haben eine normozytäre, normochrome Anämie, die sich unter Behandlung mit AZT verschlechtert. Bei symptomatischen Patienten kann eine ESA-Therapie gerechtfertigt sein.

Tumoranämie /13/ (siehe auch Tab. 15.3-11 – Klassifikation und Differenzierung der normozytären Anämien)

Die Anämie ist ein häufiges Symptom bei Tumorpatienten. Im Vordergrund steht die inflammatorische Blockade der EPO Bildung. Sie ist durch die verstärkte Freisetzung inflammatorischer Zytokine bedingt. Chemo- und Radiotherapie verstärken die Anämie auf Grund supprimierender Wirkung auf die Erythropoese und Verminderung der renalen EPO Bildung. Siehe Abb. 15.10-4 – Aktivierung des Immunsystems bei der Akute-Phase Reaktion.

15.10.5.4 Kritisch Kranke

Bei intensivpflichtigen kritisch Kranken ist die Anämie multifaktorieller Natur und entspricht der Anämie chronischer Erkrankungen. Sie ist durch eine inadäquate Bildung von EPO, Eisen defiziente und intrinsische Hypoproliferation der Erythropoese und eine verkürzte Lebenszeit der Erythrozyten bedingt /14/.

15.10.5.5 Therapie mit Erythropoese stimulierenden Agentien (ESA)

Erythropoese und ESA

Hämodialyse Patienten erhalten in Europa zu 90 % eine ESA Therapie (7–8 Tausend Units rHuEPO pro Woche) und 70 % werden mit Eisen (300 mg pro Monat) substituiert. Dabei kommt es zur Ausdehnung des Erythrons, Fettmark wird durch Hämatopoese ersetzt. Durch die Stimulation proliferieren vorwiegend frühe erythroide Zellen der Colony Forming Unit Erythroid (CFU-E). Siehe auch Abb. 15.1-2 – Aufteilung der Erythropoese in einen Proliferationspool und einen Reifungspool. Im Unterschied dazu ist bei der chronischen Anforderung von roten Blutzellen, z.B. bei der chronisch hämolytischen Anämie, der Pool später erythroider Vorläuferzellen vermehrt. Ist das Mark schon durch endogene EPO Stimulation hyperproliferativ, kommt es durch ESA zu keinem bedeutsamen weiteren Anstieg der Regenerativität. So kann eine 2,9 fach gesteigerte Erythropoese durch hohe Dosen von ESA nur auf das 3,6 fache gesteigert werden /15/.

Die Wirkung von ESA ist abhängig von:

  • Einem regenerativen Knochenmark (keine intrinsische Hypoproliferation).
  • Der Eisenverfügbarkeit.
  • Der Akute-Phase Reaktion (CRP-Konzentration).

Eisenverfügbarkeit

Die Stimulation mit ESA führt durch eine verstärkte Proliferation der Erythropoese zu einem erhöhten Eisenbedarf und der Verschiebung von Eisen aus den Speichern zum Knochenmark. Bei normaler Reserve an Speichereisen ist beim Gesunden durch eine intrinsische EPO-Stimulation die Erythropoese nur auf das 3 fache der Basisrate zu steigern, ohne dass hypochrome rote Blutzellen gebildet werden, da nur bis zu dieser Rate eine ausreichende Eisenversorgung möglich ist. Wird durch Gabe von ESA die Erythropoese exzessiv stimuliert, resultiert ein Eisenbedarf, der das Angebot übersteigt, ein Zustand, der als funktioneller Eisenmangel bezeichnet wird. Als Folge werden hypochrome rote Blutzellen gebildet. Diese Situation tritt besonders in der frühen Regenerationsphase der Erythropoese nach ESA Verabreichung auf. Sind die Eisenspeicher gut gefüllt und ist die Erythropoese adäquat mit ESA stimuliert, tritt erst ein Funktionseisen Mangel auf, wenn der Ferritinwert etwa < 100 μg/l beträgt. Unter Therapie mit ESA müssen ESA Dosis und die Eisenversorgung aufeinander abgestimmt sein.

Akute-Phase Reaktion (APR)

Systemische inflammatorische Veränderungen im Organismus werden als APR bezeichnet. Die APR ist neben dem funktionellen Eisenmangel einer der wesentlichen Gründe für das unterschiedliche Ansprechen von Patienten auf ESA und einen erhöhten ESA Bedarf /15/.

Patienten mit Inflammation haben erhöhte Konzentrationen von IL-6, CRP, Fibrinogen und Ferritin. Transferrin und die Transferrinsättigung sind vermindert. Ursache der verminderten Ansprechbarkeit bei Inflammation ist die verstärkte Expression von IFN-γ, IL-6 und Hepcidin /16/. Diese Mediatoren antagonisieren im Knochenmark die anti-apoptotische Wirkung von EPO auf die CFU-E und bewirken eine ineffektive Erythropoese (Abb. 15.10-4 – Aktivierung des Immunsystems bei der Akute-Phase Reaktion).

Zusätzlich bewirkt die Erhöhung von Hepcidin eine Störung der Eisenverteilung durch Hemmung der Eisenfreisetzung aus Makrophagen und Enterozyten durch den Ferroportin-Rezeptor (siehe auch Beitrag 7.6 – Hepcidin). Der somit entstehende Mangel an Funktionseisen verstärkt die ESA-Resistenz und führt zur Anämie.

Patienten mit chronischer Nierenerkrankung, mit einem malignen Tumor, mit chronisch entzündlicher Erkrankung und kritisch Kranke auf Intensiveinheiten leiden häufig an einer Anämie, die in signifikanter Weise die Morbidität, Mortalität und Lebensqualität beeinflusst. Die Mehrzahl dieser Patienten hat normozytäre, normochrome Erythrozyten. Die Behandlung mit ESA ist für diese Patienten mit Vorteilen verbunden, insbesondere einer Reduktion in der Anwendung von Erythrozytenkonzentraten. Die zusätzliche parenterale Gabe von Eisen erhöht die erythropoetische Antwort auf ESA. Die Therapie mit ESA ist teuer. Deshalb ist es wichtig Patienten zu selektieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ESA ansprechen und die Antwort der Erythropoese zu kontrollieren. Untersuchungen der basalen Diagnostik und zum therapeutische Monitoring sind aufgeführt in Tab. 15.10-5 – Laboruntersuchungen zur Beurteilung der Erythropoese unter ESA-Therapie.

Die Behandlung mit ESA ist nicht frei von Risiken.

So zeigen Untersuchungen dass die Behandlung mit ESA verbunden sein kann /9/:

  • Mit einem erhöhten Risiko venöser Thrombosen.
  • Einer verstärkten Tumorprogression und evtl. Verkürzung des Überlebens.

ESA-Therapie bei chronischer Niereninsuffizienz 

Die Anämie ist ein starker Prädiktor für kardiovaskuläre Komplikationen und Tod bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung /10/. Die Korrektur der Anämie mit Hb-Werten < 110 g/l durch ESA Therapie auf Zielwerte von 110–120 g/l verbessert den Zustand der Patienten. Eine optimale Eisenreserve liegt bei Ferritinwerten von 200–500 μg/l und einer Transferrinsättigung (TSAT) > 20 % vor (Tab. 15.10-5 – Laboruntersuchungen zur Beurteilung der Erythropoese unter ESA-Therapie).

Siehe auch Tab. 15.10-6 – Erythropoese stimulierende Agentien.

ESA Therapie bei Tumoranämie

Eine ESA Therapie sollte nur bei symptomatischer Anämie erfolgen. Nach der FDA kann eine ESA Therapie begonnen werden unter myelosuppressiver Therapie bei Patienten mit Chemotherapie ohne Heilungschance /17/. Der Hb-Wert sollte < 100 g/l betragen und die ESA Dosis reduziert werden, wenn der Hb-Wert innerhalb 2 Wochen um ≥ 10 g/l ansteigt. Nach dem National Comprehensive Cancer Network der USA sollte eine i.v. Eisentherapie bei Patienten mit funktionellem Eisenmangel durchgeführt werden bei einer TSAT < 20 %, wenn der Ferritinwert bis zu 800 μg/l beträgt.

Effektivität der ESA Therapie

Die Effektivität der ESA Therapie ist von der Ursache der Anämie und der Präsenz einer Entzündung abhängig. Die beste Responserate von etwa 70 % haben Patienten im Endstadium der chronischen Niereninsuffizienz. Tumorpatienten haben eine Responserate von 30–70 %, beim myelodysplastischen Syndrom beträgt sie nur 20 %. Als positive Response wird ein Anstieg des Hb-Werts von 10 g/l innerhalb von 4 Wochen nach Therapiebeginn angesehen.

15.10.6 Hinweise und Störungen

Probennahme

Sollte morgens erfolgen auf Grund tageszeitlicher Schwankungen der Konzentration von EPO. Das Maximum liegt um Mitternacht, der Nadir in den Morgenstunden vor.

Bestimmungsmethode

Die Werte der kommerziellen Assays sind gut vergleichbar /1/. Synthetische EPO Präparationen werden erheblich unterschiedlich gemessen auf Grund der Unterschiede in der Struktur und Immugenität.

Präzision: Sie liegt, abhängig vom Test, im Bereich von 5–10 U/l bei einem VK% von 7–24. Erst bei 50 U/l liegen die VK% bei unter 10.

Richtigkeit: Getestet am Standard 87/684, lag diese bei sechs getesteten Assays bei ± 25 %, aber bei einem Assay bei + 200 % /18/.

Referenzbereich

Da der Referenzbereich sehr breit ist und ein signifikanter Anstieg über die obere Referenzbereichsgrenze erst ab einem Hkt unter 0,30 bzw. Hb unter 100 g/l gut messbar ist, muss der Bezug auf eine der beiden Messgrößen erfolgen. Die Erstellung der Bezugskurve auf den Hkt oder die Hb-Konzentration zu der EPO Konzentration kann durch Untersuchung eines Kollektivs aus Patienten mit Eisenmangelanämie, hämolytischer Anämie oder Thalassämia intermedia erfolgen /7/. Eine Altersabhängigkeit des EPO besteht nicht /19/.

Halbwertszeit

Endogenes EPO hat bei normalem Hb-Wert eine Halbwertszeit von 5,2 h und bei Anämikern von 1,5–2,9 h.

Stabilität

Im Serum mindestens 2 Wochen bei Raumtemperatur /20/.

15.10.7 Pathophysiologie

EPO ist in Kombination mit anderen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren ein physiologischer Regulator der Erythropoese (Abb. 15.10-5 – Wirkung von Erythropoetin und anderen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren in der Erythropoese) . Abhängig vom Entwicklungsstadium der erythroiden Vorläuferzelle ist EPO ein Mitogen, ein Inhibitor der Apoptose und ein Differenzierungsfaktor. So benötigen die Zellen der CFU-E den Kontakt mit EPO Molekülen, um nicht der Apoptose anheim zu fallen /21/.

Beim Gesunden wird zirkulierendes EPO von den neuronalen Fibroblasten nahe der proximal tubulären Zellen gebildet und auf translationaler Ebene wird die Synthese in Abhängigkeit von der O2-Sättigung gebildet. Siehe Abb. 15.10-6 – Regelkreis der Wirkung von EPO.

EPO entfaltet seine Wirkung über Rezeptoren (EPOR) auf der Zelloberfläche. Im Mittel hat die erythroide Vorläuferzelle etwa 1.000 Rezeptoren, wobei die Zahl in Abhängigkeit von der Zelldifferenzierung schwankt. Nach Bindung von EPO an seinen Rezeptor resultiert die Proliferation und Differenzierung der erythroidenZelle, die Apoptose wird gehemmt (Abb. 15.14-2 – Homodimerer EPO-Rezeptor).

Das EPO-Molekül bindet an die extrazellulären Komponenten von zwei Rezeptoren unter Bildung eines Homodimers und eine Autophosphorylierung der Janus Tyrosinkinasen 2 (Jak2) erfolgt. Dadurch wird eine Kaskade von Ereignissen zur Signalübertragung von der Zelloberfläche zum Kern des Erythroblasten initiiert. Ein wesentlicher Schritt ist die Phosphorylierung von Tyrosinresten des EPO Rezeptors durch die Januskinase 2 (JAK 2) und die nachfolgende Übertragung durch STAT 5 zum Zellkern.

Nach der Signalübertragung wird der EPO Rezeptor-Komplex internalisiert und degradiert. Werden keine EPO Rezeptoren exprimiert, endet die Entwicklung der erythroiden Vorläuferzelle im Stadium der BFU-E und es erfolgt die Apoptose.

Zwei Gruppen von Mutationen des EPO Rezeptors haben klinische Bedeutung. Siehe auch weiterführend Beitrag 15.4 – Hämatokrit/22/:

  • Der Ersatz von Arginin in Position 129 durch Cystein am extrazellulären Teil des Rezeptors. Die Folge ist eine spontane Dimerisierung des Rezeptors in Abwesenheit von EPO. Es resultiert eine konstante Stimulierung der Vorläuferzellen mit Ausbildung einer Erythrozytose.
  • Die Veränderung des intrazellulären C-terminalen Teils des EPO Rezeptors mit Defizienz der Bindungsstelle für die Phosphatase SHP-1. Physiologischerweise entfernt dieses Enzym Phosphatgruppen von den Tyrosinresten des C-terminalen Rezeptorendes und inaktiviert somit die Signalübertragung. Entfernung der Bindungsstelle für SHP-1 erhöht die Sensitivität der Zelle für EPO und bewirkt eine Erythrozytose.

EPO ist ein Glykoprotein mit einem MG von 30–34 kD. Seine biologische Aktivität ist von der Tertiärstruktur abhängig, die aus vier α-Helices mit zwei langen und einer kurzen Schleife besteht. Endogenes EPO und rekombinantes EPO haben die gleiche Sequenz von 165 Aminosäuren, unterscheiden sich aber in der Glykosilierung. Endogenes EPO ist stärker sauer als rHuEPO und kann durch Isoelektrofokussierung einer Urinprobe vom rHuEPO differenziert werden. Vier Oligosaccharidketten machen 35–40 % des Molmasse aus. rHuEPO ist voll glykosiliert, wenn es im Säugetierzellkulturen, z.B. des chinesischen Hamsters gebildet wird, aber nicht glykosiliert bei der Synthese in E. coli Kulturen /23/.

Die fetale Leber ist der Hauptort der EPO Bildung von der 20. SSW an. Nach der Geburt übernehmen die interstitiellen Zellen der Nieren zunehmend die Bildung von EPO und beim Erwachsenen erfolgen 85 % der täglichen Synthese in den Nieren. Unter normalen Bedingungen wird die Bildung von EPO als Antwort auf eine Reduktion der roten Blutzellmasse (Anämie) oder eine verminderte O2-Sättigung des erythrozytären Hämoglobins (Hypoxämie) aktiviert /24/. Ergebnis der hypoxischen Stimulation ist die vermehrte Bildung von Hypoxia Inducible Factor-1 (HIF-1) in den Nieren. HIF-1 ist der wichtigste Faktor der EPO-Genregulation und stimuliert die EPO-Synthese. Bei HIF-1 handelt es sich um einen globalen Regulator der zellulären und systemischen O2-Homöostase. HIF-1 reguliert außerdem die Gefäßbildung, fördert das Überleben der Zellen unter Ischämie und spielt eine Rolle in der Karzinogenese.

Die Hypoxie-bedingte Expression des Gens für EPO in den peritubulären Fibroblasten der Niere resultiert aus einem Arrangement des Kidney inducible element (KIE) und einem negativen regulatorischen Element (NRE) /23/.

15.10.7.1 Roxadustat

Roxadustat ist ein oraler Hypoxie-induzierter Inhibitor der Prolylhydrolase. Roxadustat erhöht die endogene EPO-Konzentration durch Stabilisierung des Hypoxia inducible factor (HIF; siehe auch Beitrag 15.4) durch Hemmung der Domaine der Prolylhydrolase. Eine Studie /50/ hat gezeigt, dass Roxadustat die Hämoglobinkonzentration erhöht und Ferritin und die Transferrinsättigung vermindert bei Patienten mit Peritonealdialyse, bei denen ein Erythropoetin stimulierendes Reagenz (ESA) abgesetzt und durch Roxadustat ersetzt wurde.

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15.11 Thrombozytenzahl und Thrombozytenindices

Lothar Thomas

Die Thrombozyten sind kernlose, an Granula reiche Zellen mit den Funktionen

  • der Aufrechterhaltung der Hämostase und
  • Ingangsetzung der Gewebereparatur nach Gefäßverletzung und im Entzündungsprozess.

Beim Gesunden bildet das Knochenmark die Anzahl von 1 × 1011 Thrombozyten täglich, etwa die Hälfte der täglichen Bildung von Erythrozyten. Die Megakaryopoese und Thrombozytenbildung werden durch Thrombopoetin reguliert. Die Thrombozyten entstehen bei Fragmentierung der Megakaryozyten, ein Vorgang bei der die Bildung langer zytoplasmatischer Ausläufer, auch Prothrombozyten genannt, umfasst. Siehe auch Beitrag 15.1 – Hämatopoese.

Die Thrombozyten befinden sich im Blut normalerweise im Ruhestadium. Nach einem physiologischen Stimulus durchlaufen sie einen Formwandel mit nachfolgender Adhäsion an einer Oberfläche und anschließender Aggregation. Die dabei auftretenden Veränderungen der Form können in vivo mit physikalischen Methoden als Veränderungen der Oberfläche und mit immunologischen Methoden durch die Messung der Expression von Rezeptoren verfolgt werden. Bei der Aggregation der Thrombozyten oder nach starker Stimulierung degranulieren die Thrombozyten und die Membran der Granula gelangt an die Oberfläche des Thrombozyten. Dadurch werden Neoantigene in Form von Glykoproteinen auf den aktivierten Thrombozyten exprimiert. Labordiagnostisch können diese Vorgänge durch die Kombination von Immunfluoreszenz und Flowzytometrie erkannt werden. Aber auch schon die Flowzytometrie allein erkennt Veränderungen der Gestalt der Thrombozyten. So zeigen Änderungen im Vorwärtsstreulicht einen Wechsel im Thrombozytenvolumen und Änderungen im Seitwärtsstreulicht die Granularität an.

Zu den Thrombozyten siehe auch:

15.11.1 Indikation

  • Unklare Blutungen, z.B. von Willebrand-Erkrankung.
  • Ausschluss einer Blutungsneigung.
  • Kontrolle bei Bestrahlungen, unter zytostatischer Therapie und Heparintherapie.
  • Vorliegen einer Erythrozytose.
  • Splenomegalie.
  • Verdacht auf Knochenmarkerkrankung (Myelophthise, Myeloproliferation).
  • Verdacht auf Destruktion, Verbrauch oder reaktive Vermehrung der Thrombozyten.

15.11.2 Thrombozytenzählung

Die Zählung der Thrombozyten erfolgt in der Regel mit der Bestimmung des Blutbildes mit Hämatologie Analyzern.

15.11.2.1 Kammerzählung

Prinzip: Venöses Blut oder Kapillarblut wird mit einer hypotonen Lösung, die einen Aggregationshemmer für Thrombozyten (1 %ige Ammoniumoxalat Lösung) enthält, verdünnt. Das geschieht in einer Pipette, die bis zur Marke 1 mit Blut und bis zur Marke 101 mit Verdünnungslösung (1 %ige Ammoniumoxalat Lösung) aufgezogen wird. Zwecks Hämolyse wird die verschlossene Pipette rotieren gelassen. Die Zählung kann in der Neubauer-Kammer oder der Thoma-Kammer erfolgen. Vor Beginn der Zählung die Thrombozyten für 10 min in der Kammer sedimentieren lassen /1/. Die Kammerzählung unter Benutzung eines Phasenkontrastmikroskopes ist Referenzmethode /2/.

15.11.2.2 Hämatologie Analyzer

Die Bestimmung kann nach der Impedanz-Methode, der optischen Methode oder in Form des Immunoplatelet Counting erfolgen. Bei der optischen Methode werden eindimensionale und zweidimensionale Verfahren unterschieden. Einige Hämatologie Analyzer messen nach der Impedanz- und der optischen Methode.

Impedanz-Methode

Die Thrombozyten werden gezählt unter Anwendung der elektrischen Widerstandsmessung (Impedanz)-Zählmethode. Unterbricht ein Thrombozyt, der durch eine Kapillare wandert, den angelegten Stromkreis, wird ein Impuls ausgelöst. Thrombozyten und Erythrozyten werden aus der gleichen Zellsuspension bestimmt. Bei den Thrombozyten erfolgt die Zählung der Impulse in einem Fenster von 2–20 fl, bei den Erythrozyten über 36 fl. Die mittlere Größe aller Impulse im Thrombozyten im Histogramm wird als Thrombozytenvolumen (Mean Platelet Volume, MPV) angegeben /3/.

Eindimensionale optische Methode

Eine Laserdiode erzeugt monochromatisches Licht, das in einem Winkel von 2–3° auf die Durchflusszelle gelenkt wird. Nach der Mie-Streulichttheorie ist die Intensität des monochromatischen Lichtes, das von einem homogenen Partikel gestreut wird, von dessen Volumen und der Differenz im Refraktionsindex zwischen dem Partikel und seinem umgebenden Medium abhängig. Die Thrombozytenzahl wird über die auftretenden Streulichtimpulse ermittelt, das MPV über die Streulichtintensität /3/.

Zweidimensionale optische Methode

Das Prinzip entspricht der eindimensionalen Methode. Durch Einsatz eines Detergens wird den Thrombozyten jedoch eine sphärische Struktur aufgezwungen und das Streulicht wird in zwei Winkeln, einem niedrigen von 2–3° und einem hohen von 5–15° gemessen.

Mit der zweidimensionalen Streulicht Methode können im Vergleich zu den anderen Methoden besser voneinander differenziert werden: Normal große Plättchen, große Plättchen (20–30 fl), rote Blutzell (RBC)-Fragmente, RBC-Ghosts, Mikrozyten und zellulärer Debris /4/.

Kombination von Impedanzmethode und optischer Methode

Einige Hämatologie Analyzer führen beide Zählmethoden durch, um insbesondere bei niedriger Thrombozytenzahl zwischen Thrombozyten und anderen Partikeln zu unterscheiden. Bei niedriger Thrombozytenzahl und der Präsenz von anderen Partikeln zeigt die Impedanzmessung im Vergleich zur optischen Messung einen Bias zu höheren Werten, weil auch andere Partikel erkannt werden /5/.

Immunoplatelet counting

Bei diesem Konzept werden monoklonale Antikörper zur Identifizierung der Thrombozyten eingesetzt. Angewendet werden Antikörper gegen CD41 (GPIIb), CD42 (GPIb) und CD 61 (GPIIIa). Die Bestimmung erfolgt am Durchflusszytometer. Die Thrombozytenzahl wird aus dem Verhältnis von ermittelten Fluoreszenz Ereignissen und der Anzahl roter Blutzellen kalkuliert (RBC ratio), die an einem Blutzell-Analyzer mittels Impedanzzählung ermittelt werden. Die Thrombozytenzahl wird berechnet durch Multiplikation der RBC ratio mit der Zahl der roten Blutzellen. Der Vorteil der RBC ratio ist, dass die Thrombozytenzählung unabhängig von Verdünnungs- und Pipettierfehlern ist /6/. Eine alternative Methode ist das Hinzufügen einer konstanten Menge von Latexpartikeln zur Probe. Die Anzahl der Latexpartikel wird durch Impedanzzählung bestimmt und darauf die Plättchen-bedingten Fluoreszenzereignisse bezogen /7/.

15.11.3 Thrombozyten Indices

Neben der Thrombozyzenzahl bestimmen oder ermitteln Hämatologie Analyzer das mittlere Plättchenvolumen (MPV), den Platelet Crit (PCT) und die Platelet Distribution Width (PDW). Der Advia 120 bestimmt zusätzlich die Mean platelet component concentration (MPC), die Platelet component distribution width (PCDW), die Mean platelet mass (MPM) und die Platelet mass distribution width (PMDW). Änderungen der MPC sind ein Gradmesser der Plättchenaktivierung. Die Verbreiterung der PDW zeigt eine hyperregenerative Thrombopoese an.

15.11.3.1 Immature Platelet Fraction (IPF)

Die Bestimmung der IPF (unreife Thrombozytenfraktion) dient der Abklärung von Thrombozytopenien.

Verfahren: Die flowzytometrische Bestimmung erfolgt z.B. am Sysmex XE-2100 unter Anwendung der Fluoreszenzfarbstoffe Polymethin und Oxazin. Beide Farbstoffe penetrieren die Zellmembran des Thrombozyten und markieren die RNA in Thrombozyten und roten Blutzellen. Die markierten Zellen werden durch einen Semiconductor Dioden Laserstrahl gelenkt und die resultierende Vorwärtsstreuung (Plättchenvolumen) und die Fluoreszenzintensität (Plättchen-RNA-Gehalt) registriert. Ein computerisierter Algorithmus diskriminiert die IPF von der reifen Thrombozytenfraktion. Die IPF wird als relativer Anteil an der gesamten Thrombozytenfraktion angegeben.

15.11.4 Untersuchungsmaterial

  • EDTA-Blut: 1 ml
  • Kapillarblut (EDTA-beschichtete Kapillare): 0,02 ml

15.11.5 Referenzbereich

Siehe Lit. /8, 9, 10, 11/ und Tab. 15.11-1 – Referenzbereich der Thrombozyten.

15.11.6 Bewertung

Das hämostatische System besteht aus Gerinnungsfaktoren, der Gefäßwand und den Thrombozyten. Die aus dem Knochenmark entlassenen Thrombozyten haben in der Zirkulation eine Lebenszeit von 7–10 Tagen, ehe sie von den Makrophagen des retikuloendothelialen Systems entfernt werden. Beim Gesunden sind etwa ein Drittel der gesamten Thrombozyten in der Milz, die restlichen zirkulieren. Der Milzpool an Thrombozyten ist rasch verfügbar und es besteht ein freier Austausch mit den Thrombozyten in der Zirkulation.

Zur Erfüllung ihrer hämostatischen Funktion müssen die Thrombozyten nicht nur voll funktionsfähig sein, sondern ihre Zahl muss in gewissen Grenzen liegen. Vom Kliniker wird eine Thrombozytenzahl von (100–400) × 109/l als normal gehalten und nur gelegentlich zeigen klinisch Gesunde Werte darunter oder darüber. Bei Thrombozytopenien ≤ 10 × 109/l besteht die Gefahr der Blutung und bei Thrombozytosen ≥ 450 × 109/l ist die Gefahr thrombotischer Ereignisse erhöht.

Da bei vielen Erkrankungen die Bestimmung des Blutbildes mit Hämatologie Analyzern durchgeführt wird, ist die Entdeckung von Thrombozytopenien und Thrombozytosen weitaus häufiger als die klinischen Fälle mit hämostaseologischer Symptomatik.

15.11.6.1 Thrombozytosen

Die Begriffe Thrombozythämie und Thrombozytose werden synonym verwendet und sind nicht eindeutig definiert. Vielfach wird darunter eine Erhöhung der Thrombozytenzahl über 450 × 109/l verstanden. Personen mit Werten von (350–450) × 109/l bedürfen der Kontrolle. Das Ausmaß der Thrombozytose wird abhängig von der Thrombozytenzahl arbiträr klassifiziert in /12/:

  • Mild bei (450–700) × 109/l.
  • Moderat bei (700–900) × 109/l.
  • Schwer bei über 900 × 109/l.

Thrombozytosen werden auf Grund der Ätiologie eingeteilt in:

  • Hereditäre oder familiäre Formen.
  • Klonale Formen, sie sind mit myeloproliferativen oder myelodysplastischen Erkrankungen assoziiert.
  • Sekundäre Formen. Es handelt sich um reaktive Thrombozytosen.

Klonale Thrombozytosen werden als primäre Formen bezeichnet. Da thrombo-embolische Ereignisse häufiger bei primären Thrombozytosen auftreten ist eine Differenzierung primärer von sekundären Formen wichtig.

15.11.6.1.1 Primäre Thrombozytosen

Primäre Thrombozytosen sind die Folge myeloproliferativer und myelodysplastischer Erkrankungen oder sie sind familiär bedingt. Hereditäre Ursachen sind entweder aktivierende Mutationen im Gen MPL, das den gleichnahmigen Rezeptor der Megakaryozyten und Thrombozyten kodiert oder es handelt sich um aktivierende Mutationen im Gen TPHO, das Thrombopoetin kodiert.

15.11.6.1.2 Sekundäre Thrombozytosen

Es liegt entweder eine vermehrte Bildung von Thrombozyten auf Grund eines Stimulus vor oder Thrombozyten sind aus dem Milzpool in die periphere Zirkulation entlassen worden. Die vermehrte Freisetzung aus dem Milzpool erfolgt z.B. bei körperlicher Anstrengung, Stress oder der Verabreichung von Katecholaminen.

Die Thrombozytopoese im Knochenmark wird angeregt durch den peripheren Verlust von Thrombozyten, z.B. immunologisch, septisch, durch Blutverlust oder onkogen bedingt. Sekundäre Thrombozytosen lösen praktisch nie eine Thrombose aus. Nach überstandener Erkrankung fällt die Thrombozytenzahl wieder ab. Im Knochenmark sind die Megakaryozyten bei den sekundären Thrombozytosen vermehrt und selten dysmorph. Die im peripheren Blut auftretenden großen Thrombozyten sind rund, die Funktion ist normal und die Thrombozyten neigen nicht zur spontanen Aggregation wie bei den primären Thrombozytosen /12/. Etwa 88 % der Thrombozytosen über 500 × 109/l sind sekundärer Natur und beruhen vorwiegend auf einem inflammatorischen Geschehen /13/.

Die Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Thrombozytose sind aufgezeigt in Tab. 15.11-2 – Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Thrombozytose.

15.11.6.2 Thrombozytopenien

Unter Thrombozytopenie wird eine Verminderung der Zahl auf < 100 × 109/l verstanden.

Bedrohliche Blutungskomplikationen treten aber nicht auf /14/:

  • Bei ambulanten Patienten mit aplastischer Anämie und Zahlen, die ≥ 5 × 109/l betragen.
  • Nach kleineren operativen Eingriffen bei Patienten mit Fieber > 38 °C oder nach Transfusion von Thrombozyten auf Grund kürzlich zurückliegender Blutung Grad 3 nach WHO, wenn die Zahl ≥ 10 × 109/l betrug.

Ein wichtiger Punkt für eine solche Entscheidung ist die Richtigkeit der Thrombozytenzählung bei Werten in dieser Größenordnung /5/. Der Nutzen der Thrombozytengabe bei Patienten mit Thrombozytenzahlen ≥ 5 × 109/l, die nicht bluten, ist nicht belegt.

Häufige Befunde bei Thrombozytopenien sind Petechien, Purpura, milde bis moderate Schleimhautblutungen, bilaterale Epistaxis, gastrointestinale, pulmonale und urogenitale Blutungen. Charakteristisch sind symmetrische Petechien und Purpura der Haut sowohl des Körperstamms als auch der Extremitäten.

Im klinischen Alltag ist die Thrombozytopenie ätiologisch häufig mit der Einnahme von Medikamenten, Chemotherapie, Sepsis, disseminierter intravasaler Gerinnung oder massiver Bluttransfusion assoziiert. Jede Thrombozytopenie bedarf labordiagnostisch der Bestätigung durch eine weitere Zählmethode und der Untersuchung eines Blutausstrichs.

Ätiologien der Thrombozytopenie sind:

  • Die verminderte Thrombozytenbildung.
  • Ein erhöhter Thrombozytenumsatz.
  • Die gestörte Verteilung oder Verdünnungs bedingte Erhöhung des Plasmavolumens.
  • Eine Pseudothrombozytopenie.

Befunde zur Differenzierung der Ätiologie zeigt Tab. 15.11-3 – Differenzierung des Mechanismus der Thrombozytopenie.

15.11.6.2.1 Verminderte Thrombozytenbildung

Die verminderte Bildung ist relativ selten (Kinder < 5 %, Erwachsene < 10 %). Die Ätiologie der Thrombozytopenien sind /15/:

  • Hereditäre Formen, z.B. Wiskott-Aldrich Syndrom, Chediak-Higashi Syndrom, Syndrome of absent radius, Alport Syndrom, Fechtner Syndrom, Trousseau Syndrom, May-Hegglin Anomalie, v. Willebrand Erkrankung Typ IIB, Bernard-Soulier Syndrom, Gray Platelet Syndrome, Plättchen-Typ von Willebrand Syndrom, mediterrane Makrothrombozytopenie, reine genetische Thrombozytopenie (Makrothrombozyten).
  • Krankheits- und Therapie bedingte passagere Thrombozytopenien nach Chemotherapie von malignen hämatologischen Neoplasien oder nach der Knochenmarkinfiltration solider Tumoren, nach Stammzellschädigung durch Bestrahlung oder Pharmaka. Die Thrombozytenzahl sollte ≥ 10 × 109/l betragen und bei nekrotisierenden Tumoren ≥ 50 × 109/l.
15.11.6.2.2 Erhöhter Thrombozytenumsatz

Die Zerstörung von Thrombozyten in der Zirkulation ist die häufigste Ursache der Thrombozytopenien. Unterschieden werden zwei wesentliche Formen:

  • Immunthrombozytopenie (ITP). Es handelt sich um eine verstärkte Clearance von Thrombozyten aus der Zirkulation, bedingt durch Thrombozyten-assoziiertes IgG und Komplement Aktivierung. ITPs sind Komplikationen bei HIV- und Hepatitis C-Infektion und nach der Behandlung von Patienten mit Helicobacter pylori-Infektion. Auch verursachen Medikamente eine ITP /16/. Eine Auswahl ist aufgeführt in Tab. 15.11-4 – Medikamenten-assoziierte Autoimmun-Thrombozytopenie.
  • Nicht immun bedingt: Disseminierte intravasale Gerinnung (DIC), Sepsis, hämolytisch urämisches Syndrom, thrombotisch thrombozytopenische Purpura, intraoperativ, nach multiplen Bluttransfusionen.

Bei erworbenen Thrombozytopenien durch Zerstörung oder Verbrauch in der Peripherie handelt es sich meist um schwere Formen. Die Thrombozytenzahl ist stark erniedrigt, das MPV idie Thrombozytenfunktion sind normal, aber die Lebenszeit der Thrombozyten ist verkürzt. Das Knochenmark zeigt eine hyperregenerative Megakaryopoese.

15.11.6.2.3 Verteilungs- und Verdünnungs bedingte Thrombozytopenie

Patienten mit Splenomegalie sequestrieren Thrombozyten. Der Hypersplenismus bewirkt milde Thrombozytopenien von (50–100) × 109/l. Ursache ist die Speicherung von bis zu 90 % der Thrombozyten in der vergrößerten Milz. Die Lebenszeit der Thrombozyten ist nur wenig verkürzt, was anzeigt, dass sie nur sequestriert aber nicht zerstört werden. Bei Patienten mit Splenomegalie und Leberzirrhose beruht die Thrombozytopenie weniger auf der Sequestration der Thrombozyten in der Milz, sondern auf der verminderten Bildung von Thrombopoetin in der Leber /17/.

Die Thrombozytopenie durch Verdünnung beruht auf einer Transfusionstherapie bei massivem Blutverlust.

15.11.6.2.4 Thrombozytopenie und Thrombozyten­transfusion

Zur Substitution von Thrombozyten stehen folgende Thrombozyten­konzentrate (TK) zur Verfügung /17/:

  • Gepoolte Einheiten von 4–6 Spendern mit (240–360) × 109 Thrombozyten in 200–350 ml Plasma oder Plasmaersatzlösung.
  • Apherese TK eines Einzelspenders mit (200–400) × 109 Thrombozyten in 200–300 ml Plasma.

Ein TK enthält < 3 × 109 Erythrozyten und < 1 × 106 Leukozyten. Nach Transfusion beträgt die Wiederfindung der Thrombozyten im peripheren Blut nur 60–70 %, da der Rest in der Milz festgehalten wird. Bei Sepsis, disseminierter intravasaler Gerinnung oder Präsenz von Thrombozyten Antikörpern ist die Wiederfindung geringer. Frische Spenderthrombozyten sind im peripheren Blut 7–10 Tage nachweisbar. Die Thrombozytenzahl sollte vor, 1 h nach und 20 h nach Transfusion gemessen werden. Liegt ein refraktärer Zustand vor, so beträgt der Anstieg nach 1 h < 7,5 × 109/l und nach 20 h < 4,5 × 109/l. Empfehlungen zur Transfusion gibt Tab. 15.11-5 – Empfehlung zur Thrombozytentransfusion.

Kritisch Kranke haben häufig Störungen der Hämostase. Eine schwere Thrombozytopenie < 50 × 109/l lag in einer Multicenter Studie /18/ zu 13,7 % vor. 35,4 % der Patienten mit schwerer Thrombozytopenie starben auf der Intensivstation. Die Gabe von Thrombozytenkonzentraten war sehr inkonsistent. Etwa 40 % der Transfusionen erfolgten bei einer Thrombozytenzahl > 50 × 109/l und 34 % obwohl bei dieser Thrombozytenzahl am Tag der Transfusion keine signifikante Blutung vorlag. Bei einer Transfusion von im Mittel 1,7 Einheiten betrug der Thrombozytenanstieg im Mittel 18,5 × 109/l [Interquartile range (2,0–35,5) × 109/l].

Bei Patienten mit schwerer Thrombozytopenie und einer Plättchenzahl von [(10–50) × 109/l] beeinflusste die Nichtgabe von Thrombozytenkonzentrat bevor ein zentraler Venenkatheder gelegt wurde, nicht den unteren Grenzwert, noch führte dies zu mehr Blutungsereignissen /63/.

15.11.6.3 Erkrankungen mit Thrombozytosen und Thrombozytopenien

15.11.6.4 Mittleres Plättchenvolumen (MPV)

Das MPV kann in Kombination mit der Verteilungsbreite der Thrombozyten eingesetzt werden, um Zustände mit verminderter Bildung von solchen mit vermehrter Zerstörung der Thrombozyten zu unterscheiden.

15.11.6.4.1 Akute Blutung

Bei einer deutlichen Verminderung der Thrombozytenzahl ist das MPV erhöht und die Platelet Distribution Width (PDW) verbreitert.

15.11.6.4.2 Bildungsstörung der Thrombozyten

Bei aplastischer Anämie, megaloblastärer Anämie, Chemotherapie maligner Tumoren, akuter Leukämie, systemischen Lupus erythematodes sind die Thrombozytenzahl und das MPV vermindert. Die PDW ist verbreitert. Bei Besserung des klinischen Bildes oder nach Chemotherapie erfolgt ein Anstieg des MPV vor der Thrombozytenzahl.

15.11.6.4.3 Immunthrombozytopenie

Das MPV und die PDW sind normal.

15.11.6.4.4 Hereditäre Thrombozytopenie

Alle Thrombozytopenien mit X-gebundener rezessiver Vererbung haben ein geringes MPV mit einer links verschobenen log-normalen Volumenverteilung, z.B. Wiskott-Aldrich Syndrom.

Hereditäre Thrombozytopenien mit Makrothrombozyten und erhöhter PDW /15/: Alport Syndrom, May-Hegglin Anomalie, Sebastian Anomalie, v. Willebrand Typ IIB Erkrankung, Bernard-Soulier Syndrom, mediterrane Makrothrombozytopenie, autosomal dominante Thrombozytopenie /15/.

15.11.6.4.5 Reaktive Thrombozytose

Unter reaktiven Bedingungen mit Erhöhung der Zahl an Thrombozyten durch Ausschüttung aus dem Milzpool, wie das bei Infektionen, Tumoren, rheumatoider Arthritis, Pankreatitis oder nach operativen Eingriffen der Fall ist, sind MPV und PDW normal. Bei myeloproliferativen Syndromen kann das MPV erhöht und die PDW verbreitert sein.

15.11.6.4.6 Splenektomie

Thrombozytenzahl und MPV können erhöht, die PDW verbreitert sein.

15.11.6.4.7 MPV, Stoffwechsel und ischämische Herzerkrankung

Thrombozyten mit höherem MPV haben im Vergleich zu denjenigen mit normalen Werten eine höhere Stoffwechsel Aktivität und ein höheres thrombotisches Potential. Ein erhöhtes MPV ist mit der Obesitas, dem Diabetes mellitus und ischämischen kardiovaskulären Ereignissen assoziiert. In einer Studie /20/ hatten Patienten mit akutem Koronarsyndrom ein höheres MPV und eine niedrigere Thrombozytenzahl als gesunde Kontrollen und Patienten mit stabiler Angina. So betrugen die Mittelwerte bei jeweils 60 Untersuchten:

  • Gesunde Kontrollen; 257 × 109/l, MPV 9,1 fl.
  • Stabile Angina; 267 × 109/l, MPV 10,0 fl.
  • Akutes Koronarsyndrom; 201 × 109/l, MPV 11,0 fl.

15.11.6.5 Immature Platelet Fraction (IPF)

Bei Thrombozytopenien ist die Unterscheidung wichtig, ob diese aus einem Versagen oder einer Hemmung des Knochenmarks, einem erhöhten peripheren Verbrauch von Thrombozyten oder einer peripheren Zerstörung der Thrombozyten resultieren. Bei den letzteren beiden Ursachen schüttet das Knochenmark unreife Thrombozyten mit einem hohen RNA Gehalt aus. Diese Thombozyten sind das Plättchenanalog der Retikulozyten bei der Erythropoese und werden auch als Reticulated platelets bezeichnet. Reticulated platelets sind identisch mit der IPF.

Der Anteil der Reticulated platelets bzw. die IPF reflektiert die Rate der Thrombopoese. Der Referenzbereich der IPF beträgt 1,1–6,1 %. Eine besonders hohe IPF wird bei der autoimmunen Thrombozytopenie (9,2–33,1 %) und der akuten thrombozytopenischen Purpura (11,2–30,9 %) nachgewiesen.

Unter adäquater Therapie fällt die IPF ab und die Thrombozytenzahl steigt an /19/.

15.11.7 Hinweise und Störungen

Bestimmungsmethode

Die Zählung der Thrombozyten mit Hämatologie Analyzern zeigt bei thrombozytopenischen Patienten Abweichungen bei den verschiedenen Zählmethoden. Ursachen sind:

  • Die Unfähigkeit zwischen Thrombozyten, fragmentierten Erythrozyten und Mikrozyten zu unterscheiden. Auch können bei chronisch lymphatischer Leukämie Fragmente von Kernen und Zytoplasma der Lymphozyten als Thrombozyten mitgezählt werden.
  • Makrothrombozyten werden bei der Impedanzzählung und den eindimensionalen optischen Methoden von der Thrombozytenzählung ausgeschlossen.
  • Pseudothrombozytopenie wird häufig durch Verklumpung von Thrombozyten verursacht, die Pseudothrombozytose verursacht durch die Fragmentierung von roten Blutzellen ist selten.

Lipämie

Die Thrombozytenzahl wird mit der Fluoreszenzmethode, der optischen Methode und der Impedanzmethode gemessen. Die Fluoreszenzmethode misst die wahre Throbozytenzahl in lipämischen Proben besser als die optische Methode und die Impedanzmethode /61/.

Immunoplatelet counting

Auch das Immunoplatelet counting ist nicht frei von Nachteilen. So können /6/:

  • Plättchenaggregate, Plättchenkomplexe mit Leukozyten und Makrothrombozyten am Flowzytometer zu Gating-Problemen führen.
  • Antikörper abhängig (CD 41, CD 42b, CD 61) beim Bernard-Soulier Syndrom und der Thrombasthenia Glanzmann keine Thrombozyten gezählt werden.
  • Autoantikörper gegen Thrombozyten bei Patienten, die eine Therapie gegen Glykoproteine, z.B. Anti-GP IIb/IIIa (Reopro) haben, die Bestimmung stören.

Kontrolle der Thrombozytenzählung

Bei klinisch unklarer Thrombozytopenie muss das Labor mit einem anderen Verfahren nochmals bestimmen.

Referenzbereich

Geschlecht, genetischer Hintergrund und besonders das Alter sind wesentlich für den Referenzbereich der Thrombozyten. Der Alterseffekt ist sehr viel größer als der von Geschlecht und Ethnie. Die Referenzintervalle (2,5 und 97,5 Perzentile) in der globalen Bevölkerung sind wie folgt (× 109/l): Alle unter 15 J. 176–452; Frauen 15–64 J. 156–405; Männer 15–64 J. 141–364: Frauen > 64 J. 140–379; Männer > 64 J. 122–350 /22/.

Pseudothrombozytose

Abnorm gestaltete Erythozyten in Form der Sphärozyten, Mikrosphärozyten und Zellen mit Ausstülpungen können die Ursache einer Pseudothrombozytose bei Patienten mit schweren Verbrennungen sein. Die Hitze-bedingte Zerstörung der Zellmembran der roten Blutzelle kann Zellen von kleiner Gestalt generieren, die dann inkorrekt als Thrombozyten von den Blutzellcountern gezählt werden /62/.

Intraindividuelle Variation

VK im Tagesablauf 6,7 %, von Tag zu Tag 11,5 %, von Monat zu Monat 10,6 % /21/.

Stabilität

Die Thrombozytenzahl ist bei Raumtemperatur mindestens 24 h stabil, an einigen Hämatologie Analyzern bis zu 168 h.

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15.12 Leukozytenzahl

Lothar Thomas

Leukozyten werden im Knochenmark und Lymphorganen gebildet, benutzen die Blutbahn als Transportweg und üben ihre Wirkung in den Geweben aus. Unterschieden werden:

  • Neutrophile Granulozyten; sie sind im Gefäßsystem in zwei Pools von etwa gleicher Größe aufgeteilt. Nur die Zellen des zirkulierenden Pools werden bei der Blutentnahme erfasst, nicht aber der Randpool, in dem die Zellen locker an die Gefäßintima adhäriert sind. Zwischen Randpool und zirkulierendem Pool besteht ein konstanter Austausch von Zellen. Die Lebenszeit der neutrophilen Granulozyten im Blut ist 21 h, die Lebenszeit im Gewebe 4–5 Tage. Neutrophile Granulozyten sind phagozytierende Zellen und stehen in vorderster Front in der Abwehr infektiöser Erreger. Siehe Beitrag 19.7 – Granulozyten-Funktionsprüfung.
  • Eosinophile Granulozyten; diese Zellen starten die Synthese ihrer granulären Proteine beim Übergang vom eosinophilen Myeloblasten zum Promyelozyten. Interleukin-5 ist ein wichtiger Überlebensfaktor in der Reifung der Eosinophilen und verhindert die Apoptose. Die Eosinophilen reagieren auf immunologische Stimuli und sind wichtige Effektorzellen in allergisch und parasitär inflammatorischen Geschehen. Sie zirkulieren nur wenige Stunden im Blut bevor sie in die Gewebe übertreten.
  • Basophile Granulozyten differenzieren wie die Eosinophilen von agranulären Progenitorzellen und verlassen als reife Zellen das Knochenmark. In den Geweben halten sie sich in den kleinen Blutgefäßen und postkapillären Venulen auf und wandern nach einem Stimulus in das Interstitium. Sie spielen eine wichtige Rolle in der frühen Phase der IgE-vermittelten allergischen Reaktion. Bei Kontaktallergien setzen in der Haut lokalisierte basophile Granulozyten über Tage den Inhalt ihrer Granula frei.
  • Monozyten zirkulieren im Blut mit einer Transitzeit von 14 h und sind wie die neutrophilen Granulozyten auf zwei Pools verteilt. Nach Übertritt in die Gewebe können die Zellen aktiviert werden und transformieren dann in metabolisch aktive Makrophagen. Sowohl durch Phagozytose von Entzündungs Erregern, als auch durch die Bildung proinflammatorischer Zytokine und die Aktivierung des Immunsystems erfolgt die von Makrophagen gestützte Immunabwehr.
  • Lymphozyten umfassen B-Zellen, T-Zellen und Natural Killer (NK)-Zellen. Die Zellen sind morphologisch nicht unterscheidbar. Siehe auch Kapitel 21 – Immunsystem.

15.12.1 Indikation

Die Bestimmung der Leukozytenzahl und der Subpopulationen ist indiziert bei:

  • Erstuntersuchungen im Rahmen des maschinellen Blutbildes.
  • Verdacht auf hämatologische Erkrankung (abnorme Blutzellzahl, Hämolyse, Thrombose, Lypmphknotenschwellung, Splenomegalie)
  • Entzündung, Infektion, Gewebsnekrose, toxische Störung der Hämatopoese (Medikamente, Bestrahlung).
  • Fieber, Schock, Atembeschwerden, abdominellen Schmerzen, Beschwerden im Urogenitalbereich, Kopfschmerz, Bewusstseinsstörung.
  • Häufung bakterieller Infektionen.
  • Allergischen Erkrankungen und Helminthosen.
  • Verlaufs- und Therapiebeurteilung der genannten Symptome und Beschwerden.

15.12.2 Bestimmungsmethode

Automatisierte Hämatologie Analyzer mit einem breiten Spektrum an Parametern und einem hohen Probendurchsatz werden in der klinischen Routine eingesetzt.

15.12.2.1 Kammerzählung

Blutverdünnung in Mischpipette aus 1 Teil Blut und 10 Teilen Verdünnungslösung (Essigsäure 1–3 % oder Türk’scher Lösung) herstellen und gut mischen. Dadurch werden die Erythrozyten hämolysiert und die Leukozytenkerne besser lichtbrechend. Zählkammer, z.B. Neubauer Kammer, mit verdünnter Probe füllen und 4 Eckquadrate (4 mm2) auszählen. Leukozytenzahl (109/l) = Summe der insgesamt gezählten Zellen × 25 × 106. Der Variationskoeffizient der Kammerzählung liegt bei niedrigen Leukozytenzahlen um 15 % und verbessert sich bei normalen oder erhöhten Zahlen bis auf 6,5 %. Zur Überprüfung der Richtigkeit von Zellzählungen an den Hämatologie Analyzern ist die Kammerzählung nicht ersetzbar.

15.12.2.2 Hämatologie Analyzer

Die Zählung und Differenzierung der Leukozyten erfolgt optisch, durch eine Kombination von Impedanz und optischer Methode oder durch die Kombination von optischer Methode und zytochemischer Reaktion. Zuvor werden jedoch die Erythrozyten mit einem Detergens zerstört /12/.

Volumen-Konduktivität-Streulicht Technologie

Eine spezifische Menge Erythrozyten freier Zellsuspension fließt durch eine schmale Apertur, die zwischen zwei Elektroden gelegen ist. Passiert eine Zelle die Apertur, wird ein momentaner Anstieg der Impedanz in Form eines elektrischen Impulses registriert. Die Amplitude des Pulses ist dem Zellvolumen proportional. Es werden die Impulse von Zellen mit einem Volumen über 35 fl registriert.

Zur Differenzierung der Leukozyten werden z.B. durch Konduktivitäts Messung, unter Anwendung von hochfrequentem Wechselstrom, die intrazellulären Bestandteile wie Kernstruktur und Kern/Plasma-Relation erfasst. Durch die zusätzliche Messung der Streuung von Laserlicht werden die Oberflächenstruktur und die Granularität der Zelle registriert. Insgesamt können durch die simultane Messung von Volumen, Konduktivität und Streulicht die Zellen den fünf Leukozytenpopulationen Lymphozyten, Monozyten, neutrophile, eosinophile und basophile Granulozyten zugeordnet werden. Die Ergebnisdarstellung erfolgt in einem zwei- oder dreidimensionalen Histogramm. Auf der x-Achse wird die Laserlichtstreuung, auf der y-Achse das Volumen und auf der z-Achse die Konduktivität aufgetragen (Abb. 15.12-1 – Hämatogramm der Leukozytendifferenzierung nach dem Volumen-Konduktivitäts-Streulicht Prinzip).

Durchflusszytometrie und Zytochemie: Diese Systeme führen die Differenzierung der Zellen in zwei separaten Kanälen durch, die als Peroxidase- und Basophilen/Lobularitäts-Kanal bezeichnet werden. Im Peroxidasekanal erfolgt die Differenzierung der Leukozyten auf Grund ihrer Größe und des Myeloperoxidase (MPO) Gehalts. Im Leukogramm werden die Leukozyten in einem Koordinatensystem als Wolken dargestellt, wobei die MPO auf der x-Achse und das Volumen auf der y-Achse aufgetragen wird. Große Zellen mit hohem MPO-Gehalt, wie neutrophile Granulozyten, sind im Hämogramm rechts oben, kleine MPO freie Zellen wie Lymphozyten links unten aufgeführt. Die Differenzierung der Basophilen geschieht nach Entfernung des Zytoplasmas durch sauren Puffer und Zählung der Kerne (Nukleogramm) im Basophilen-/Lobularitäts-Kanal. Siehe Abb. 15.12-2 – Hämatogramm der Leukozytendifferenzierung von kombinierter Durchflusszytometrie- und Zytochemie-Technik.

15.12.2.3 Blutausstrich

Zelldifferenzierung siehe Beitrag 15.13 – Blutausstrich.

15.12.3 Untersuchungsmaterial

  • EDTA-Blut: 1 ml
  • Kammerzählmethode, Kapillarblut: 0,1 ml

15.12.4 Referenzbereich

Siehe Lit. /3, 4, 5, 6, 7, 8/ und Tab. 15.12-1 – Referenzbereiche der Leukozyten. Referenzbereiche für die Subpopulationen von Lymphozyten bei Kindern siehe Lit. /73/.

15.12.5 Bewertung

Das stufenweise hämatologische Vorgehen ist wichtig bei Patienten, wenn bei Untersuchungen eine abnorme Zahl von Leukozyten bestimmt wird.

15.12.5.1 Klassifizierung abnormer Leukozytenzahlen

Bei Patienten mit einer pathologischen Zahl an Leukozyten sollte weiterführend nochmals ein Blutbild inklusive eines Differentialausstrichs durchgeführt werden. Im maschinell erstellten Differentialzellbild sollten die differenzierten Leukozyten in absoluten Zahlen angegeben werden. Der Differentialausstrich wird untersucht auf atypische Zellen, neoplastische Zellen und Parasiten.

Leukozytenzahl

Leukozytenzahlen von (10–4) × 109/l werden im Rahmen einer Screening-Untersuchung als sicher normal, von (4–2,5) × 109/l als grenzwertig und unter 2,5 × 109/l als sicher pathologisch eingestuft. Raucher können Werte bis 12 × 109/l, starke Raucher bis zu 15 × 109/l haben. In einer Untersuchung hatten Nichtraucher Werte von im Median 6,1 × 109/l, die von Rauchern lagen 10 % höher /7/.

Veränderungen der Leukozytenzahl beruhen vorwiegend auf einer Änderung der Anzahl von polymorphkernigen neutrophilen Granulozyten (PMN) oder von Lymphozyten. Die PMN haben beim Gesunden einen relativen Anteil von 40–75 % an der Leukozytenzahl. Bei den Leukozytosen stehen ursächlich die Infektionen im Vordergrund. So ist die typische akute Infektion gekennzeichnet durch folgende Abläufe: Neutrophile Kampfphase, monozytäre Überwindungsphase und lymphozytär eosinophile Heilphase. Bei den chronischen Infektionen kann jede der drei Phasen fortbestehen, je nachdem, ob die akute (Neutrophilie), subakute oder remittierende (Monozytose) oder chronische (Lymphozytose) Phase fortbesteht. Virusinfektionen und gewisse bakterielle Infektionen, wie Typhus abdominalis, folgen gewöhnlich nicht dem geschilderten Ablauf.

Leukozytopenien sind häufig Medikamenten bedingt, beruhen auf Erkrankungen des Knochenmarks, z.B. Neoplasien und Leukosen, werden durch eine hereditäre Bildungsstörung, immunsupprimierende Erkrankungen oder Sepsis verursacht.

Ausstrich des peripheren Blutes

Ist die Leukozytenzahl erhöht, gibt die mikroskopische Untersuchung des peripheren Blutausstrichs folgende weitere Information:

  • Granulozytose, Lymphozytose oder Monozytose?
  • Linksverschiebung, toxische Granulation?
  • Eosinophilie, Basophilie?
  • Atypische Zellen, Vorläuferzellen, Blasten?
  • Haarzellen?
  • Morphologie der roten Blutzellen?
  • Kernhaltige rote Blutzellen?

Wichtige weitere Informationen

Initiale Fragestellungen zur weiteren Diagnostik sind:

  • Liegen klinische Informationen vor?
  • Besteht eine Infektion (z.B. Antikörper gegen Epstein-Barr-Virus)?
  • Besteht eine Akute-Phase Reaktion (CRP erhöht)?
  • Wie ist die Thrombozytenzahl?
  • Besteht eine Anämie?
  • Sind LDH, Harnstoff oder Harnsäure erhöht?
  • Ist Haptoglobin erniedrigt (hämolytische Anämie)?

15.12.5.2 Neutrophile Granulozytose

Neutrophile Granulozyten

Die Vorläuferzellen von Polymorhic nuclear cells (PMN) im Knochenmark werden in teilungs- und nicht teilungsfähige Zellen differenziert. Die teilungsfähigen Zellen befinden sich im mitotischen Pool, die nicht mehr teilungsfähigen erfahren ihre postmitotische Reifung im Speicherpool. Zum mitotischen Pool gehören Myeloblasten, Promyelozyten und Myelozyten, zum postmitotischen Pool Metamyelozyten, stabförmige und reife Granulozyten. Etwa 10 Tage verbringen die neu gebildeten und reifenden Zellen in den Pools bevor sie in die Blutbahn entlassen werden. Der Speicherpool im Knochenmark enthält 15–20 fach so viele Granulozyten wie das periphere Blut /10/. Die Kinetik der PMN zeigt Tab. 15.12-2 – Kinetik der neutrophil granulozytären Zellreihe.

In den ersten Stunden seines Lebens hat das Neugeborene eine starke Neutrophilie mit einem Gipfelwert nach 12 h von über 10 × 109/l und ab dem 3. Tag kommt es zu einem kontinuierlichen Abfall mit stabilen Werten der Granulozyten im Bereich von 2,0–7,0 × 109/l. Es besteht eine deutliche Linksverschiebung im Vergleich zu Kindern im 2. Lebensjahr. Gesunde Kinder mit sehr niedrigem Geburtsgewicht und ohne perinatale oder neonatale Komplikationen haben eine große Streuung der Leukozytenzahl und etwa 95 % werden als neutropenisch eingestuft unter Anwendung der Manroe-Kriterien (Abb. 15.12-3 – Neutrophilenzahl beim Neugeborenen/4/.

Normalerweise werden nur PMN in das Blut entlassen. Das Knochenmark enthält demgegenüber mehr Stabkernige als PMN. Ist die Anforderung an PMN höher als das Knochenmark freisetzen kann, werden beständig mehr Stabkernige und Metamyelozyten freigesetzt. Steigt also im Blut der Anteil der Stabkernigen und eventuell auch der Metamyelozyten an, so ist das ein Zeichen der verstärkten Freisetzung von Granulozyten aus dem Mark und einer Verminderung des Speicherpools. Dieser Vorgang wird auch als Linksverschiebung bezeichnet.

Aus der Bestimmung der PMN im peripheren Blut ist nur eine begrenzte Information über die Neutrophilenmasse zu erhalten, da das Blut nur 5–10 % des Neutrophilenpools des Körpers enthält und nur 2 % des Lebenszyklus der PMN erfasst werden.

Drei Vorgänge können eine neutrophile Granulozytose bewirken /11/:

  • Eine Verschiebung von PMN aus dem Randpool der Gefäße in den zirkulierenden Pool. Das ist der Fall bei schwerer Arbeit, psychischem Stress, Ausschüttung von Katecholaminen und der Verabreichung von Noradrenalin. Es kommt zu einem Anstieg um maximal den Faktor zwei gegenüber dem ursprünglichen Wert. Dieser Vorgang wird auch als Pseudoneutrophilie bezeichnet, da es zu keiner echten Erhöhung der PMN Zahl im Blut kommt.
  • Vermehrte Freisetzung von PMN aus dem Speicherpool. Eine solche Leukozytose, z.B. als Antwort auf Endotoxin, dauert nur Minuten bis wenige Stunden.
  • Verstärkte Granulopoese. Diese findet im Reifungspool statt und nach Stimulation des Knochenmarks dauert es mindestens 2–3 Tage bis es zu einer Vermehrung der Zellen im Speicherpool kommt. Bei proliferativem Stress, z.B. einer Infektion, kann die Granulopoese um den Faktor 20 gesteigert sein. Die Reifungszeit des PMN ist dann von 10 auf 2 Tage verkürzt. Bei starker peripherer Anforderung und leerem Speicherpool gelangen auch Zellen des mitotischen Pools wie Myelozyten und Promyelozyten direkt ins periphere Blut (leukämoide Reaktion). Genügt die Granulopoese nicht den Anforderungen der Gewebe, z.B. bei systemischer Infektion, kann es zur Neutropenie kommen, was bei der Sepsis in etwa 20 % der Fall ist.

Fc Rezeptorantigen CD64

Neutrophile Granulozyten exprimieren das Fc-Rezeptor-Antigen CD64. Das Antigen wird von myeloiden Stammzellen exprimiert und bleibt bis zum Stadium der Metamyelozyten erhalten. PMN und Stabkernige haben etwa nur 1.000 dieser Antigene auf ihrer Zellmembran. Neugeborene und Frühgeborene exprimieren einen höheren Anteil Antigene. Bei Aktivierung erhöhen die PMN die Anzahl der Antigene um das 5–10 fache und die Messung von CD64 der Neutrophilen erlaubt somit eine Unterscheidung zwischen gesund und Inflammation /12/.

Bei systemischer Inflammation wie bei Infektionen und Sepsis aktivieren proinflammatorische Zytokine wie IFN-γ, IL-1 und IL-6 sowie GCSF die Hochregulierung des CD64 auf den Granulozyten. In der Diagnostik einer systemischen Infektion soll CD64 eine diagnostische Sensitivität von 90 % bei einer Spezifität von 90–100 % haben im Vergleich zur Leukozytenzahl mit einer Sensitivität von 60 % bei einer Spezifität von 51 % /13/.

Neutrophilie

Eine Neutrophilie liegt vor, wenn die Anzahl neutrophiler Granulozyten und ihrer Vorstufen bei Schulkindern und Erwachsenen über 7,5 × 109/l beträgt. Erhöhungen der Granulozyten sind ein Hinweis auf:

  • Inflammation durch akut entzündliche Reaktionen wie Infektionen und akute Gewebsnekrosen. Bei chronischen Infektionen kann eine Neutrophilie auf Grund einer verstärkten Granulopoese bestehen. Die Anforderung der Peripherie an Granulozyten ist erhöht, es besteht aber eine Überkompensation der Granulopoese mit Ausbildung eines größeren Speicherpools.
  • Eine myeloische Leukämie.
  • Die Einnahme von Glukokortikoiden. Diese bewirken eine Neutrophilie auf Grund einer Steigerung der Granulopoese, einer verstärkten Migration vom Randpool in den zirkulierenden Pool der Gefäße und einer verminderten Wanderung der Granulozyten aus der Blutbahn.

Zur Diagnostik der neonatalen Sepsis werden die Manroe- und die Rodwell-Kriterien angewendet (Tab. 15.12-3 – Kriterien der neonatalen Sepsis). Zustände und Erkrankungen mit neutrophiler Granulozytose sind aufgeführt in Tab. 15.12-4 – Erkrankungen und Zustände mit Neutrophilie.

15.12.5.3 Neutropenie

Die Neutropenie ist als eine Verminderung der PMN inklusive der stabförmigen Granulozyten definiert. Die Zahl wird an einem Hämatologie Analyzer bestimmt, und wenn dieser eine Verminderung anzeigt wird bei Werten unter 0,5 × 109/l zur Kontrolle ein Blutausstrich ausgezählt und der Anteil (%) der PMN und stabförmigen Granulozyten mit der Leukozytenzahl multipliziert. Normalerweise ist bei gesunden Personen die Zahl der PMN über 1,5 × 109/l bei Erwachsenen und Kindern über 5 J. Bei Personen afrikanischen Ursprungs und anderen ethnischen Gruppen z.B. in Israel und Jordanien sind Werte bis 1,0 × 109/l noch normal. Diese Personen haben auch eine niedrigere Leukozytenzahl. So haben männliche Personen kaukasischen Ursprungs im Alter von 3–74 J. nur zu 25,2 % eine Leukozytenzahl unter 5,0 × 109/l, diejenigen schwarzen Ursprungs aber zu 48,1 %. Beim weiblichen Geschlecht ist das Verhältnis 27,1 % zu 42,6 % /15/.

Die Neutropenie wird eingeteilt in /16/:

  • Mild; die Neutrophilenzahl ist (1,5–1,0) × 109/l.
  • Moderat; die Neutrophilenzahl ist (1,0–0,5) × 109/l.
  • Schwer; die Neutrophilenzahl ist unter 0,5 × 109/l.

Diese Klassifikation sagt das Risiko einer pyogenen Infektion voraus, wenn die Neutropenie länger als 2–3 Monate besteht. Nur Patienten mit schwerer Neutropenie haben ein Risiko bakterieller Infektionen /10/. Gewöhnlich erfolgt die Infektion durch die eigene Flora. Gingivitis, Ulzerationen und Soor der Mundhöhle sind die häufigsten Beschwerden.

Eine febrile Neutropenie liegt vor, wenn /17/:

  • Die einmalig oral gemessene Temperatur über 38,3 °C oder ≥ 38 °C für mindestens 1 h ist und
  • Die Neutrophilenzahl < 0,5 × 109/l oder < 1,0 × 109/l mit der Tendenz auf ≤ 0,5 × 109/l abzufallen.

Bei schwerer Neutropenie nach Chemotherapie solider Tumoren ist eine Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (G-CSF, GM-CSF) indiziert, wenn diese länger als 10 Tage besteht oder Fieber > 38,1 °C vorliegt.

Ursachen der Neutropenie

15.12.5.4 Lymphozytose

Lymphozyten

Lymphozyten werden im Knochenmark und den sekundären Lymphorganen wie Milz und Lymphknoten gebildet. Die Lymphozyten des Blutes repräsentieren nur eine kleine Fraktion von etwa 2 % der Lymphozyten des Organismus. Diese sind in der Milz, den Lymphknoten und in den Organ assoziierten lymphatischen Systemen lokalisiert. Im Unterschied zu den Granulozyten können die Lymphozyten die Zirkulation frei verlassen und zwischen den Kompartimenten pendeln, ein Vorgang, der als Rezirkulation bezeichnet wird. Trotz der Rezirkulation besteht ein Gleichgewicht mit einer konstanten Lymphozytenzahl im Blut /10/. Da nur 2 % der Lymphozyten im Blut verweilen und das weniger als 1 h, kommen etwa 0,5 × 1012 Lymphozyten, das sind alle Lymphozyten des Organismus, täglich in die Blutbahn und kehren in die Gewebe zurück (Homing) /18/. Die Lymphozytenzahl im Blut ist relativ konstant. Nur etwa 2 % zirkulieren im peripheren Blut, und das nur für etwa 1 Stunde /10/.

Die meisten Lymphozyten im Blut sind kleine intermitotische Zellen in der Ruhephase. Ein kleiner Teil ist von mittlerer Größe, stammt wahrscheinlich von den kleinen Lymphozyten ab und ist in einem aktivierten Zustand. Bei Infektionen treten zusätzlich große Lymphozyten mit grober eosinophiler Granulierung (Large Granular Lymphocytes, LGL) auf.

Lymphozyten sind Immunzellen und tragen vermittels Immunphänotypisierung erkennbare spezifische Merkmale auf ihrer Oberfläche.

Auf Grund ihrer funktionellen Aktivität in der Immunabwehr und ihren Oberflächenmerkmalen (CD-Klassifikation) werden drei Klassen von Lymphozyten unterschieden:

  • Vom Thymus stammende T-Zellen, die primär für die Zell-vermittelte Immunität Verantwortung tragen.
  • Aus dem Knochenmark und den sekundären Lymphorganen stammende B-Zellen. Sie sind die Vorläufer der Immunglobulin-bildenden Plasmazellen und Träger der humoralen Immunantwort.
  • Nullzellen, auch als Natural Killer (NK)-Zellen bekannt. Sie tragen keine Lymphozytenmerkmale an ihrer Oberfläche und sind im Rahmen der Antigen-unspezifischen Immunabwehr aktiv. Sie unterscheiden sich auch morphologisch, denn ein Teil von ihnen sind die im Blutausstrich sichtbaren LGL.

Im peripheren Blut sind 65–80 % der Lymphozyten T-Zellen, 8–15 % B-Zellen und 10 % NK-Zellen. Die NK-Zellen rezirkulieren nicht wie die anderen Lymphozyten vom Blut über die Lymphknoten zum Blut zurück.

Die Lymphozytenzahl unterliegt erheblichen Einflüssen und ist am späten Nachmittag und abends höher als morgens. Nach kurzer körperlicher Belastung kommt es zur Lymphozytose, die auf einen gesteigerten Lymphfluss zurückgeführt wird. Nach längerer stärkerer Belastung und bei systemischer Infektion wie der Sepsis resultiert eine Lymphopenie und Eosinopenie mit einem Anstieg der PMN.

Large granular lymphocytes (LGL) /19/

Als Antwort auf den Organismus attackierende Pathogene reagieren zwei verschiedene Zelltypen, die zytotoxischen T-Lymphozyten und die Natural killer cells (NK-Zellen). Morphologisch sind beide identisch und präsentieren sich mikroskopisch als große Lymphozyten mit azurophilen Granula im Zytoplasma. Funktionell sind sie jedoch verschieden und erkennen die Antigene über T-Zell- und NK-Zellrezeptoren.

Beim Gesunden sind nur ein kleiner Anteil der zirkulierenden Lymphozyten LGL. Die Mehrzahl der LGL sind zytotoxische T-Zellen des Phänotyps CD3+ CD8+CD4, während die wenigen NK-Zellen vom Phänotyp CD3CD16+ sind.

Die polyklonale Vermehrung von LGL erfolgt reaktiv und transient im Rahmen von Virusinfektionen (EBV, Cytomegalievirus), Autoimmunerkrankungen, Malignomen und teilweise auch nach Splenektomie.

Die klonale Proliferation von LGL wird über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten, unabhängig davon, ob die Patienten symptomatisch sind oder nicht. Die Proliferation kann die T-Zell- und NK-Zellen betreffen, obwohl die WHO letztere als separate Erkrankung mit der Definition chronisch lymphoproliferative Erkrankung der NK-Zellen bezeichnet.

Die T-Zell LGL-Leukämie ist eine klonale Proliferation enddifferenzierter zytotoxischer T-Zellen mit einem funktionellen α/β+T-Zellrezeptor und dem Muster CD8+CD4 oder selten CD4+CD8–/+dim.

Wenig ist bekannt über die NK-Zell lymphoproliferativen Erkrankungen.

Lymphozytose

Bei Erwachsenen besteht eine Lymphozytose bei einer Zellzahl von > 4,0 × 109/l. Bei Kindern ist der Referenzbereich altersabhängig (Abb. 15.12-4 – Altersabhängigkeit der Lymphozytenzahl bei Kindern). So ist der untere Referenzbereichswert im Alter von 8 Monaten 4,5 × 109/l und 1,0 × 109/l im Alter von 18 Jahren /20/.

Lymphozytosen treten auf bei:

  • Viralen Infektionen wie der infektiösen Mononukleose. Viele der Lymphozyten sind durch das Epstein-Barr Virus transformiert und zeigen im Blutausstrich ein buntes Bild. Das Virus infiziert nur B-Zellen, keine T-Zellen. Die Lymphozytenzahl beträgt (6–15) × 109/l. Ein ähnliches Bild mit transformierten Lymphozyten wird auch bei der Zytomegalie und der Virushepatitis gefunden. Bei diesen Infektionen ist die Lymphozytenzahl nur leicht oder nicht erhöht.
  • Infektionen wie Toxoplasmose, Typhus abdominalis, Brucellose oder Pertussis. Bei Pertussis kann die Lymphozytenzahl über 20 × 109/l sein, die Lymphozyten sind kleine, normal erscheinende Zellen /10/.
  • Neoplasien des lymphatischen Systems wie bei der akuten und der chronisch lymphatischen Leukämie und gelegentlich beim Non-Hodgkin Lymphom.

Hinweise auf eine lymphozytäre Neoplasie sind:

  • Lymphozytenzahl über 5 × 109/l
  • Mehr als 5 % Kernschatten im Blutausstrich
  • Atypische Zellen, z.B. Prolymphozyten, Mantelzellen, Sezary-Zellen
  • Hinweise auf Lymphoproliferation (Lymphadenopathie, Splenomegalie, B-Zellsymptomatik)
  • Thrombozytopenie und/oder Anämie

Weiterführend wichtig sind die Immunphänotypisierung des peripheren Blutes und die Histopathologie der Lymphknoten. Die Knochenmarksdiagnostik (Zytologie, Histopathologie, Zytogenetik) kann indiziert sein.

15.12.5.5 Lymphopenie

Abhängig von der Literaturangabe werden Lymphopenien bei Erwachsenen als eine Zellzahl unter 1,5 × 109/l, bzw. unter 1,0 × 109/l definiert /20/.

Bei Kindern sind die unteren Referenzbereichswerte altersabhängig (Abb. 15.12-4 – Altersabhängigkeit der Lymphozytenzahl bei Kindern).

Erkrankungen und Zustände mit Lymphopenie sind dargestellt in Tab. 15.12-9 – Erkrankungen und Zustände mit Lymphopenie.

Kleinkinder im Alter unter 3 Monaten, die ohne vorbestehende Grundkrankheit notfallmäßig mit akuter Symptomatik eingewiesen werden, benötigen häufiger lebensrettende Maßnahmen, wenn sie eine Lymphopenie haben. So mussten von 42 lymphopenischen Kindern 26 in die pädiatrische Intensiveinheit aufgenommen werden, von der gleichen Anzahl nicht-lymphopenischer Kinder aber nur eins /22/.

15.12.5.6 Monozytose

Monozyten

Die Monozyten werden im Knochenmark gebildet und teilen sich mit den Granulozyten eine gemeinsame Stammzelle. Im Verlaufe der Reifung trennen sich die Wege, jedoch haben im Knochenmark der Promonozyt und der Promyelozyt eine nahezu gleiche Morphologie und ihre kleine Population wird in die neutrophilen Vorläuferzellen bei der Zählung integriert. Sie sind nur durch die Esterase Färbung unterscheidbar. Nach zwei bis drei Zellteilungen werden die Monozyten in das Blut entlassen. Es gibt keinen den neutrophilen Granulozyten vergleichbaren Speicherpool. Nach einer Transitzeit von 14 h verlassen sie das Blut und wandern in die Gewebe ein. Dort reifen sie und die Natur der Reifung, z.B. ihre Ausstattung mit Enzymen, ist abhängig vom Ort der Reifung. So haben sie als Alveolarmakrophagen der Lunge eine andere Proteinausstattung als die Kupfferschen Sternzellen der Leber oder die Peritonealmakrophagen. In den Geweben können die Makrophagen fusionieren unter Bildung großer Zellen wie den Langerhans’schen Riesenzellen, die bei granulomatösen Entzündungen wie der Tuberkulose gefunden werden. Auch kann der Makrophage wie der Lymphozyt sich bei einer erhöhten Anforderung teilen /10/. Wichtige Aufgaben des Makrophagen sind die Phagozytose und Abtötung von Mikroben. Die internalisierten Erreger werden prozessiert und in Verbindung mit einem HLA-Klasse-II-Antigen den T-Helferzellen präsentiert (siehe Beitrag 21.1.2 – Natürliche Barrieren zum Schutz der Immunität).

Bei einer Inflammation geht am Ort des Geschehens in einer ersten Welle die Extravasation der PMN derjenigen der Monozyten voraus. Denn die Granula der PMN setzen Proteine frei, die eine Expression von β-Integrin-Rezeptoren und Formylpeptid-Rezeptoren der Gefäßwand stimulieren, an die aktivierte Monozyten anheften. Am Entzündungsort setzen der Apoptose anheim fallende PMN Lysophosphatidylcholin frei, das an die G2A-Rezeptoren der Monozyten bindet und diese zum Ort des Geschehens lockt /23/.

Monozytose

Die Erhöhung der Monozytenzahl über 0,9 × 109/l bei Erwachsenen und Schulkindern wird als Monozytose bezeichnet. Neugeborene und Kleinkinder haben einen höheren oberen Referenzbereichswert. Monozytosen kommen bei Infektionen, Autoimmunerkrankungen, hämatologischen Systemerkrankungen, soliden Tumoren und verschiedenen anderen Ursachen vor. Bei infektiösen Erkrankungen ist die Verteilungsbreite der Monozyten erhöht. Erkrankungen und Zustände mit Monozytose sind aufgeführt in Tab. 15.12-10 – Erkrankungen und Zustände mit Monozytose.

Hinweise auf eine monozytäre Neoplasie sind:

  • Unreife Monozyten (Promonozyten) oder Blasten
  • Thrombozytopenie und/oder Anämie.
  • Infiltration eines Organs (Haut, Lunge, Milz)
  • Nicht erklärbare Monozytose.

Wichtig ist die Untersuchung des Knochenmarks (Zytology, Histopathologie, Zytogenetik).

15.12.5.7 Eosinophilie

Eosinophiler Granulozyt

Der eosinophile Granulozyt geht als Zelle der myeloischen Reihe aus einer pluripotenten Stammzelle hervor, die sich unter dem Einfluss von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren differenziert. Das Knochenmark Gesunder hat einen Eosinophilenanteil von etwa 3 % an den hämatopoetischen weißen Blutzellen, davon sind ein Drittel Promyelozyten und Myelozyten, 26 % Metamyelozyten und ein Drittel reife Eosinophile, die sich im Speicherpool aufhalten. Die polyklonale Synthese Eosinophiler erfolgt nach Stimulation durch GM-CSF, IL-3 und IL-5. Nach etwa 4 Tagen migriert der reife Eosinophile in das Blut, verbleibt dort 6–18 h und tritt dann in das Gewebe über.

Auf der Schleimhaut der Atemwege und des Gastrointestinaltraktes sowie in der Haut hält er sich 2–5 Tage auf und fällt der Apoptose anheim, wenn diese nicht durch GM-CSF, IL-3 und IL-5 aufgehalten wird. Der tägliche Turnover der Eosinophilen beträgt 2,2 × 108 Zellen/kg KG, der postmitotische Speicherpool enthält (9–14) × 108 Zellen/kg KG /24/.

Eosinophilie

Eine Eosinophilie im Blut zieht eine um das 100 fach stärkere Eosinophilie im Zielgewebe nach sich. Auch wenn die Eosinophilenzahl im Blut gering ist, kann die Konzentration in den Geweben hoch sein.

Die Eosinophilenzahl im Blut zeigt diurnale Schwankungen. Der höchste Wert wird abends, der niedrigste morgens gemessen.

Eine Eosinophilie liegt bei einer Zellzahl von > 0,5 × 109/l vor.

Klassifiziert wird die Eosinophilie in:

  • Leichte Form mit bis zu 1,5 × 109/l.
  • Schwere Form mit > 1,5 × 109/l.

Besteht eine Eosinophilie sollte gedacht werden /25/:

  • Zuerst an ein reaktives Geschehen wie eine allergische/atopische Erkrankung, Urtikaria, parasitäre Infektion, maligne Erkrankung oder eine vaskuläre Kollagenkrankheit.
  • Können diese Ursachen ausgeschlossen werden und persistiert die Hypereosinophilie, ist die Diagnose eines idiopathischen hypereosinophilen Syndroms wahrscheinlich, dies insbesondere, wenn die Hypereosinophilie länger als 6 Monate besteht und die Eosinophilie über 1,5 × 109/l beträgt.

Die Akkumulation von Eosinophilen im Blut und den peripheren Geweben kann beruhen /26/:

  • Auf einer Störung der myeloischen Zelllinie (primäre Eosinophilie). Diese kann spät im Ablauf der eosinophilen Differenzierung erfolgen und zur seltenen Diagnose der eosinophilen Leukämie führen. Ist die Störung im frühen Ablauf der Differenzierung und sind die Eosinophilen der Bestandteil eines malignen Klons, der auch andere myeloische Zellen oder sogar lymphoide Zellen bildet, dann ist die Eosinophilie ein Geschehen im Rahmen einer myeloproliferativen Erkrankung.
  • Auf der verstärkten Bildung Eosinophile stimulierender Zytokine durch nicht myeloische Zellen (sekundäre Eosinophilie). Es resultiert eine polyklonale Bildung Eosinophiler. Stimuliert durch Entzündungsmediatoren wie IL-5, Eotaxin, Plättchen-aktivierenden Faktor, C5a und C3a wandern sie an den Entzündungsort im Gewebe und setzen aus ihren Granula gewebszerstörende Proteine wie das Eosinophile cationische protein (ECP) und reaktive Sauerstoffradikale frei /27/.

Zur Differentialdiagnostik der Eosinophilie siehe Tab. 15.12-11 – Differentialdiagnostik der Eosinophilie.

15.12.5.8 Basophilie

Basophile

Basophile Granulozyten haben einen Anteil von etwa 0,3 % an den Leukozyten im Blut und sind funktionell mit den Mastzellen verwandt /28, 29/. Beide Zelltypen exprimieren den funktionell aktiven IgE-Rezeptor und bilden die gleichen Effektormoleküle, z.B. Histamin, Lipidmediatoren (Leukotriene, Prostaglandine), Serinproteasen und Interleukine (IL-4, IL-13, IL-6).

Basophile verlassen das Knochenmark als reife Zellen und sind durch die Expression von FcεRI, CD49b, und den hochaffinen IL-3-Rezeptor CD123 charakterisiert. Unter basalen Bedingungen sind sie in niedriger Zellzahl im Knochenmark, der Leber und Milz und im peripheren Blut. Im Rahmen der spezifischen Immunantwort und bei bestimmten Inflammationen treten sie in periphere Gewebe und die Lymphknoten über.

Mastzellen vollführen ihre Reifung in den peripheren Geweben wie der Haut, dem Dünndarm und der Peritonealkavität. Sie sind durch die Expression von FcεRI und c-Kit charakterisiert. Unter Stimulation des Rezeptors (FcεRi) geben Basophile und Mastzellen Effektormoleküle frei.

Basophile beschleunigen die TH2-Immunantwort, da sie wenige Minuten nach Aktivierung IL-4 freisetzen. Die Aktivierung erfolgt durch Quervernetzung zweier an Oberflächen lokalisierter IgE-Moleküle oder durch eine große Zahl von Substanzen in Antigen unspezifischer Weise.

Basophilie

Erhöhungen der basophilen Granulozyten sind häufig mit Überempfindlichkeits Reaktionen vom Soforttyp assoziiert. Oft ist auch das Gesamt-IgE erhöht. Es besteht jedoch keine Beziehung zwischen der IgE-Erhöhung und der Basophilenzahl. Kleine Anstiege (> 2–3 %) können auf eine myeloproliferative Neoplasie hinweisend sein.

Eine Basophilie kann auftreten bei:

  • Allergischen Entzündungen wie Überempfindlichkeit gegenüber Arzneimitteln und Nahrungsmitteln, Erythrodermie, Urtikaria, rheumatoider Arthritis.
  • Parasitärer Infektion.
  • Stammzell Erkrankungen wie myeloischer Leukämie, myeloproliferativem Syndrom, M. Waldenstroem.
  • Diabetes mellitus, Myxödem, Östrogenmedikation.
  • Infektionserkrankungen wie Tuberkulose, Varizella, Influenza.
  • Dem Postsplenektomie Syndrom.

15.12.6 Hinweise und Störungen

Bestimmungsmethode

Zeitkritisch ist die Lyse der Erythrozyten. Ist die Lysezeit zu kurz oder sind relativ lyseresistente rote Blutzellen vorhanden, z.B. Retikulozyten, Erythrozyten von Neugeborenen, so wird die Leukozytenzahl zu hoch gemessen. Ist die Lysezeit zu lang oder sind die Leukozyten, z.B. bei Chemotherapie oder Sepsis, vorgeschädigt, so ist ihr Volumen kleiner als normal und sie werden nicht mitgezählt. Riesenthrombozyten können bei den Leukozyten mitgezählt werden. Kontrolle der Leukozytenzahl im Blutausstrich siehe Beitrag 15.13 – Blutausstrich.

Blutentnahme

Zuverlässige Werte werden im EDTA-Blut gewonnen; die Kapillarblutentnahme soll nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Bei der Kapillarblutentnahme sind die ersten zwei Blutstropfen nach dem Einstich zu verwerfen.

Bei Neugeborenen und Kleinkindern ist die Leukozytenzahl von der Blutentnahme abhängig. Verglichen mit der kapillären Blutentnahme aus der Ferse erbringt die venöse nur 82 ± 3,5 % und die arterielle nur 77 ± 5,3 % der Leukozytenzahl. Blutentnahme nach heftigem Schreien führt zu einem Anstieg der kapillär entnommenen Leukozyten auf 146 ± 6,1 % gegenüber dem Ruhewert /30/.

IgM-vermittelte Neutrophilenagglutination

Beschrieben wurde ein Fall, der eine Pseudoneutropenie verursachte. Die Neutrophilen waren mit IgM-Antikörpern beladen /31/.

Kryoglobuline

Kryoglobuline führen bei Raumtemperatur und Zählung mit Hämatologie Analyzern zu einer Pseudoleukozytose. Es bilden sich in diesem Temperaturbereich Proteinkristalle mit der Größe von Leukozyten, die maschinell als Leukozyten erfasst werden. Bei Erwärmung der Probe auf 37 °C verschwinden die Proteinkristalle.

Intraindividuelle Variation

Der VK innerhalb eines Tages beträgt 19,9 %, von Tag zu Tag 16,3 % und von Monat zu Monat 17,3 % /32/.

Diurnale Variation

Die diurnale Variation ist morgens geringer als am späten Abend und nachts: um 12 Uhr nachts 9,5 × 109/l und morgens zwischen 8 und 11 Uhr etwa 7 × 109/l /72/.

Pseudoleukozytose

Eine Pseudoleukozytose kann bedingt sein durch kernhaltige rote Blutzellen (NRC), Kryoglobuline, Kryofibrinogen, Thrombozyzenklumpen, Mikroorganismen, Lyse-resistente Erythrozyten und Lipide. NRC werden häufig gesehen bei hämolytischer Anämie, massivem Blutverlust, schwerem Sauerstoffmangel, akuten und chronischen Leukämien, malignen Tumoren, Osteomyelofibrose.

Stabilität

Im EDTA-Blut bei Raumtemperatur und im Kühlschrank innerhalb von 72 h abhängig vom Analyzer /33/:

  • Leukozyten gesamt; Abnahme um 0,6–5,1 %.
  • Neutrophile; Zunahme von 1,3–10,3 %, bei einem anderen Analyzer Abnahme um 1,2 %.
  • Monozyten; an einem Gerät Zunahme bis 31 % an den anderen Abnahme von 28–78 %.
  • Lymphozyten; an einem Gerät bei Raumtemperatur Zunahme um 5 % bei den anderen Abnahme von 3–14 %.

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15.13 Blutausstrich

Lothar Thomas

Die mikroskopische Untersuchung des gefärbten Blutausstrichs ist eine wichtige Untersuchung zur Diagnostik primärer Erkrankungen des hämatopoetischen Systems und seiner Kompromittierung im Rahmen anderer Erkrankungen.

Trotz des enormen technologischen Fortschritts durch Hämatologie Analyzer, Flowzytometer, Immunoassays, molekularbiologischer Methoden und Zytogenetik bleibt die mikroskopische Auswertung nach dem Blutbild die initiale Methode für eine weiterführende Diagnostik. Hämatologie Analyzer haben eine hohe Effizienz in der Zellzählung und Zelldifferenzierung, doch bei abnormen Zellzahlen oder wenn die Geräte Flags anzeigen, ist die mikroskopische Untersuchung des gefärbten Blutausstrichs weiterhin unerlässlich. Der Blutausstrich eröffnet dem Untersucher einen Einblick in die Struktur der Blutzellen, die durch automatisierte Zählung und Differenzierung allein nicht erfassbar ist /1, 2, 3, 4/.

Im Vordergrund der Auswertung stehen die Leukozyten, die durch verschiedene Färbungen weiter differenziert und quantifiziert werden können.

Die mikroskopische Durchmusterung eines Blutausstrichs hat zwei wichtige Zielsetzungen:

  • Die initiale Diagnosesicherung und Therapiebeurteilung von Störungen der Blutbildung.
  • Auch dient die mikroskopische Auswertung des Blutausstrichs der Qualitätssicherung der Ergebnisse von Hämatologie Analyzern.

Die International Consensus Group for Hematology Review hat 41 Kriterien erarbeitet, wann ein maschinelles Blutbild durch einen Blutausstrich ergänzt werden sollte. In Abwandlung der Kriterien beträgt in vielen Laboratorien der Anteil der Blutauststriche 10 % bei ambulanten und 20 % bei stationären Patienten /5/.

15.13.1 Indikation

Historisch erfolgte die Differenzierung von Blutzellen mikroskopisch. Heutzutage wenden aber die meisten hämatologischen Laboratorien Hämatologie Analysatoren an.

15.13.1.1 Entscheidungs orientierte mikroskopische Differenzierung

Eine Entscheidungs orientierte mikroskopische Differenzierung erfolgt noch bei bestimmten Fragestellungen nach der maschinellen Durchführung des Blutbildes und der Zelldifferenzierung.

Rote Blutzell Morphologie

Da Änderungen der Morphologie roter Blutzellen von den Hämatologie Analysatoren nicht erkannt werden ist die mikroskopische Untersuchung des Blutausstrichs wichtig /1/. Gründe zur Durchführung einer mikroskopischen Untersuchung auch bei normalem Blutbild sind:

  • Die Erkennung von z.B. atypischen Erythrozyten, Erythroblasten, basophiler Tüpfelung, Howell-Jolly-Körperchen, Erkennung und Differenzierung der Malaria.
  • Eine Familienanamnese auf Erkrankung der Erythropoese.
  • Erkennung eines hyposplenischen Blutbildes oder eines Blutbildes nach Splenektomie.
  • Nachweis von Parasiten im Blut.

Morphologie der Leukozyten

Es gibt folgende wichtige Gründe /2/:

  • Bestätigung der maschinell ermittelten Leukozytenzahl wenn diese bezweifelt wird.
  • Differenzierung atypischer Leukozyten.
  • Erkennung morphologischer Abweichungen innerhalb einer Zellpopulation.
  • Bei der weißen Reihe in der Erkennung von z.B. Blasten und anderen unreifen Zellen, stabkernigen und jugendlichen Granulozyten und hypersegmentierten Neutrophilen.

Morphologie der Thrombozyten

Es gibt folgende wichtige Gründe /4/:

  • Bestätigung der maschinell ermittelten Thrombozytenzahl wenn diese bezweifelt wird.
  • Beurteilung der Thrombozytenmorphologie, z.B. Erkennung von Aggregaten, Riesenplättchen und deren Abgrenzung von Erythrozytenfragmenten.

Erkennung von nicht hämatologischen Zellen

Die Erkennung folgender Zellen ist wichtig /4/:

  • Endothelzellen, Epithelien, Tumorzellen.
  • Organismen; intrazellulär (Plasmodien, Babesien), extrazellulär (Trypanosomen, Mikrofilarien).

15.13.1.2 Klinische Indikation /2/

  • Unklare Anämie und/oder unklarer Ikterus.
  • Milzvergrößerung, insbesondere wenn diese akut aufgetreten ist, Anzeichen der Sichelzellanämie.
  • Petechien, Nasenbluten und Zeichen, die auf eine Thrombozytopenie hinweisen.
  • Unerwartetes Fieber oder Anzeichen, die auf eine Neutropenie hinweisen.
  • Lymphknotenschwellung, Milzvergrößerung, Fieber, Gewichtsverlust und weitere Anzeichen, die auf ein Lymphom oder eine lymphoproliferative Erkrankung hinweisen.
  • Splenomegalie, Plethora, Juckreiz, Gewichtsverlust und Anzeichen einer myeloproliferativen Erkrankung.
  • Akute oder kürzlich erfolgte Niereninsuffizienz oder eine Nierenvergrößerung, insbesondere bei Kindern.
  • Blutungen in den Augenhintergrund und Zeichen der Netzhautatrophie oder Hyperviskosität.
  • Verdacht auf bakterielle Erkrankung oder Hämato-Gewebsparasitose, die im Blutausstrich detektiert werden kann.
  • Hinweis auf nicht hämatopoetische Krebserkrankung.
  • Genereller Zustand mit Unwohlsein und Verdacht auf infektiöse Mononukleose, andere Viruserkrankung, Inflammation oder Tumorerkrankung.

15.13.2 Präparation

Antikoagulation

K2- bzw K3-EDTA oder Natriumcitrat, nicht aber Heparin, sind zur venösen oder kapillären Blutentnahme geeignet. Heparin hat folgende Nachteile /3/:

  • Häufig führt es zur Verklumpung der Thrombozyten, wodurch sowohl die Thrombozytenzählung als auch die Beurteilung der Morphologie gestört wird.
  • Der gefärbte Blutausstrich hat einen Blaustich.

Probenaufarbeitung

Nach Probennahme hat das Ausstreichen zügig, d.h. innerhalb von 2 h zu erfolgen. Ist das nicht möglich, sollte die Probe bis zu 8 h bei 4 °C gelagert werden, aber auch die Lagerung bei Raumtemperatur (22 °C) ist möglich. Eine noch längere Lagerung sollte immer bei 4 °C erfolgen. Vor dem Ausstreichen sollte das Probengefäß mindestens 10 malig um 180° geschwenkt werden /3/.

Ausstreichen der Probe

Etwa 5 μl Blut sollten eingesetzt werden, um einen Ausstrich von entsprechender Dicke und 2,5–4 cm Länge zu erzielen. Dazu wird der Blutstropfen etwa 1 cm vom matten bzw. mit einem Aufkleber versehenen Ende des Objektträgers aufgesetzt und hinter der angewinkelten Kante eines aufgesetzten Deckglases zum seitlichen Verlaufen gebracht. Dann wird das Deckglas in einem Winkel von 30–45 °C zügig über den Objektträger geführt (Abb. 15.13-1 – Ausstrichtechnik des Bluts/3/.

Der Ausstrich zeigt eine dickere Schicht am Anfang und läuft dünner werdend mit Fransenbildung (Fahne) aus (Abb. 15.13-2 – Wichtige Areale bei der Auswertung des Blutausstrichs).

Dicke und Länge des Ausstrichs hängen ab /4/:

  • Von der Größe des Blutstropfens und dem Hkt (je größer der Blutstropfen und je höher der Hkt, desto dicker ist der Ausstrich).
  • Vom Winkel des ausstreichenden Deckglases (je steiler der Winkel, desto kürzer und dicker der Ausstrich).
  • Von der Geschwindigkeit des Ausstreichens (schnelles Ausstreichen bewirkt einen dicken Ausstrich).

Trocknen des Blutausstrichs

Lufttrocknung ohne unterstützende Luftzirkulation für 1 h ist ausreichend. Bei hoher Luftfeuchtigkeit (über 70 %) ist eine unterstützende Luftzirkulation erforderlich. Falls die getrockneten Objektträger nicht innerhalb einer Stunde gefärbt werden können, sollten sie fixiert werden, und zwar 10 min in Methanol. Geschieht das nicht und werden die Objektträger erst Stunden nach Trocknung ohne Fixierung gefärbt, bildet das Plasma einen grau blauen Hintergrund. Zur Vermeidung morphologischer Artefakte muss der Wassergehalt des Methanols unter 3 % sein /3/.

15.13.2.1 Färbung

Die häufigsten Färbungen zur Beurteilung der Morphologie roter und weißer Blutzellen erfolgt mit Romanowsky Farbstoffen. Romanowsky Färbungen erfolgen mit oxidiertem Methylenblau und/oder seinen oxidierten Produkten (Azur B) und mit halogeniertem Fluoreszeinfarbstoff, gewöhnlich Eosin B oder Y. Die häufigste Färbungen, die alle Zelltypen in einem Blutfilm unterscheidbar machen sind die Wright-Giemsa Färbung und die Pappenheimfärbung.

Wright-Giemsa-Färbung

Die Färbung enthält basische Farbstoffe (Methylenblau und seine Derivate) und den sauren Farbstoff Eosin im Verhältnis 2 : 1 /6/. Eosin ist ein saurer Farbsoff, da er sich an Zellbestandteile wie Hämoglobin, eosinophile Granula und basische granuläre Proteine bindet. Methylenblau gehört zur Familie der blau färbenden Thiazinfarbstoffe (Azur A, Azur B, Methylviolett) und wird als basischer Farbstoff bezeichnet. Die Farbstoffe binden an saure Bestandteile der Zelle wie DNA, RNA neutrophile Granula und saure Zellproteine.

Die Verwendung basischer und saurer Farbgemische ergibt eine panoptische (mehrfarbige) Anfärbung der Zellen. Die beste panoptische Färbung wird nach der Vorschrift von Pappenheim durch eine Abfolge der Ausstrichfärbung zuerst mit dem Farbstoff nach May-Grünwald und dann mit dem nach Giemsa erzielt. Die basischen Farbstoffe (blau) binden an saure Zellbestandteile wie DNA, RNA, saure Zellproteine im Zytoplasma und Granula. Eosin ist ein saurer Farbstoff (rot) und bindet an basische Zellbestandteile wie das Hämoglobin, basische Proteine im Zytoplasma und bestimmte Granula (eosinophile Granula). Färbevorschriften nach May-Grünwald-Giemsa, nach Pappenheim oder nach Wright-Giemsa siehe Lit. /36, 7/.

Pappenheim Färbung

May-Grünwald`s Eosin Methylenblau und Giemsa`s Azur-Methylenblau werden zur Färbung eingesetzt. Ein Anzahl von Modifikationen ist beschrieben /7/.

Anforderungen an einen ordnungsgemäß angefertigten Blutausstrich

Ein ordnungsgemäß gefärbter Blutausstrich nach einer der drei genannten Färbemethoden sollte wie folgt aussehen:

  • Im Minimum 2,5 cm lang, mit einem Ende etwa 1 cm vor dem Ende des Objektträgers
  • Graduelle Änderung der Ausstrichdicke, endend in einem quadratischen oder geraden Kante.
  • Kein Einschluss von Artefakten
  • Makroskopisch blass rot im dünnen und violett-blau im dickeren Teil des Ausstriches. Farb Verschiebungen im Färbeprozess durch Überwiegen alkalischer (Blaustich) oder saurer (Rotstich) Bestandteile werden vermieden durch Verwendung von gepuffertem Aqua dest. im Bereich pH 6,8–7,2 als Spülflüssigkeit.
  • Mikroskopisch sollen die roten Blutzellen blassrosa sein und die Kerne der Leukozyten mehr violett als blau. Die Blutzellen sollen frei von Vakuolen und anderen Artefakten sein, der Objektträger keine Präzipitation von Farbresten enthalten /3/.

15.13.2.2 Zytochemische Färbungen

Die zytochemischen Färbungen sind im Beitrag 15.14 dargestellt und dienen dem Nachweis von Enzymen und anderen Bestandteilen der Blutzellen. Sie sind bedeutsam zur Differenzierung unreifer hämatopoetischer Zellen und der Differenzierung von Lymphozyten. Zytochemische Färbungen haben folgende Indikationen:

  • Unterscheidung zwischen myeloischen und lymphatischen Leukämien.
  • Differenzierung von Vorstufen der granulozytären und monozytären Reihe.
  • Abgrenzung von Subtypen der ALL.
  • Charakterisierung der Zellen bei der CLL und der Haarzell-Leukämie.
  • Unterscheidung der reaktiven Leukozytose von der leukämoiden Reaktion und der neoplastischen myeloproliferativen Erkrankung.
  • Nachweis von Enzymdefekten, vor allem bei neutrophilen Granulozyten, z.B. partieller Peroxidasedefekt beim myelodysplastischen Syndrom.
  • Unterscheidung reaktiver von neoplastischer Vermehrung neutrophiler Granulozyten, z.B. mittels der alkalischen Neutrophilen Phosphatase (ANP).

ANP-Index

100 neutrophile stab- und segmentkernige Granulozyten werden ausgezählt und je nach Reaktionsstärke nach einer Skala 0 bis 4 in einzelne Klassen eingeordnet. Die Summe der in die einzelnen Klassen eingeordneten Zellen, multipliziert mit ihrem Klassefaktor, ergibt den Index (Referenzbereich 13–130). Wegen eines zeitabhängigen Aktivitätsverlusts müssen die Ausstriche innerhalb von 3 Tagen bearbeitet werden. Die Bestimmung des ANP-Index ist nützlich für die Abgrenzung der CML (niedriger Index) von anderen myeloproliferativen Erkrankungen und von der leukämoiden Reaktion. Bei der Polycythämia vera ist die ANP in ca. 70 % der Fälle erhöht und Diagnose stützend zur Abgrenzung gegenüber einer reaktiven Polyglobulie.

15.13.2.3 Artefakte

Artefakte können bei allen Schritten der Herstellung eines Blutausstrichs entstehen.

Antikoagulanz

Bei Verwendung von EDTA-Blut zum Ausstrich können folgende Artefakte vorkommen: Agglutination von Leukozyten, Satelliten Phänomen, z.B. Plättchen Satellismus um einen Granulozyten, sowie die Agglutination von Thrombozyten. Insbesondere Autoantikörper derKlasse IgG können im EDTA-haltigen Blut eine Agglutination von Blutzellen bewirken. Die Agglutination wird nicht im Citratblut gesehen. IgM-Autoantikörper führen unabhängig vom Antikoagulanz zu einer Agglutination von Blutzellen. Die EDTA-induzierte Leukopenie, die nicht nur die polymorphkernigen Neutrophilen, sondern auch die Lymphozyten und zirkulierende Lymphomzellen betreffen kann, wird auf Grund der Agglutinaten von Leukozyten im Blutausstrich erkannt /7/.

Alter der Probe

Proben, die nach der Entnahme nicht innerhalb von 2 h ausgestrichen werden, können degenerative Artefakte aufzeigen, z.B. die Vakuolisierung des Zytoplasmas bei Granulozyten und Monozyten oder die Fragmentierung und Lobulisierung von Granulozyten. Die Lymphozyten nehmen apoptotische Formen an, die dann nur schwerlich einer Virusinfektion oder einer lymphoproliferativen Erkrankung zuzuordnen sind /3/.

Ausstreichen

Beim Ausstreichen des Bluts zum Film werden atypische Lymphozyten leicht geschädigt, z.B. rupturierte Lymphozyten bei der chronisch lymphatischen Leukämie bilden die Gumprecht’schen Kernschatten /3/. Zur Minimierung der beim Ausstreichen auftretenden Zellveränderungen wird die Zugabe von 1 Tropfen Albumin (22 %) zu 5 Tropfen Blut und das normale Ausstreichen empfohlen.

Trocknung und Fixation

Optimale Ergebnisse werden erhalten, wenn Fixierung und Färbung direkt nach der Lufttrocknung erfolgen. Ist eine Färbung nicht sofort möglich, sollte eine Fixierung in Methanol innerhalb 1 h nach der Lufttrocknung durchgeführt werden. Erfolgt das nicht, hat der Objektträger einen grau-blauen Hintergrund auf Grund aufgetretener Veränderungen im Blutplasma. Eine zu langsame Lufttrocknung bewirkt die Kontraktion der Zellen, eine verminderte Feinstrukturierung des Kernes und die Bildung von Vakuolen im Zytoplasma. Die Färbung eines noch feuchten Ausstrichs führt zu einer irregulären Ausbreitung des Blutfilms und zu einer schlecht differenzierbaren Morphologie der Zellen /3/.

Ist der Wassergehalt der Fixier- und Färbelösung nicht unter 3 %, kommt es zu Artefakten wie bei nicht ordnungsgemäß getrockneten Blutausstrichen. Ein Wassergehalt von über 3 % wird schell erreicht, wenn die nach Spülung in Pufferlösung feuchten Objektträger in der zweiten Färbelösung inkubiert werden /3/.

15.13.3 Mikroskopie

Zuerst erfolgt die makroskopische Beurteilung des gefärbten Ausstrichs und die Auswahl einer Region in der Nähe des gefederten Endes, in dieser sollen nicht mehr als 50 % der Erythrozyten sich berühren /9/. Dünne Regionen des Ausstrichs in denen die Erythrozyten Streifen formen, sollen nicht untersucht werden. Als Regel kann gelten, dass die beste Region diejenige ist, die vor dem letzten Drittel des Ausstrichs gelegen ist (Abb. 15.13-2 – Wichtige Areale bei der Auswertung des Blutausstrichs).

Die ordnungsgemäße mikroskopische Auswertung des Blutausstrichs umfasst:

  • Die Abschätzung der vom Hämatologie Analyzer angegebenen Zellzahlen.
  • Die Differenzierung der Leukozyten.
  • Die Beurteilung der Morphologie von roten Blutzellen und Thrombozyten.
  • Die Beachtung von Zellaggregaten und Satellitenphänomenen.
  • Die Suche nach toxischen zellulären Veränderungen und Infektionserregern.

Beurteilt wird zusätzlich die Ausstrich- und Färbequalität sowie die Präsenz von Zelltrümmern und auf Zellaggregate und Satellitenphänomene wird geachtet. Danach wird Immersionsöl aufgebracht und die Immersionsobjektive (63 oder 100) in den Strahlengang gedreht /10/.

15.13.3.1 Semiquantitative Beurteilung der Zellzahl

Bei Mikroskopie unter Anwendung eines Okulars 10 × entspricht bei einem Objektiv 40 × die pro Gesichtsfeld (GF) ermittelte Zellzahl im Mittel:

  • An Erythrozyten 600/GF bei normaler Erythrozytenzahl.
  • An Thrombozyten 30–60/GF bei normaler Zahl, 75–125/GF bei einer Zahl von (400–1.000) × 109/l, 25–30/GF bei (50–100) × 109/l und 10–15/GF bei (20–50) × 109/l.
  • An Leukozyten 1–2/GF bei normaler Leukozytenzahl, 5–6/GF bei einer Zahl von (20–50) × 109/l, 10–15/GF bei (50–100) × 109/l und 20–30/GF bei > 100 × 109/l.

Unter Verwendung eines Objektives 100× und somit einer 1.000 fachen Vergrößerung wird nur etwa ein Sechstel der jeweiligen Zellzahl pro Gesichtsfeld gezählt. Zur Verifizierung der Zellzahl sollte der Mittelwert aus der Zählung von 10 Gesichtsfeldern eingesetzt werden.

15.13.3.2 Differenzierung der Leukozyten

Die Differenzierung der Leukozyten erfolgt bei 400- bis 1.000-facher Vergrößerung. Zerstörte oder pyknotische Zellen werden nicht in die Zellzählung mit aufgenommen. Ist ihr Anteil jedoch hoch, sollte dies in dem Laborbericht mit aufgeführt werden. Ausstriche von Patienten mit chronisch lymphatischer Leukämie enthalten oft eine große Zahl Gumprecht’scher Kernschatten. In diesen Fällen sollte ein Ausstrich nach Albuminzusatz zum Blut nochmals untersucht werden. Im Laborbefund wird der Anteil der einzelnen Leukozyten, bezogen auf 100 gezählte Leukozyten, in Prozent angegeben. Sind andere kernhaltige Zellen (Normoblasten, Megaloblasten, Megakaryozyten) oder Zellkerne vorhanden, sollten diese gezählt und ihr Anteil pro 100 Leukozyten angegeben werden /4/. Gumprecht’sche Kernschatten werden als Lymphozyten gezählt. Morphologische Veränderungen der Leukozyten müssen charakterisiert und interpretiert werden.

Die morphologischen Veränderungen sind aufgeführt in:

15.13.3.3 Beurteilung der Thrombozyten-Morphologie

Die Thrombozyten-Morphologie dient:

  • Zur Verifizierung der mit dem Hämatologie Analyzer gemessenen Thrombozytenzahl /4/. Ein Blutausstrich mit normaler Thrombozytenzahl sollte 1 Thrombozyt auf 10–30 rote Blutzellen zeigen. Im Blutausstrich sichtbare Riesenplättchen, Plättchenaggregate oder Satelliten-Phänomene können die Ursache einer maschinell gezählten Thrombozytopenie sein.
  • Der Gewinnung diagnostischer Information aus einer veränderten Morphologie.

Beispiele einer veränderten Thrombozyten-Morphologie zeigen:

15.13.3.4 Beurteilung der Erythrozyten-Morphologie

Die Beurteilung dient folgenden Zwecken /4/:

  • Zur Bestätigung der vom Hämatologie Analyzer bestimmten bzw. berechneten Erythrozytenwerte, insbesondere der Indices MCV, MCH und MCHC, wenn keine Plausibilität vorliegt. So kann ein erhöhtes MCV durch eine Makrozytose, Retikulozytose (Polychromasie im Blutausstrich) oder Agglutination roter Blutzellen bedingt sein. Bei starker Erhöhung von MCHC und MCH ist eine Agglutination der Erythrozyten durch Kälteagglutinine wahrscheinlich.
  • Zur Gewinnung diagnostischer Information aus einer veränderten Erythrozyten Morphologie.

Siehe auch:

15.13.3.5 Im Blutausstrich sich manifestierende Infektionen

Infektiöse Erkrankungen manifestieren sich im Blutausstrich neben einer Leukozytose auch an Hand reaktiver (toxischer) Veränderungen der Granulozyten. Diese sind toxische Granulation, Vakuolisierung und die Ausbildung von Döhle Körperchen /11/. Die Monozyten zeigen unspezifische morphologische Veränderungen. Die morphologischen Veränderungen der Lymphozyten bei EBV- und Zytomegalie-Infektion sind aufgeführt in Tab. 15.13-1 – Artefakte und morphologische Veränderungen der Leukozyten im Blutausstrich.

Der Blutausstrich ist als primär diagnostische Methode zur Erkennung einer Sepsis nicht bzw. nur in wenigen Fällen geeignet. Eine Aufstellung gibt Tab. 15.13-4 – Morphologische Blutausstrich Befunde bei infektiösen Erkrankungen.

15.13.3.6 Veränderungen im Blutausstrich bei Hypo- und Hypersplenismus

Mit den Begriffen Hyper- und Hyposplenismus werden Veränderungen im Blutbild beschrieben, die sich aus einer veränderten Milzfunktion ergeben.

Die normale Funktion der Milz besteht in dem Abfangen der in die Zirkulation entlassenen Retikulozyten, der Entfernung von Zellpartikeln und Kernfragmenten und der endgültigen Gestaltgebung der Erythrozyten. Vom Knochenmark entlassene unreife Zellen werden eliminiert, aber die Retikulozyten reifen in der Milz und werden als zirkulationsfähige Erythrozyten an das Blut abgegeben. Überalterte oder geschädigte Erythrozyten werden von der Milz aufgenommen und degradiert. Der verstärkte Abbau von Erythrozyten im Rahmen einer hämolytischen Reaktion verursacht eine Vergrößerung der Milz.

Auch hält die Milz die Anzahl der Thrombozyten konstant. Die in der Milz gespeicherten Thrombozyten können bei akuter völliger Entleerung die Thrombozytenzahl um 50 × 109/l anheben.

Hyposplenismus

Dieses Symptom wird durch Entfernung der Milz sowie extensive immuno- und lymphoproliferative Erkrankungen wie die Haarzellleukämie oder Amyloidose der Milz hervorgerufen. Die damit verbundenen Veränderungen können sein /12/:

  • Eine transiente bzw längerfristige Thrombozytose.
  • Im Blutausstrich Targetzellen, Howell-Jolly-Körperchen und rote Blutzellen mit unregelmäßiger Kontur, im englischen Sprachgebrauch Spiculated cells genannt. Auch werden in geringer Zahl kernhaltige rote Blutzellen, unreife Granulozyten und Megakaryozytenreste gesehen.

Hypersplenismus

Es handelt sich um ein klinisches Symptom und keine pathologische oder histologische Entität. Die Milz kann vergrößert sein oder nur eine verstärkte Funktion haben. Letztere dokumentiert sich in einer Zytopenie, die eine oder mehrere hämatopoetische Zelllinien betreffen kann. Die betroffene Zelllinie zeigt eine Hyperproliferation im Knochenmark und kann morphologische Veränderungen oder einen Reifungsstopp zeigen.

Die mit Hypersplenismus einhergehenden Veränderungen können sein /12/:

  • Eine permanente Thrombozytopenie.
  • Im Blutausstrich Sphärozyten, Tränentropfen-Zellen, Schistozyten.

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15.14 Knochenmark-Diagnostik

Torsten Haferlach

Die Labordiagnostik von Leukämien und Lymphomen hat sich erheblich weiterentwickelt. Einen großen Anteil an diesem Fortschritt haben zum einen das zunehmende Verständnis von pathophysiologischen Zusammenhängen bei diesen Erkrankungen und zum anderen die Weiterentwicklung von Labortechniken und Geräten inklusive Computer gestützter Verfahren der Auswertung von Befunden. Eine kurzfristige und umfassende Labordiagnostik erlaubt vielfach heute eine Ziel gerichtete Therapie und beinhaltet die bestmögliche Prognose. Gleichzeitig sollten im Laborablauf die zur Verfügung stehenden Methoden gezielt und Kosten effektiv im Sinne einer Stufendiagnostik eingesetzt werden. Dies setzt bei Materialgewinnung und Laboruntersuchungen stringente Algorithmen voraus.

Bei dieser rasanten Weiterentwicklung der Diagnostik ist es für den anfordernden Arzt schwer, immer die adäquate Frage an sein Labor zu stellen. Auch ist die Herausforderung an die jeweiligen Laboratorien hoch, mit der raschen Entwicklung von Methoden bei der primären Diagnostik ebenso wie beim zunehmend geforderten Nachweis minimaler Resterkrankung (Minimal residual disease, MRD), Schritt zu halten. Deshalb wird hier dem Einsender und dem untersuchenden Labor eine aktuelle Orientierung für die Routinediagnostik von Leukämien und Lymphomen gegeben.

15.14.1 Knochenmark-Proben

Die Indikation zur Knochenmark (KM)-Untersuchung stellt sich in der Regel über den klinischen Befund und immer erst nach der Detektion von Veränderungen der Zahl oder der Zusammensetzung der Blutzellen. Ergeben sich dabei Hinweise für das Vorliegen einer hämatologischen Systemerkrankung oder eines Lymphoms, ist eine Untersuchung des Knochenmarks mittels Aspiration, vielfach ergänzt um eine Biopsie/Histologie, erforderlich /1234/.

Entnahmeort

Die Entnahme der Proben erfolgt vorzugsweise am hinteren Beckenkamm (Spina iliaca posterior superior). Die Punktion des Beckenkamms an dieser Stelle ist technisch einfacher, ungefährlicher und weniger schmerzhaft als die Sternalpunktion, welche nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt werden sollte und sich nur für die Aspiration eignet; man muss sie eigentlich für obsolet erklären. Solche Ausnahmen stellen vorherige Bestrahlung am Becken, Punctio sicca oder ein zu adipöser Patient dar. Doch auch im letzteren Fall oder beim beatmeten Patienten, in Rückenlage liegend, kann am Becken punktiert werden; an der Spina iliaca anterior superior oder am vorderen Beckenkamm. Dabei ist aber das Os ilium an der Spina iliaca posterior superior mit ca. 3 cm am breitesten, Verletzungen lebenswichtiger Organe oder größerer Gefäße sind bei richtiger Technik weitestgehend ausgeschlossen (Abb. 15.14-1 – Horizontalschnitt in Höhe des Biopsieortes).

Der Patient wird möglichst am Vortag über den Eingriff und dessen Risiken einer Komplikation aufgeklärt. Die Punktion kann auch bei blutungsgefährdeten Patienten ambulant, aber mit ausreichend langer Zeit zur Nachbeobachtung, erfolgen. In besonderen Fällen muss vor der Punktion die Gabe eines Thrombozytenkonzentrats erwogen werden, um Thrombozytenwerte über 20 × 109/l zu erreichen. Eine Prämedikation mit Tranquilizern ist nur bei äußerst sensiblen Patienten nötig, bei Kindern ist eventuell eine Kurznarkose in Absprache mit dem Anästhesisten zu empfehlen. Eine Punktion ist in Seitenlage oder in Bauchlage möglich, der Autor empfiehlt die Bauchlage, da dabei auch bei größerem Kraftaufwand der Patient sicher und stabil liegt und nicht zusätzlich stabilisiert wurden muss.

Knochenmarkbiopsie

Bei aleukämischen Patienten oder extrem zellarmen KM-Aspiraten ist auch bei akuten Leukämien eine Biopsie zur Histologiegewinnung zusätzlich zur Aspiration notwendig. Bei den myeloproliferativen Erkrankungen, der chronischen lymphatischen Leukämie sowie beim Lymphomstaging ist eine KM-Histologie in jedem Fall erforderlich.

Zur Gewinnung Artefakt freien Gewebes sollte die Histologie vor der Aspiration durchgeführt werden. In Bauchlage wird nach gründlicher Desinfektion und steriler Abdeckung die Haut bis zum Periost der Spina iliaca posterior superior mit zumindest 10 ml Lokalanästhetikum anästhesiert. Der Zeitraum bis zur befriedigenden Anästhesie beträgt zumindest 5 min. Die ehemalige Sternalnadel (am Becken ohne den Abstandshalter zu verwenden) und eine Histologie-Nadel (z.B. sog. Jamshidi-Nadel) sind zur Punktion zu verwenden (Abb. 15.14-2 – Jamshidi Nadel im Vergleich zu einer gewöhnlichen Punktionsnadel). Sehr gut geeignet sind Einmalbestecke.

Bei Kindern ist eine Kurznarkose gegebenenfalls in Absprache mit dem Anästhesisten zu empfehlen.

Knochenmark-Histologie

Bevorzugt wird eine Nadelweite von 8 Gauge, bei jungen Patienten mit kräftigem Knochen hat sich die 11 Gauge-Nadel bewährt. Bei besonders adipösen Patienten steht auch eine längere Nadel zur Verfügung. Die Jamshidi Nadel wird mit Mandrin auf die Mitte des hinteren Beckenkamms aufgesetzt und nach Entfernung des Mandrins durch die Kortikalis in Richtung auf die zumeist gut tastbare Spina iliaca anterior hineingeschnitten. Eine Biopsielänge bis zu 4 cm ist so möglich und erlaubt eine repräsentative Beurteilung des KM. Eine große Biopsie erlaubt zudem ein leichteres Abdrehen und besseres Haften des gestanzten KM-Zylinders in der Hohlnadel. Nach Gewinnung des Zylinders können davon, falls erforderlich, Abrollpräparate gemacht werden, und je nach der vorgesehenen Einbettungsmethode erfolgt die Fixation der Biopsie entsprechend den Anleitungen des jeweiligen Einsendelabors.

Falls bei Punctio sicca und aleukämischem Verlauf Material für die Zytogenetik nicht aspiriert nicht möglich ist, kann auch ein Stanzzylinder direkt nach der Entnahme in physiologische Kochsalz Lösung mit Heparinzusatz eingelegt werden. Das Röhrchen wird dann mit der Stanze zum genetischen Labor versendet. Die Marker der Immunphänotypisierung können in diesen Fällen an der Histologie einer zweiten Stanze nach Einbettung in Paraffin durchgeführt werden.

Knochenmark(KM)-Aspiration

Nach der Biopsiegewinnung erfolgt die Aspiration des KM am Beckenkamm. Verwendet werden zumeist Punktionsnadeln nach Klima und Rosegger ohne Arretierung. Auch hier sollte Einmalnadeln wegen des schärferen Schliffs und aus hygienischen Grün-den der Vorzug gegeben werden. Man punktiert das KM durch die bereits erfolgte Hautinzision, ungefähr 1 cm entfernt von der Biopsiestelle für die Histologie und in schrägem Winkel zur Biopsierichtung. Vor dem Aspirieren wird dem Patienten mitgeteilt, dass ein kurzzeitiger Schmerz auftreten wird, der auch durch sorgfältige Lokalanästhesie nicht verhindert werden kann. Man aspiriert kurz und kräftig mit einer 10 ml-Spritze bis zum vollen Hub. Dabei reichen für die erste EDTA-Probe zur weiteren zyto-morphologischen Untersuchung 2–3 ml Knochenmark, um Verdünnung mit peripherem Blut zu vermeiden. Eine zweite und dritte Spritze, mit Heparin als Antikoagulans, kann dann jeweils bis auf 5 oder 10 ml aufgezogen werden. Entnimmt man alle Proben von einer Stelle, so können die letzten Aspirate durch zunehmende Blutverdünnung eine andere Zusammensetzung der Zellen als das erste Aspirat aufweisen. Bei unbefriedigender Aspiration muss die Lage der Punktionsnadel durch Drehen unter Sog oder durch nochmaliges Punktieren verändert werden. Bei Punctio sicca hilft häufig auch ein Drehen der Nadeln im Knochen unter weiterer Aspiration doch noch zur erfolgreichen Gewinnung von Material. Bei weiter erfolgloser Punktion kann die andere Seite zusätzlich oder der vordere Beckenkamm nach entsprechender Anästhesie punktiert werden. Auch eine Sternalpunktion ist als ultima ratio möglich, allerdings muss dann unbedingt wieder ein Tiefenstopper verwendet werden. Bei Säuglingen kommt zur Punktion im Ausnahmefall auch die Tibiavorderkante unterhalb des Ansatzes des M. quadrizeps in Frage.

Nach Anlegen eines Heftpflasterverbands wird die Punktionsstelle durch Liegen auf einem Sandsack komprimiert. Zumindest 30 min später wird die Stelle auf eine Nachblutung hin kontrolliert.

Probenverteilung

Aspirate für folgende Untersuchungen werden routinemäßig gewonnen, mit den jeweiligen Zusätzen für die Spritze in Klammern:

  • Aspirationszytologie: 0,5 ml EDTA maximal ad 2–3 ml KM-Aspirat.
  • Immunphänotypisierung: 0,5 ml Heparin oder auch EDTA maximal ad 5 ml KM-Aspirat.
  • Zytogenetik: 0,5 ml Heparin oder fertige Heparin-Monovetten, maximal ad 5–10 ml KM-Aspirat.
  • Molekulargenetik: 0,5 ml Heparin oder auch EDTA maximal ad 5 ml KM-Aspirat.

Die Aspirationszytologie mit EDTA-Zusatz steht immer an erster Stelle, da eine potentielle Kontamination mit Heparin durch den Spritzenkonus gravierende Färbeartefakte in der Pappenheimfärbung verursacht.

Sämtliche Spritzen müssen vor der Punktion sowohl mit Namen des Patienten, dem Material (KM) und auch mit der Art des Zusatzes gekennzeichnet sein und danach umgehend in die entsprechenden Laboratorien weitergeleitet werden. Generell gilt, je kleiner das Entnahmevolumen ist, desto geringer ist die Kontamination mit peripherem Blut, d.h. desto repräsentativer ist die aspirierte Knochenmarkprobe. Falls für die Immunzytologie heparinisierte Proben Verwendung finden, sind zusätzlich noch ungefärbte EDTA-Ausstriche beizulegen. Uneingeschränkte Probenqualität ist umso wichtiger, je schwieriger die diagnostische Fragestellung ist, z.B. zur Kontrolle der Resterkrankung (MRD). Das bedeutet, dass für die Zytomorphologie die Ausstriche möglichst innerhalb von 3 h nach der Aspiration hergestellt werden sollten, und dann ausreichend (über 30 min) luftgetrocknet gehören bevor sie verpackt werden. Diese lassen auch mehrere Tage noch gute Ergebnisse der Färbung zu. Das Material für die Zytogenetik, Immunphänotypisierung und die molekulargenetischen Untersuchungsverfahren sollte nach 24 h das untersuchende Labor erreichen. Zusammenfassend wird der in Tab. 15.14-1 – Potentielle Auswahl der Methoden im Rahmen der Knochenmark Diagnostik bei Primärdiagnose/Verdachtsdiagnose von Leukämien und Lymphomen dargestellte Algorithmus für die Entnahme von Knochenmark und das Weiterleiten an die einzelnen Laborbereiche vorgeschlagen.

Die Stanze sollte in der vom Labor vorgeschlagenen Fixationslösung innerhalb eines Tages verschickt werden.

15.14.2 Verarbeitung und Auswertung von Blutausstrich- und Knochenmarkmaterial

Untersuchung des peripheren Bluts

Wird peripheres Blut untersucht, so sind das kleine Blutbild inklusive Thrombozyten, MCV und MCH, Retikulozyten und das Differentialblutbild unabdingbare Basisuntersuchungen. Vor allem bei hämatologischen Erkrankungen können im EDTA-Blut Störfaktoren vorhanden sein, welche die weit verbreitete automatische Messung des kleinen Blutbilds an Hämatologie Analyzern stören und dann falsche Ergebnisse verursachen. Deshalb einige Beispiele:

  • Leukozyten über 100 × 109/l ergeben bei einer Vielzahl von Geräten einen falsch hohen Hb Wert (ca. 10–20 g/l zu hoch).
  • Bei der Thrombozytenzählung wird durch Fragmentozyten, z.B. bei disseminierter intravasaler Gerinnung oder Absprengungen des Zytoplasmas von Blasten, z.B. bei AML M4 oder M5 (nach FAB) ein falsch hoher Wert ermittelt (bis zu 30 × 109/l zu hoch).
  • Bei vom Gerät ermittelten erniedrigten Thrombozytezahl sollten Thrombozytenagglutinate als Ursache der Thrombozytopenie im Ausstrich (in der Fahne suchen) ausgeschlossen werden, z.B. EDTA-induzierte Pseudothrombozytopenie. Es sollte dann parallel eine Thrombozytenmessung in Citrat-Blut erfolgen.
  • Differentialblutbild. Dieses wird primär in fast allen Fällen von Hämatologie Analyzern erstellt. Dabei ist zu beachten, dass die Geräte schwerpunktmäßig auf eine Analyse von normalen Blutbildern und die grobe Unterscheidung von normal versus pathologisch eingestellt sind. Beim Vorhandensein einer pathologischen Zellpopulation wird von dem Analyzer ein Alarm gegeben, der zum Ausstreichen des Bluts und zur mikroskopischen Analyse führen muss. Da die Analysensysteme in der Regel zuverlässige Ergebnisse produzieren, ist somit bei jedem Verdacht oder zur Verlaufskontrolle von hämatologischen Erkrankungen die mikroskopische Analyse des peripheren Bluts notwendig /6/. Siehe Beitrag 15.13 – Blutausstrich-Untersuchung.

Verarbeitung und Auswertung des KM-Aspirats

Die Untersuchung des Knochenmarks gehört zur Basisdiagnostik hämatologischer Systemerkrankungen. Ob bei akuten Leukämien eine Aspirationszytologie allein ausreichend oder aber eine zusätzliche Biopsie indiziert ist, wird unterschiedlich gesehen. Für die Beurteilung leukämischer Zellen bei akuten Leukämien sind zumindest Ausstrichpräparate von Blut und KM am besten geeignet. Diese sollten vor dem Versand und vor dem Färben ausreichend getrocknet sein (über 30 min). Die zusätzliche Beurteilung einer Biopsie des KM ist sicher bei erfolglosem Aspirationsversuch (Punctio sicca) angezeigt, sie ermöglicht auch eine Immunhistologie. Bei den myeloproliferativen Erkrankungen spielt die Histologie des Knochenmarks zum Zeitpunkt der Diagnose eine wichtige Rolle auch wegen des zu beurteilenden Fibrosegrads.

Die diagnostische Wertigkeit hängt entscheidend von der weiteren Verarbeitung des gewonnenen Materials ab. Die besten Ausstrichpräparate, in denen auch eine semiquantitative Schätzung der Zelldichte möglich ist, erhält man durch Legen eines Deckgläschens auf die auf dem Objektträger aufgebrachten KM-Bröckel (nach Filtration oder aus einem Uhrglasschälchen gewonnen), danach Ausziehen des Deckgläschens zum Ende des Objektträgers (Abb. 15.14-3 – Anfertigen des Ausstrichs eines Knochenmark-Bröckels).

Das richtige Ausstreichen bedarf einer längeren Übung. Die KM-Präparate sollten dann unbedingt 30–60 min luftgetrocknet werden. Die anschließende Färbung nach Pappenheim bzw. May-Grünwald-Giemsa stellen die Standardverfahren der Darstellung von Blut- und KM-Zellen dar. Die zur Beurteilung geeigneten Ausstriche enthalten KM-Bröckel im Zentrum und durchmischtes KM-Blut in der Peripherie des Ausstrichs. Nach sorgfältiger Durchmusterung des gesamten Präparats mit einer schwachen Vergrößerung lassen sich die Zellularität und unterschiedliche Verteilungsmuster, z.B. auch bei nodulären Infiltraten einer chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) oder eines Lymphoms, oder der Nachweis von Tumorzellen beurteilen. Daran schließt sich eine Einzelanalyse von mindestens 200 (–500) Zellen aus zwei repräsentativen Arealen des Ausstrichs an. Die Verteilung der KM-Zellen beim Gesunden ist aufgeführt in Tab. 15.14-2 – Prozentsatz der Knochenmarkzellen Gesunder.

Die zusätzliche Durchmusterung von zumindest zwei Ausstrichen geschieht nach folgenden Kriterien:

  • Beurteilung der Zelldichte: Eine Verminderung kann Abnahme- und Ausstrich-bedingt sein. Eine tatsächliche Verminderung der Zellularität darf nur angenommen werden, wenn Markbröckel mit Fett- und Stromazellen sicher nachweisbar sind. Das Alter des Patienten ist zu berücksichtigen, die Zellularität nimmt physiologisch mit dem Alter ab.
  • Beurteilung des Verhältnisses der Erythro- zur Granulopoese (EP : GP). Das normale Verhältnis von EP zu GP beträgt etwa 1 : 3–4. Die Ausstrichzytologie erlaubt eine quantitative Beurteilung nur in relativer Form. Beurteilt werden ferner die Verteilung der verschiedenen Reifungsstufen, insbesondere auch Prozent der Blasten, sowie Veränderungen von Zytoplasma und Zellkern und Dysplasiezeichen. Angegeben wird der Anteil von Eosinophilen, Basophilen und Monozyten. Quantitative und qualitative Beurteilung der Megakaryozyten-Anzahl, Verteilung und Feinstruktur von Lymphozyten, Plasmazellen und Retikulumzellen sind nötig.
  • Zur Frage der absoluten Zelldichte und der möglichen heterogenen Zellverteilung in den Markräumen muss das histologische Schnittpräparat hinzugezogen und, ebenso Lebensalters adaptiert, quantitativ oder semiquantitativ ausgewertet werden. Speichereisen in den Retikulumzellen sowie Quantifizierung von Sideroblasten und Ringsideroblasten (in der Berliner-Blau-Färbung) können besser zytomorphologisch als histologisch erfolgen.

Beim Nachweis von Blasten oder bei der Frage MDS werden zur weiteren morphologischen Differenzierung folgende zytochemische Färbungen an Blut- und KM-Ausstrichen durchgeführt:

  • Obligat die Myloperoxidase, evtl. in der Histologie Chloracetatesterase oder Sudan-Schwarz als Hinweis auf Zugehörigkeit zur granulozytären Reihe, sowie die unspezifische Esterase. Letztere gibt einen Hinweis auf Zugehörigkeit zur monozytären Reihe (Tab. 15.14-1 – Methoden im Rahmen der Knochenmark-Diagnostik bei Primärdiagnose/Verdachtsdiagnose von Leukämien und Lymphomen).
  • Fakultativ und durch die Anwendung der Immunphänotypisierung heute nicht mehr nötig sind die PAS-Reaktion als Hinweis auf Zugehörigkeit zur lymphatischen und erythrozytären Reihe bei AML-M6 (nach FAB), sowie die saure Phosphatase als Hinweis auf die T-Zell-Natur einer akuten lymphatischen Leukämie (ALL).

Bei obligater Verwendung der Immunphänotypisierung, der Fluoreszenz in situ-Hybridisierung (FISH) oder der Molekulargenetik (PCR) sind folgende Untersuchungen wegen fehlender Sensitivität und Spezifität nicht angewendet werden:

  • Die alkalische Leukozyten-/Neutrophilenphosphatase (ALP/ANP); früher im Zusammenhang mit CML-Ausschluss, heute BCR-ABL.
  • Die Tatrat resistente saure Phosphatase zum Nachweis der Haarzellleukämie; heute CD103 als APAAP oder Immunphänotypisierung/Immunhistologie.
  • Die terminale Desoxynukleotidyl-Transferase (TdT) bei der ALL am Ausstrich; heute Immunphänotypisierung.

15.14.3 Verarbeitung und Auswertung der Knochenmark­histologie

Die Knochenmarkbiopsie erlaubt nicht nur eine Beurteilung der einzelnen zellulären Bestandteile des Knochenmarks, sondern auch eine echte quantitative Beurteilung des Zellgehalts, sowie eine Analyse der topografischen Verteilung der Zellen und des Eisengehalts, Aussagen zum Stroma des Knochenmarks und zu ossären Veränderungen. Der Stellenwert der Knochenmarkbiopsie in der Diagnostik hämatologischer Erkrankungen hängt eng mit der jeweiligen Fragestellung zusammen. So erscheint sie z.B. beim der primären Myelofibrose (PMF) und der aplastischen Anämie für die Diagnosestellung unabdingbar; bei anderen Erkrankungen, wie z.B. den akuten Leukämien, kann sie wertvolle Zusatzinformationen zur Zytomorphologie liefern. Heute wird bei der Verdachtsdiagnose Leukämie/Lymphom eine Paraffineinbettung verwendet, die eine präzise diagnostische Begutachtung des Gewebematerials erlaubt /157/. Als Standardfärbungen werden an allen Biopsien durchgeführt:

  • Giemsa für zelluläre Details.
  • PAS für zelluläre Details und zum Nachweis von Speicherzellen.
  • Gomori-Silber zur Darstellung von Fasern.
  • Berliner Blau zum Nachweis des Eisengehalts.
  • Naphthol-AS-D-Chloracetat-Esterase Reaktion für die Darstellung der Granulopoese und von Mastzellen.

Die Immunhistologie wird ergänzend zur Darstellung und Charakterisierung der Zellen angewendet. Zur Diagnostik von Erkrankungen der Hämatopoese sind folgende Marker routinemäßig einsetzbar:

  • Myeloperoxidase (MPO) und CD15 für die Granulopoese.
  • CD61 für die Megakaryopoese.
  • Glycophorin A für die Erythropoese.
  • CD34 für Progenitorzellen.
  • CD68 für das Monozyten-und Makrophagensystem.
  • CD117 für Mastzellen.

Darüber hinaus kommen immunhistologische Untersuchungen vor allem bei der Charakterisierung lymphatischer Aggregate, bei der Haarzellleukämie bzw. der Subtypisierung von Infiltraten maligner Lymphome, z.B. CD19, CD20, CD3, CD103, CD138 und bei der Identifikation von Metastasen markfremder Tumorzellen, z.B. Zytokeratin, Hormonrezeptoren, zum Einsatz.

Literatur

1. Mufti GJ, Flandrin G, Schäfer HE, Sandberg AA, Kanfer EJ: An Atlas of Malignant Haematology. London; Verlag Martin Dunitz, 1996.

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3. Theml H, Diem H, Haferlach T. Taschenatlas der Hämatologie, 5. Aufl. Stuttgart; Thieme, 2002.

4. Haferlach T, Labordiagnostik bei Leukämien und Lymphomen, 2. Aufl.. Bremen; UNI-MED, 2007.

5. Bain JB, Clark DM, Lampert IA, Koch S: Knochenmarkpathologie. Atlas und Lehrbuch. Blackwell; Berlin, 2000.

6. Haferlach T, Haferlach C, Kern W, Labordiagnostik in der Hämatologie, Köln, Deutscher Ärzte-Verlag, 2011

7. Swerdlow SH, Campo E, Harris NL, Jaffe ES. WHO Classification of tumours of haematopoietic and lymphoid tissues. Lyon, International Agency for Research on Cancer (IARC), 2008.

8. Löffler H, Haferlach T. Hämatologische Erkrankungen, Heidelberg, Springer, 2010.

15.15 Akute Leukämien

Torsten Haferlach

Die diagnostischen Möglichkeiten bei den akuten Leukämien wurden grundlegend erweitert. Zum einen wurde eine Vielzahl Methoden für die Diagnostik etabliert, zum anderen haben Erkenntnisse aus Korrelationen von biologischen Parametern und klinischem Verlauf dazu geführt, dass die diagnostischen Befunde in vielen Fällen eine Voraussetzung für das Einleiten der richtigen Therapie geworden sind. Zusätzlich erhält man durch diese Diagnostik wichtige prognostische Parameter. Schon allein deshalb sollte die Diagnostik umfassend und gleichzeitig zielgerichtet durchgeführt werden. Die Erkenntnisse haben auch zu neuen Klassifikationen, speziell der WHO-geführt /1/. So stehen Einteilungen nach Morphologie (FAB-Klassifikation), nach Zytogenetik (teils WHO-Klassifikation) und auch nach Ergebnissen der Immunphänotypisierung (analog der EGIL-Klassifikation) nebeneinander und müssen beachtet werden /23456/. Dies führt zu potentiellen Algorithmen in der Diagnostik von Leukämien, nicht nur für die primäre Diagnostik, sondern auch für Verlaufsuntersuchungen zur Therapiekontrolle (Minimal residual disease, MRD). Gleichzeitig sind kurzfristig auch viele neue Daten, insbesondere durch molekulare Methoden, wie z.B. durch Analyse der Genexpression und Next-generation Sequencing (NGS), zu erwarten. Diese werden gerade im Bereich der Hämatologie die aktuelle Diagnostik kurzfristig ergänzen und z.T. vielleicht auch komplett ersetzen können.

Materialgewinnung

Es sollte in allen Verdachtsfällen auf akute Leukämien die Untersuchung von Blut und Knochenmark parallel angestrebt werden. Zur Herstellung von Ausstrichen für die Zytomorphologie und Zytochemie (mindestens 6–8 Ausstriche anfertigen). Falls die alkalische Phosphatase-anti-alkalische Phosphatase (APAAP) oder Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung (FISH) bestimmt werden soll, muss als Antikoagulans EDTA oder Citrat verwendet werden. Das so ungerinnbar gemachte Material kann bei Bedarf auch für die Immunphänotypisierung und für molekulare Analyse z.B. mittels der die Polymerase Kettenreaktion eingesetzt werden. Diese beiden letztgenannten Methoden sowie FISH kann man alternativ auch mit Heparinblut oder im Knochenmark durchführen. Für die Zytogenetik muss Heparin als Antikoagulans verwendet werden, da nur so vitale Zellen für die Chromosomenanalyse zur Verfügung stehen, die in die Metaphase gehen können. Eine aktuelle Diagnostik bei Leukämien benötigt somit im besten Fall EDTA- und Heparinblut sowie EDTA- und Heparin-Knochenmark.

Die Gesamtmenge des entnommenen Knochenmarks sollte 5–20 ml betragen. Darüber hinaus muss auch bei akuten Leukämien eine Entnahme für die Histologie mittels Beckenkammpunktion in Abhängigkeit von der Verdachtsdiagnose erwogen werden /7/. Eine Orientierung gestattet Tab. 15.15-1 – Methoden zur Diagnostik bei akuten Leukämien.

Klassifikation

Zur ersten Diagnose und Klassifikation der akuten Leukämien werden heute wegen der klinischen Relevanz und Machbarkeit weiter parallel die morphologischen Kriterien der FAB-Klassifikation, die EGIL-Klassifikation und der WHO-Klassifikation verwendet /123456/. Die Einteilung der ALL erfolgt darüber hinaus genauer noch nach Immunphänotypisierung und Zytogenetik/Molekulargenetik. Dies macht die Orientierung momentan kompliziert, wird aber mittelfristig durch ein besseres biologisches Verständnis der einzelnen Subgruppen der Leukämie zu einer spezifischeren Diagnose und letztlich auch zu einer gezielten Therapieentscheidung beitragen. Eine Diagnose stellen ist somit nicht immer gleichzusetzen mit Einteilung im Sinne einer Klassifikation nach WHO.

15.15.1 Diagnostik akuter Leukämien

15.15.1.1 Akute myeloische Leukämie (AML)

Je nach Subtyp der Leukämie haben die Methoden und Klassifikationsmodelle eine spezielle Bedeutung bei der Primärdiagnostik und bei Verlaufsuntersuchungen. Nach FAB- und WHO-Klassifikation sollten KM-Ausstriche ausgewertet werden. Es wird die Zählung von 200–500 KM-Zellen empfohlen. Nach FAB-Einteilung musste der Anteil der Blasten bei über 30 % der kernhaltigen Zellen im KM liegen; nach WHO wurde der Grenzwert auf ≥ 20 % festgelegt, was generell gilt. Von diesem Grenzwert sind nach WHO dann zusätzlich die AML mit spezifischen genetischen Aberrationen, d.h. AML mit t(15;17) oder t(8;21); oder inv(16) oder 11q23 ausgeschlossen.

Werden entsprechende Veränderungen der Chromosomen nachgewiesen, würde man auch dann von AML sprechen, wenn der Anteil der Blasten im Knochenmark unter 20 % läge. Diese Fälle sind aber sehr selten. Der Algorithmus der im klinischen Alltag weiter hilfreichen FAB-Einteilung und die FAB-Subgruppen für die AML sind aufgeführt in:

Bei der Diagnose einer ALL ist zytomorphologisch und nach Zytochemie (Myeloperoxidase unter 3 %, unspezifische Esterase negativ) zunächst festzustellen, dass eine AML L-M1–M6 nicht vorliegen. Zur weiteren zielführenden Einteilung ist dann die Immunphänotypisierung nötig, die einerseits die AML-M0 und die AML-M7 nach FAB sowie die biliniären und biphänotypischen akuten Leukämien nach EGIL und nach WHO von den klassischen ALL der B- und T-Linie abtrennt. Diese werden dann zusätzlich auf Grund ihres Markerprofils in weitere Untergruppen eingeteilt.Siehe:

Erste Beurteilung des KM bei der AML und der ALL

Beurteilt werden:

  • Zellgehalt auf dem Ausstrich, Bröckchen vorhanden.
  • Beschreibung der Morphologie von Blasten nach Größe, Kern-Plasma Relation, Zytoplasmafarbe, Einschlüsse, Auerstäbchen, Pseudo-Chediak Körperchen.
  • Anteil der Promyelozyten, Myelozyten, Metamyelozyten, Stäbe, Segmentkernige, Eosinophile, abnorme Eosinophile, Basophile, Monozyten.
  • Anteil der kernhaltigen Zellen der roten Reihe nach unterschiedlichem Reifungsgrad.
  • Anteil der reifen Lymphozyten, Plasmazellen.
  • Falls erforderlich vorhanden Gewebsmastzellen.
  • Zahl und Form der Megakaryozyten.

Weitergehende Definition der Blasten

Vielfach wurde versucht, die myeloischen Blasten nochmals nach Form und insbesondere Zahl der Granula im Zytoplasma zu unterteilen. Aus heutiger Sicht erscheint es allenfalls noch sinnvoll, folgende Unterteilung vorzunehmen:

  • Typ I-Blasten: Myeloblast mit unreifem Zytoplasma, ohne Granula, der Kern kann einzelne Nukleoli zeigen.
  • Typ II-Blasten: Ähnlich wie Typ I, aber mit 20 (andere Klassifikationen 15) azurophilen Granula im Zytoplasma.

Der früher noch als Typ III-Blast abgegrenzte Subtyp mit mehr als 15 bzw. 20 Granula sollte in der Routine entfallen. Es gilt zu bedenken, dass die Reproduzierbarkeit dieser Blasteneinteilung extrem begrenzt und ohne jede klinische oder klassifikatorische Relevanz ist. Sie kann deshalb bei der Klassifikation der AML und MDS zumeist vernachlässigt werden. Darüber hinaus sollten aber nach Morphologie und insbesondere nach Ausfall der Zytochemie sowie wenn erforderlich unter Zuhilfenahme von APAAP oder Immunphänotypisierung folgende Blastensubgruppen erfassbar sein:

  • Atypische Promyelozyten bei der AML-M3 und M3-Variante mit Translokation (15;17) und PML-RARA Nachweis.
  • Monoblasten und Promonoblasten, speziell nach unspezifischer Esterasereaktion bei der AML-M4, AML-M5a und AML-M5b.
  • Megakaryoblasten nach Messung von CD41 bzw. CD61 bei der AML-M7 mittels APAAP oder Immunphänotypisierung.

Proerythroblasten werden nicht zu den echten Blasten addiert, da sie sich schwer zwischen normal und maligne zuordnen lassen.

Beurteilung der Dysplasie

Neben dem Anteil der Blasten speziell, bei der AML, der eine Abgrenzung zu den Myelodysplasien ermöglicht, ist nach WHO 2008 auch bei der AML die Erfassung dysplastischer Veränderungen der drei Zellreihen wichtig geworden (WHO-Klassifikation, Tab. 15.15-3 – WHO-Klassifikation der AML). Zur Beurteilung der Dysplasie bei der AML nach WHO sind die Kriterien von Goasguen & Bennett zu verwenden /18/:

Dysgranulopoese:

≥ 50 % der Segmentkernigen (zumindest 10) sind agranulär oder hypogranulär, oder Pseudo-Pelger-Huet Veränderungen oder Peroxidasedefekt.

Über 100 Zellen sollten beurteilt werden

Dyserythropoese:

≥ 50 % von zumindest 25 kernhaltigen Zellen der roten Reihe zeigen eine der folgenden morphologischen Auffälligkeiten:

  • Karyorrhexis
  • Megaloblastoide Veränderungen
  • Mehrkernigkeit
  • Kernabsprengungen

Dysmegakaryopoese:

≥ 50 % von zumindest 6 Megakaryozyten zeigen eine der folgenden Auffälligkeiten:

  • Mikromegakaryozyten
  • Multiple Einzelkerne
  • Große mononukleäre Kernform

Es gilt bei der Dysplasie Beurteilung besonders zu beachten, dass bei der AML zumindest 50 % aller Zellen einer jeweiligen Reihe eine oder mehrere der zuvor genannten Veränderungen aufweisen müssen. Nur dann gilt die Reihe als dysplastisch. Dies steht im Gegensatz zur Beurteilung der gleichen Dysplasie Kriterien bei den myelodysplastischen Syndromen, bei denen nur 10 % der jeweils pro Reihe betrachteten Zellen diese Kriterien erfüllen müssen, um von Dysplasie sprechen zu dürfen.

Bei der AML ist die Dysplasie nach WHO 2008 nötig, weil beim Nachweis von 2 oder 3 dysplastischen Linien ein Patient in die Subgruppe „AML mit myelodysplasie-ähnlichen Veränderungen“ eingeordnet werden könnte.

Morphologische Einteilung der AML nach FAB Kriterien

Die FAB Einteilung basierte auf dem Reifungsgrad der Blasten, Zugehörigkeit zu Zelllinien und Zahl der Blasten sowie Beurteilung der Zytochemie, speziell Myeloperoxidase (MPO)- und unspezifischer Esterasereaktion (NSE) im KM-Ausstrich. Auch wenn sie in den Zeiten der WHO 2008 Klassifikation so eigentlich nicht mehr verwendet werden sollte, hat sie aus klinischer Sicht (man kann nicht 7–10 Tage auf eine komplette Diagnose nach WHO Kriterien warten) unverändert eine praktische Relevanz.

Die Ausreifung der Blasten und ihre jeweilige Abgrenzung zum normalen wie zum abnormen Promyelozyten (der AML-M3) kann nach Tab. 15.15-4 – Abgrenzung der Blasten von abnormen Promyelozyten bzw. von normalen Promyelozyten beurteilt werden. Die weitere Unterteilung der AML anhand morphologischer Eigenschaften nach FAB ist zu entnehmen aus Abb. 15.15-2 – Ablauf der Standarddiagnostik der akuten lymphatischen Leukämie zu.

Morphologische Aspekte zu den Subentitäten

AML-M0: Differentialdiagnostisch kommen biphänotypische akute Leukämien (EGIL-Klassifikation), auch die ALL, speziell mit t(9;22), sowie die AML-M5a in Frage. Zur definitiven Festlegung auf AML-M0 benötigt man deshalb eine Immunphänotypisierung.

AML-M1: Wegen des knappen Zytoplasmas und wenig Ausreifung sieht man speziell im peripheren Blutausstrich nicht selten sog. Pseudonukleoli, die dem sich in den Kern eindrückenden Golgiapparat entsprechen. Sie sollten nicht mit Riesennukleoli verwechselt werden. Es gibt eine gewisse Korrelation zum Nachweis dieses morphologischen Befundes und einer Mutation im NPM1 Gen. Die Ausreifung der Granulopoese auf die Stufe eines Promyelozyten oder darüber hinaus ist unter 10 %.

AML-M2: Die Ausreifung der Granulopoese auf die Stufe eines Promyelozyten oder darüber hinaus ist über 10 %. Man findet eine gewisse Korrelation dieses FAB-Subtyps mit der AML mit Translokation t(8;21). Von diesen genetisch definierten AML zeigen 90 % einen FAB-Subtyp M2 und 10 % einen Subtyp M1. Die Fälle mit AML-M2 und t(8;21) haben häufig Blasten Typ II oder Zellen, die nahe einem Promyelozyten sind (früher sog. Typ III-Blasten). Nach WHO liegt aber immer eine AML vor, auch wenn der Anteil der eindeutigen Blasten im strengeren Sinne unter 20 % wäre (Tab. 15.15-3 – WHO-Klassifikation der AML 2008). Dieser AML-Subtyp zeigt häufig lange Nadel ähnliche Auerstäbchen, eine Dysgranulopoese und eine leichte Eosinophilie.

AML-M3: Im Vordergrund stehen abnorme Promyelozyten, vielfach mit Bündeln von Auerstäbchen, sog. Faggot-Zellen. Die MPO ist immer über 90 % stark-positiv. Im peripheren Blut häufig Leukopenie.

AML-M3variant(v): Die Kerne sind bilobulär und können leicht mit Monozyten verwechselt werden. Man sieht kaum Granula und auch seltener Auerstäbchen als bei der M3. Die MPO ist auch hier stark positiv, die NSE ist negativ. Im peripheren Blut häufig Leukozytose.

AML-M4: Gemisch aus myeloischen und monozytären Blasten, dabei MPO über 3 % und NSE über 20 % im KM. Der Anteil der monozytären Blasten liegt somit über 20 %, aber unter 80 %.

AML-M4eo: Blasten wie in M4 und gleiche Zytochemie, aber daneben eindeutige sogenannte pathologische Eosinophile mit distinkten dunklen Granula. Diese Eosinophilen sind im Gegensatz zu normalen Eosinophilen positiv für Chloracetatesterase positiv. Beweisend für diesen Subtyp ist der Nachweis einer Inversion im Chromosom 16 bzw. das molekulare Korrelat CBFB-MYH11.

AML-M5a: Meist monomorphe Blastenpopulation mit relativ blauem Zytoplasma mit netziger Binnentextur. Sehr starke NSE in über 80 % der Blasten. Differentialdiagnostisch muss an M0, ALL (auch Burkitt-Typ) und an ein entdifferenziertes multiples Myelom gedacht werden.

AML-M5b: Dieser reifere Subtyp der monoblastären AML ist bzgl. der Ausreifung der monoblastären Zellen besser im Blut als im KM zu diagnostizieren. Auch hier findet sich in über 80 % eine mittelstarke bis starke NSE. Diese fällt im KM stärker als im Blut aus.

Bei AML-M5a und AML-M5b finden sich nicht selten zum Zeitpunkt der Diagnose eine Gingiva Hyperplasie oder Hautinfiltrate durch die Blasten.

AML-M6: Mehr als 50 % aller kernhaltigen Zellen gehören der roten Reihe an. Von den übrigen nicht-erythropoetischen Zellen sind zumindest 20–30 % Blasten (nach FAB). Mehr historisch zu sehen ist die Bedeutung der starken PAS-Positivität in den unreifen Erythropoese-Zellen. Sie kann die Diagnose M6 stützen, da eine normale Erythropoese diese Reaktion nicht zeigt, ist die PAS nicht unbedingt mehr in der Diagnostik der AML, speziell der AML-M6, notwendig.

AML-M7: Man hat bei diesem Subtyp, der viel häufiger bei Kindern als bei Erwachsenen beobachtet wird, häufig eine KM-Fibrose mit Punctio sicca. Auch wenn die Blasten eine gewisse spezifische Morphologie mit Ausstülpungen des Zytoplasma haben und z.T. an Megakaryoblasten erinnern, kann die Diagnose rein zytomorphologisch nicht zweifelsfrei gestellt werden. Bei Verdacht auf AML-M7 muss immer eine Immunphänotypisierung oder APAAP mit zumindest CD41 oder CD61 erfolgen.

Einteilung der akuten myeloischen Leukämien (AML) nach der WHO-Klassifikation 2008

Im Rahmen einer rein zytomorphologischen Abgrenzung zwischen AML und MDS sowie auch gegenüber den biliniären akuten Leukämien und der ALL wurde in der WHO-Klassifikation 2008 der AML (Tab. 15.15-3 – WHO-Klassifikation der AML) erneut festgelegt, dass bei über 20 % Blasten im Knochenmark von einer AML zu sprechen ist und somit die Kategorie RAEB-T, die zu den Myelodysplasien gehörte, entfällt /1/.

Als wichtigster, erster Schritt im Sinne einer biologischen Einteilung von Krankheitsbildern hat die WHO im Sinne einer Hierarchie als erste Stufe vier genetisch definierte Subtypen von AML mit spezifischen balancierten Translokationen als eigene Gruppe zusammengefasst. Für die vier in Tab. 15.15-3 – WHO-Klassifikation der AML 2008 genannten genetisch definierten Gruppen gilt z.T. die Bezeichnung AML auch dann, wenn die Zahl der Blasten im Knochenmark unter 20 % beträgt. Eine Einordnung in die MDS ist so ausgeschlossen.

Als zweiter Schritt der WHO-Klassifikation wurde eine Subgruppe herausgestellt, die u.a. auf der Basis morphologischer Kriterien definiert ist; die AML mit multiliniärer Dysplasie. Die dysplastischen Veränderungen werden dabei nach den Kriterien von Goasguen und Bennett eingeteilt /8/.

Als multilineär wird von der WHO der Nachweis von Dysplasien in zwei oder drei Zelllinien bei zumindest 50 % der analysierten Zellen im Knochenmark verstanden. Dies setzt somit für die AML einen sehr viel höheren Grenzwert zum Nachweis von Dysplasie fest als für die MDS; bei dieser müssen nur 10 % der Zellen Dysplasiekriterien aufweisen. In diese Gruppe fallen auch Patienten, die gleichzeitig oder nur zytogenetische Veränderungen haben, wie man sie beim MDS finden kann und solche, die in der Vorgeschichte ein MDS oder ein MDS/MPN overlap hatten. Diese somit divers definierte Kategorie der AML nach WHO muss noch weiter auf ihre Eigenständigkeit hin in prospektiven Studien geprüft werden. Verschiedene Analysen legen nahe, dass zwar die morphologischen Unterschiede erfasst werden können und teilweise auch mit bestimmten genetischen Subgruppen korrelieren, eine eigene prognostische Relevanz gilt es noch zu beweisen.

Auf dritter Stufe der WHO Hierarchie werden Subgruppen erfasst, die sich nur unter Einbeziehung der Anamnese definieren lassen; hier werden insbesondere die Therapie assoziierten MDS und AML geführt. Eine zusätzliche Unterteilung dieser Gruppe der AML nach dem Modus der vorausgegangenen Therapie (nach Alkylantien, nach Topoisomerase II-Hemmern, nach anderen Medikamenten oder nach Strahlentherapie) ist zur Beschreibung der Biologie und des klinischen Verlaufs zwingend erforderlich. Nicht nur klinische, sondern speziell auch zytogenetische und molekulargenetische Unterschiede zeichnen sich bei diesen Subgruppen ab, deren weitere Erfassung und biologische Beschreibung über diesen Vorschlag der WHO sinnvoll ermöglicht wird. In dieser Subgruppe werden nach WHO auch die AML nach vorangegangenem MDS oder MPS erfasst.

Erst in der vierten Stufe der WHO-Einteilung der AML wird auf die alten, rein morphologischen bzw. immunphänotypischen Subgruppen nach den oben dargestellten FAB-Kriterien zurückgegriffen. Dabei wurden weitere Subentitäten hinzugefügt: Die akute Basophilen-Leukämie, die akute Panmyelose mit Fibrose und das Myelosarkom bzw. Chlorom. Es bleibt abzuwarten, ob diese sehr seltenen Untergruppen der AML durch die Erfasssung nach WHO-Kriterien jetzt klarer erscheinen. Sie lassen sich teilweise nur unter Einbeziehung der histologischen Untersuchung diagnostizieren.

Im Beitrag 15.15 werden nach WHO jetzt auch die biphänotypischen Leukämien abgehandelt. Sie sollen nach den Kriterien der EGIL-Gruppe /6/ auf der Basis des Immunphänotyps definiert werden und stehen zwischen den akuten lymphatischen und den akuten myeloischen Leukämien.

In dieser Gruppe werden auch die undifferenzierten akuten Leukämien mit biliniären Eigenschaften und den genetischen Veränderungen t(9;22) oder t(4;11) erfasst. Ein Algorithmus zur AML-Primärdiagnose und Verlaufsuntersuchungen ist dargestellt in Abb. 15.15-2 – Ablauf der Standarddiagnostik der akuten lymphatischen Leukämie.

Zytogenetik, FISH und Molekulargenetik bei Leukämien

Bei Leukämien sind charakteristische Aberrationen der Chromosomen bekannt, die eigenständige Entitäten mit typischer Morphologie und charakteristischem klinischen Verlauf definieren. Sie sind zunehmend auch mit direkten therapeutischen Konsequenzen gekoppelt. So wurden in die neue WHO-Klassifikation der akuten myeloischen Leukämien spezifische Veränderungen der Chromosomen als entscheidendes Klassifikationskriterium aufgenommen. Neben der klassischen Zytogenetik, der Chromosomenbänderungs-Analyse, spielen additiv und auch eigenständig zunehmend die Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung (FISH) und molekulare Techniken wie die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) eine sehr wichtige Rolle. Dies gilt zur Diagnostik und Klassifikation von Leukämien und auch zur Bestimmung des Ansprechens auf Therapie (minimale Resterkrankung, MRD). Zur Zytogenetik und Molekulargenetik bei Leukämien siehe Übersichtsliteratur /79/ und auch Tab. 15.15-1 – Methoden zur Diagnostik bei akuten Leukämien.

15.15.1.2 Akute lymphatische Leukämie (ALL)

Zytomorphologie, Zytochemie (Pappenheim, Myeloperoxidase, früher auch PAS) und insbesondere die Immunphänotypisierung, Chromosomenanalyse und Molekulargenetik stellen die Primärdiagnostik bei der ALL (Abb. 15.15-2 – Standarddiagnostik der akuten lymphatischen Leukämie). Die Therapie wird maßgeblich vom Befund der Immunphänotypisierung und der Zytogenetik/Molekulargenetik beeinflusst. Neben der Unterscheidung zwischen B- und T-Zell-Reihe sind viele zusätzliche Aspekte zu erhalten. Darüber hinaus sind zahlreiche Aberrationen von Chromosomen beschrieben, die prognostische und therapeutische Relevanz haben. Zum einen werden die ALL anhand des Karyotyps in sogenannte Ploidiegruppen, d.h. nach der Anzahl der Chromosomen eingeteilt, zum anderen erfolgt eine Gruppierung nach strukturellen Aberrationen. Die häufigste Translokation der ALL im Erwachsenenalter ist die t(9;22)(q34;q11). Sie ist mit einer ungünstigeren Prognose assoziiert und bedarf gezielter Therapie.

Durch die Einführung von z.B. Imatinib, einem spezifischen Tyrosinkinase Inhibitor, hat der Nachweis der Philadelphia-Translokation bzw. des molekulargenetischen Korrelats, des BCR-ABL-Rearrangements eine hohe therapeutische Bedeutung erlangt. Da bei einem kleinen Anteil von ALL sogenannte kryptische BCR-ABL-Rearrangements vorliegen, die mittels Chromosomenanalyse nicht detektierbar sind, sollte auf Grund der wichtigen therapeutischen Konsequenzen ein Screening mittels FISH oder RT-PCR bei allen ALL der B-Zellreihe in Erwägung gezogen werden /710/. Im Rahmen von wissenschaftlichen Analysen erfolgt die Beurteilung des Therapieansprechens mittels Real time PCR, entweder mittels Leukämie spezifischer Fusionstranskripte oder Patienten spezifischer Immunglobulin- oder T-Zellrezeptor-Rearrangements. Von diesen Daten sind entscheidende Fortschritte der Therapiesteuerung zu erwarten. Erste Ergebnisse bei Kindern sind vielversprechend /11/.

Die Einteilung der ALL nach rein morphologischen Kriterien, wie sie nach der FAB-Klassifikation vorgenommen wurden (L1, L2, L3), spielt keine Rolle mehr. Eine gewisse Reminiszenz wird allenfalls dadurch erbracht, dass der Subtyp der reifen B-ALL mit t(8;14) zumeist dem nach FAB sogenannten L3-Subtyp entspricht. Die Zellen zeigen dann meist ein sehr dunkelblaues Zytoplasma und viele Vakuolen. Die Morphologie allein darf aber wegen der immensen therapeutischen Konsequenzen auch in diesem Falle nicht allein als hinreichend angesehen werden. Sie muss unbedingt durch Immunphänotypisierung und Zytogenetik bzw. Molekulargenetik ergänzt werden.

15.15.2 Bedeutung der KM-Histologie bei akuten Leukämien

Im Gegensatz zur Bedeutung der KM-Histologie bei chronischen Leukämien und beim Lymphomstaging ist die Bedeutung bei den akuten Leukämien eher untergeordnet. Einzelne Aspekte sprechen neben den zuvor beschriebenen Methoden der Zytomorphologie, Zytochemie auf Ausstrichen, der Immunphänotypisierung sowie der Zytogenetik und der Molekulargenetik für eine zusätzliche Durchführung einer KM-Stanze bei:

  • Punctio sicca und Leukopenie oder fehlenden Blasten im peripheren Blut.
  • Starker Fibrose, z.B. AML-M7 oder Packed marrow, das ebenso dann zur Punctio sicca bei der Aspiration führt.
  • Bestimmung der Neo-Angiogenese in entsprechenden Therapiestudien mit Hemmern der Angiogenese.
  • Differentialdiagnose zur schweren aplastischen Anämie (SAA), hypozellulärem MDS oder bei Verdacht auf Tumorzellinfiltration im Knochenmark.
  • Staging und Verdachtsdiagnose eines Lymphoms, um den KM-Befall sicher erfassen zu können. Hier sind KM-Stanze inkl. Immunhistologie und Immunphänotypisierung aus KM-Aspirat komplementär aber nicht in allen Fällen übereinstimmend, so dass die richtigste Aussage nur bei Verwendung beider Methoden erhalten wird.

So gilt es, in jedem Einzelfall eine Abwägung hinsichtlich einer KM-Biopsie bei Diagnosestellung einer akuten Leukämie zu machen. Zwar kann diese wohl zumeist entfallen, sollte aber ggf. bei Notwendigkeit zeitgleich mit den anderen Entnahmen durchgeführt werden, um einen zweiten Eingriff zu vermeiden. Aktuelle weiterführende Literatur zur Diagnostik bei akuten Leukämien siehe Lit. /1213/.

Literatur

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14. Journal article. A patient with hypokalemia and hypoxemia – what is the culprit? Clin Chem 2023; 69 (11): 1220–5.

15.16 Myelodysplastische Syndrome

Torsten Haferlach

Die myelodysplastischen Syndrome (MDS) sind myeloide Neoplasmen, die charakterisiert sind durch die klonale Proliferation hämatopoetischer Stammzellen, genetischen Abnormitäten, Myelodysplasie, ineffektiver Hämatopoese, Zytopenie des peripheren Blutes und einem hohen Risiko der Ausbildung einer akuten myeloischen Leukämie /1/. Die MDS entstehen auf dem Boden genetischer Veränderungen hämatopoetischer Stammzellen. Diese bedingen eine ineffektive Hämatopoese, häufig mit Zytopenien im peripheren Blut. Klinisch in Erscheinung treten eine Anämiesymptomatik (ineffektive Erythropoese), eine erhöhte Infektanfälligkeit (Granulozytopenie) und eine hämorrhagische Diathese (Thrombozytopenie). MDS sind Erkrankungen des höheren Lebensalters, das mediane Erkrankungsalter liegt bei 69 Jahren. Die Inzidenz im Alter über 70 J. ist 30 : 100.000 Einwohner/Jahr.

15.16.1 Diagnostik der MDS

Die Diagnose von MDS wird bisher auf dem Boden der zytomorphologischen Untersuchung von Knochenmark und peripherem Blut gestellt.

Ziel der Diagnosestellung ist die Abgrenzung der MDS von anderen klonalen myeloischen Erkrankungen, wie der AML, aber auch der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH), der schweren aplastischen Anämie (SAA) und von reaktiven und anderen benignen Veränderungen, die mit einer dysplastischen Hämatopoese einhergehen können. Neben der Zytomorphologie kommt ein zentraler diagnostischer Stellenwert auch der Zytogenetik zu, die nicht nur im Fall eines aberranten Karyotyps das Vorliegen einer klonalen Erkrankung bestätigt, sondern auch großen prognostischen Wert hat und in der neuen WHO-Klassifikation Beachtung findet /1/.

Bisher müssen aber noch verschiedene morphologische Klassifikationen zur Einteilung der MDS Anwendung finden. So galt bis vor kurzem die FAB-Einteilung, die jetzt durch die WHO-Klassifikation erweitert und schrittweise abgelöst wird /12/.

Die Einteilung der MDS nach WHO beruht somit zunächst vorwiegend auf zytomorphologischen Kriterien:

  • Dysplasie der Granulopoese und/oder der Erythropoese und/oder der Megakaryopoese.
  • Nachweis von Ringsideroblasten.
  • Der relativen und absolute Zahl von Monozyten
  • Dem Anteil der myeloischen Blasten im Blut und/oder im Knochenmark.

Anhand dieser Einzelparameter, wobei für den Nachweis der Dysplasie bei den MDS nur 10 % der beurteilten Zellen der im Beitrag 15.15 genannten Dysplasiekriterien /3/ aufweisen müssen, siehe:

Die WHO-Klassifikation des MDS basiert primär hauptsächlich auf zytomorphologischen Kriterien (Tab. 15.16-2 – IPSS-Score, Gruppierung nach Punkten). Die Entitäten RA, RARS bleiben erhalten, die Entitäten RAEB sowie CMML werden je nach Anteil der Blasten im KM nochmals weiter unterteilt. Außerdem wird die Kategorie Refractory cytopenia with multilineage dysplasie, RCDM und eine Untergruppe MDS-unclassifiable eingeführt. Es bleibt abzuwarten, ob diese wiederum auf rein morphologischen Kriterien basierende weitere Aufteilung der MDS sehr absehbar mit molekularen Markern verbessert und verändert wird und eine neue klinische Relevanz definiert und getestet werden muss /2/. Sicher ist es aber weiterhin sinnvoll, die Entität 5q-Syndrom als eigene Kategorie aufzuführen, da sie klinisch und genetisch klar von allen anderen MDS-Subgruppen abgrenzbar ist, und eine günstigere Prognose und eine spezifischere Therapie aufweisen kann mit Lenalidomid. Doch auch hier spielen zunehmend zusätzliche Erkenntnisse aus der Molekulargenetik, z.B. zu TP53-Mutationen bei Patienten mit 5q-Syndrom, eine Rolle /3/.

Im Rahmen der zytomorphologischen Diagnostik sollten mindestens 200 (nach WHO 500) Knochenmarkzellen und 20 Megakaryozyten evaluiert werden, Dysplasiezeichen beim MDS sollten in mindestens 10 % der Zellen nachweisbar sein. Einen besonderen diagnostischen Stellenwert haben Pseudo-Pelger-Neutrophile, Peroxidase-Defekt der Segmentkernigen, Ringsideroblasten, Mikromegakaryozyten und die Vermehrung von KM-Blasten zwischen 5–19 %. Diese morphologischen Veränderungen korrelieren zwar z.T. mit dem Vorliegen klonaler zytogenetischer und neuerdings auch molekulargenetischer Marker, weisen allerdings auch eine deutliche Abhängigkeit vom Untersucher auf. Es bleibt abzuwarten, ob diese wiederum auf rein morphologischen Kriterien basierende weitere Aufteilung der MDS klinische Relevanz haben wird. Sicher ist es aber sinnvoll, die Entität 5q-Syndrom als eigene Kategorie aufzuführen, da sie klinisch und genetisch klar von allen anderen Subgruppen des MDS abgrenzbar ist und eine günstigere Prognose aufweist.

Dies gilt nicht für das 5q-Syndrom, das durch einen klaren genetischen Marker, Blasten unter 5 % im KM und häufig eine normale oder sogar erhöhte Zahl von Thrombozyten im peripheren Blut charakterisiert ist.

Im morphologischen Bereich sollte somit die Untersuchung der Hypogranulation von Neutrophilen nicht das einzige Kriterium bleiben. Generell ist ein frühes Stadium einer refraktären Anämie (RA) mit Zytopenie und Dysplasie in nur einer Linie häufig schwierig zu diagnostizieren und erfordert die Durchführung von Verlaufskontrollen in Abständen von 2–3 Monaten vor endgültiger Diagnose eines MDS mit ggf. weitreichenden klinischen Konsequenzen. In ähnlicher Weise sind die neu eingeführten Entitäten RN und RT für alleinige Neutropenie (RN) bzw. Thrombozytopenie (RT) einzuschätzen, die zusammen mit der RA jetzt als RCUD (Refractory cytopenia with unilineage dysplasia) aufgeführt werden. Bezugnehmend der Differenzierung zwischen hypoplastischem MDS und aplastischer Anämie ist zu berücksichtigen, dass sich Zeichen der Dysplasie in der Erythropoese auch bei letzterer finden und daher im Gegensatz zu Dysplasiezeichen der anderen Reihen und einer Vermehrung von Blasten im Knochenmark keinen diagnostischen Wert haben. Auch der Nachweis zytogenetischer Veränderungen spricht sicher mehr für das Vorliegen eines MDS als für eine aplastische Anämie, beweist aber weder das eine noch das andere. In die Differentialdiagnose sollte auch die PNH eingeschlossen werden. Eine Histologie inkl. Immunhistologie zur Abgrenzung dieser Entitäten sind anzuraten.

Neben der Zytomorphologie und Zytogenetik findet in zunehmendem Maße auch die multiparametrische Durchflusszytometrie Eingang in die diagnostische Aufarbeitung bei Verdacht auf MDS. So weist diese Methode die Möglichkeit auf, für die verschiedenen Linien der Granulopoese, Monozytopoese und Erythropoese Dysplasiezeichen in Form aberranter Expressionsmuster von Antigenen qualitativ zu beurteilen und die Blasten zu quantifizieren. Dementsprechend ist die Korrelation zu zytomorphologischen Befunden hoch. Auch konnte in zytomorphologisch schwierig einzuordnenden Fällen wertvolle diagnostische Informationen mit prognostischer Relevanz gewonnen werden.

15.16.2 Erfassung von Prognosefaktoren bei der Diagnose eines MDS

Generell ist die Prognose bei Patienten mit MDS gegenüber der Bevölkerung reduziert, insbesondere bei jüngeren Patienten und in Fällen mit Hochrisiko-MDS. Das gegenwärtig aussagekräftigste und weitgehend angewandte System zur Prognoseabschätzung ist der IPSS-Score (International prognostic scoring system) /4/, der die Parameter Blasten im Knochenmark, Karyotyp-Veränderungen und Anzahl der Zytopenien zu Grunde legt:

Das Scoringsystem basiert auf 816 Patienten mit MDS, die zum größten Teil nicht behandelt wurden, so dass der spontane Verlauf abzuschätzen war. Die innerhalb der letzten Jahre gewonnenen biologischen Einblicke in die Grundlagen und den klinischen Verlauf des MDS und die in vielen Aspekten vorhandenen Parallelen zur akuten myeloischen Leukämie (AML) haben, zumindest bei jungen und Hochrisiko Patienten, zur Anwendung von AML-typischen Therapien geführt und schränken somit teilweise die Anwendbarkeit des IPSS-Scores ein. Neue Erkenntnisse aus der Zytogenetik müssen eingearbeitet werden /56/. Auch die Berücksichtung von Transfusionspflichtigkeit zur Prognoseabschätzung wird vorgeschlagen, WPSS /7/. Wie eng die beiden Erkrankungen MDS und AML korrelieren, zeigen die genetischen Aberrationen, die in Tab. 15.16-4 gegenübergestellt sind. Dies zeigt, dass in der Diagnostik des MDS zwar die Zytomorphologie eine wichtige und grundlegende Bedeutung hat, die Frage der Prognose und der eigenständigen biologischen Entität sicher aber mit anderen Parametern, speziell aus der Zytogenetik, beantwortet werden kann /8/. Der IPSS-Score hat hier schon in die richtige Richtung gewiesen.

So gilt für MDS, ebenso wie für die akuten Leukämien und die chronischen myeloproliferativen Syndrome, dass nur durch eine Kombination von Zytomorphologie /59/ und Zytogenetik, möglicherweise bald informativ, noch ergänzt durch Immunphänotypisierung und Molekulargenetik, die Diagnose gestellt werden sollte. Die WHO-Klassifikation von 2008 /1/ wird somit rasch erweitert werden müssen, um neben der Klassifikation in prospektiven Studien ihre klinische und prognostische Relevanz abzubilden. Die nach der Diagnose empfohlene Therapie hat sich von einem häufig nur supportiven und teilweise sogar nihilistischen Ansatz klarer neu ausgerichtet mit biologisch anders wirkenden Substanzen wie Lenalidomid oder Azazytidin und kann nur unter Durchführung der zuvor genannten Labormethoden beim einzelnen Patienten zielgenauer angesetzt werden.

Literatur

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9. Haferlach T. The molecular pathology of myelodysplastic syndrome. Pathobiology 2018; 23: 1–6.

15.17 Myeloproliferative Neoplasien (MPN)

Torsten Haferlach

Unter dem Oberbegriff der chronischen myeloproliferativen Neoplasien (MPN) wurden im engeren Sinne bisher folgende Entitäten zusammengefasst:

  • Polycythämia vera (PV).
  • Essentielle Thrombozythämie (ET).
  • Primäre Myelofibrose (PMF).
  • Chronische myeloische Leukämie (CML).

Die neue WHO-Klassifikation von 2008 fügt diesen vier Entitäten jetzt noch hinzu /1/:

  • Die chronische Eosinophilenleukämie (nicht genauer spezifiziert).
  • Die chronische Neutrophilenleukämie und die Mastozytose.

Die MPN treten sporadisch auf, gehen somit auf erworbene und nicht auf angeborene klonale genetische Veränderungen zurück. In allen Fällen sind als Ausgangszellen pluripotente hämatopoetische Stammzellen anzunehmen.

Durch schrittweise Aufklärung eines klinisch, morphologisch, zytogenetisch und molekulargenetisch klar definierten Krankheitsbilds wurden zunächst speziell in der Diagnostik und der Therapie der CML und seit 2005 auch bei den JAK2-mutierten MPN neue Wege eröffnet /23/.

Umso wichtiger ist zunächst eine Abgrenzung innerhalb der MPN und die Definition der BCR-ABL1 positiven CML auf Grund morphologischer, klinischer und insbesondere labordiagnostischer Befunde. Siehe:

Es werden aber klinisch auch überlappende Merkmale und ineinander übergehende Erscheinungsformen der anderen MPN gesehen, da bei allen diesen JAK2-Mutationen beobachtet werden. Weiterhin ist bei der Diagnose und Differentialdiagnose der MPN neben der zytogenetischen und molekulargenetischen Diagnostik auch die Knochenmarkhistologie von großer Bedeutung. Siehe Abb. 15.15-2 – Ablauf und Standarddiagnostik der akuten lymphatischen Leukämie.

Mit Ausnahme der ET zeigen die MPN eine fast vollständige Verdrängung des Fettmarkes. Im Einzelnen gilt es in der Diagnostik der MPN die in Tab. 15.17-1 und Tab. 15.17-2 aufgeführten Aspekte zu berücksichtigen.

15.17.1 Chronische myeloische Leukämie

Innerhalb der Gruppe der MPN ist die chronische myeloische Leukämie (CML) zytogenetisch am besten untersucht. Das Vorliegen einer Philadelphia-Translokation grenzt sie eindeutig gegenüber allen anderen myeloproliferativen Erkrankungen ab. Bei Patienten mit CML gelang der überhaupt erste Nachweis einer tumorspezifischen Chromosomenveränderung durch Nowell und Hungerford bereits 1960 /4/. Sie entdeckten damals ein kleines Marker-Chromosom, das später den Namen Philadelphia-Chromosom erhielt. Nach Einführung der Bänderungstechniken in die Zytogenetik konnte das Philadelphia-Chromosom als verkürztes Chromosom 22 identifiziert werden. 1973 wurde gezeigt, dass die Verkürzung des Chromosoms 22 durch eine Translokation zwischen dem langen Arm von Chromosom 9 und dem langen Arm von Chromosom 22 zustande kommt: t(9;22)(q34; q11) /5/.

Die Entwicklung molekulargenetischer Verfahren erlaubte die Identifizierung der beteiligten Gene: ABL1 auf dem langen Arm von Chromosom 9 in der Chromosomenbande 9q34 und die sogenannte Breakpoint cluster region, BCR auf dem langen Arm von Chromosom 22 in der Chromosomenbande 22q11. Somit führt die Translokation t(9;22)(q34;q11) auf molekularer Ebene zur Bildung von zwei Leukämie spezifischen hybriden Genen: BCR-ABL1 auf dem derivativen Chromosom 22 und ABL1-BCR auf dem derivativen Chromosom 9. Das BCR-ABL1-Gen kodiert ein chimäres Protein, welches im Vergleich zum normalen ABL eine erhöhte Tyrosinkinase Aktivität aufweist; dieses spielt eine entscheidende Rolle in der Pathogenese der CML /6/. Konsequenterweise ist die Diagnose einer CML abhängig von dem klinischen Bild, von Blut- und KM-Befunden, verlangt aber auf jeden Fall auch den Nachweis des pathognomonischen BCR-ABL1-Fusionstranskripts. Dies gilt insbesondere nach Einführung der Therapie mit Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) /7/.

Die Patienten mit CML und einem zytogenetisch normalen Karyotyp (ca. 5 %) weisen sowohl in der Fluroeszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) als auch in der RT-PCR ein BCR-ABL1-Rearrangement auf. Mittels FISH an Metaphasen lässt sich das BCR-ABL1-Fusionsgen entweder auf dem Chromosom 22 oder seltener auf dem Chromosom 9 nachweisen. Diese Gruppe von CML wird als Philadelphia-negative, BCR-ABL1-positive CML bezeichnet, klinisch spielt dies keine Rolle. Es führt aber zu dem Hinweis, dass eine alleinige Chromosomenanalyse in der Diagnostik der CML nicht ausreicht.

Zytomorphologie und Histologie

Bei der CML finden sich von allen MPN die höchsten Leukozytosen (bis zu 700 × 109/l). Es ist dabei eine Linksverschiebung bis hin zum Blasten (meist unter 5 %) sowohl im peripheren Blut als auch im Knochenmarkaspirat relativ spezifisch. Das Knochenmark zeigt bei hyperzellulärem Bild eine massive Zunahme der Granulopoese im Vergleich zur Erythropoese (bis zu einem Verhältnis von 20 : 1; normal: 3 : 1) Daneben findet sich eine Eosinophilie und insbesondere, relativ pathognomonisch, eine Basophilie. Bei allen MPN, speziell aber bei der CML, bestehen durch den vermehrten Zellumsatz im Knochenmark in vielen Fällen Glykolipid speichernde Zellen, sog. Pseudo-Gaucherzellen und meerblaue Histiozyten. Bei der CML besteht bei Diagnosestellung selten eine Fibrose des KM.

Die Diagnostik der CML bei Erstdiagnose und im Verlauf sollte sich nach bestimmten Algorithmen ausrichten, die dann die Therapie steuern /8/. Generell gelten bei Primärdiagnose die zytomorphologische Untersuchung von Blut und KM sowie eine Histologie des KM als obligat. Weiterhin erforderlich sind die Chromosomenanalyse (am besten aus KM), eine FISH- und eine PCR-Analyse auf BCR-ABL1. Die PCR kann quantitativ erfolgen und dient bei gutem Therapieansprechen als sensitivster Verlaufsmarker mittels quantitativer PCR. Im weiteren Verlauf sind zunächst alle 3 Monate Untersuchungen anzuraten. Eine klassische Zytogenetik sollte auch später noch einmal pro Jahr erfolgen. Der Grund ist, dass unter den Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI), wie selten auch unter Interferon-Therapie schon früher gesehen, Philadelphia-unabhängige zytogenetische Veränderungen wie eine Trisomie 8 oder eine Monosomie 7 auftreten /9/. Deren Bedeutung und Einfluss auf den Krankheitsverlauf ist offen, wird aber noch weiter genau validiert.

Weiterhin werden TKI-Resistenzen durch Mutation im Bereich des Wirkorts der Substanzen beobachtet. Bei einem Verdacht ist eine Mutationsanalyse durchzuführen, da dieses Ergebnis eine angepasste Therapie ermöglicht.

Nach allogener Knochenmarktransplantation ist ein erneuter Nachweis des BCR-ABL1-Fusionstranskriptes mittels quantitativer PCR, die das Auftreten eines Rezidivs voraussagt, von klinischer Relevanz.

Phasen der CML bezogen auf den klinischen Verlauf

Durch Einsatz verschiedener Therapiemodalitäten, TKI, Interferon und die allogene Transplantation, sind die Szenarien der klinischen Verläufe der CML im Vergleich zu früheren Situationen verändert. Das Überleben der Patienten deutlich verlängert. Trotzdem ist es weiter sinnvoll, sich aus klinisch-morphologischer Sicht die drei Stadien der CML als Orientierung (Tab. 15.17-3 – WHO-Klassifikation der CML auf der Basis der morphologischen Befunde/1/.

Diese Einteilung ist auch in der neuen WHO-Klassifikation beibehalten worden und gestattet eine klare Zuordnung des Patienten. Dies darf aber nie allein zu therapeutischen Konsequenzen Anlass geben. Vielmehr sind zur richtigen Diagnose und insbesondere Therapiesteuerung bei Patienten mit CML nach festem Algorithmus die klassische Zytogenetik, FISH, PCR und quantitative PCR sowie auch Mutationsanalysen nach internationalen Empfehlungen durchzuführen /8/.

15.17.2 Polycythämia vera (PV)

Zytomorphologie und Histologie

Im Blutbild findet sich bei der PV eine deutliche Erhöhung des Hämatokrits auf über 50 %, der Hämoglobinwert beträgt 16–22 g/dl, eine mäßige Leukozytose und Thrombozytose wird beobachtet. Die Knochenmarkzytologie bei der PV zeigt bei hyperzellulären Verhältnissen ebenso eine gleichmäßige Vermehrung aller drei Zellreihen. In der Eisenfärbung fehlt Speichereisen, das in die vielen Erythrozyten eingebaut ist.

Histologisch sieht man eine erhöhte Megakaryozytenzahl mit Riesenformen und Haufenbildung, sowie eine gesteigerte Granulozytopoese und Erythropoese mit fehlendem Speichereisen, eine Hyperplasie des Sinussystems und eine unterschiedlich starke Fibrosierung sowie Osteopenie. Nur in 10 % der Fälle zeigt die PV einen normal imponierenden Knochenmarkbefund. Die diagnostischen Kriterien sind aufgeführt in Tab. 15.17-4 – Diagnosekriterien der Polycythemia vera.

Die Diagnose PV darf aber nicht mehr ohne molekulare Analysen auf JAK2 V617F-Mutationen gestellt werden (in 95 % der PV mutiert), eine reaktive Polyglobulie kann damit in fast allen Fällen ausgeschlossen werden (Tab. 15.17-4 und Tab. 15.15-2 – Frühere FAB-Klassifikation der AML) /123/. Patienten mit einer reinen Polyglobulie zeigen bisweilen eine JAK2-Mutation im Exon 12 /10/. Differentialdiagnostisch müssen trotzdem weiterhin für die JAK2 nicht mutierten Patienten eine Hypoxie auf Grund kardialer oder pulmonaler Ursache, Erythropoetin-produzierende Tumore, erhöhte Androgene oder auch eine Hyperplasie der roten Reihe durch Nikotinabusus ausgeschlossen werden. De facto ist zur Diagnose der PV eine Knochenmarkpunktion allerdings nicht mehr obligat nötig, da die Kriterien zumeist auch aus peripherem Blut untersucht werden können.

Allerdings wird nach der WHO-Klassifikation auch die Durchführung einer Zytogenetik bei der PV empfohlen. Die Inzidenz der Aberration von Chromosomen steigt mit der Fortdauer der Erkrankung an. Sie ist höher bei Patienten, die eine myelosuppressive Therapie erhalten. Hier lässt sich jedoch nicht sicher sagen, ob dieses einen Einfluss der Therapie reflektiert oder lediglich damit im Zusammenhang steht, dass Patienten mit progressiver Erkrankung häufiger myelosuppressiv behandelt werden. Die Transformation der Erkrankung in ein MDS oder eine AML ist ebenfalls mit einer erhöhten Rate an Karyotyp Veränderungen assoziiert. Insgesamt scheint somit der Nachweis von Chromosomenaberrationen mit einer ungünstigen Prognose assoziiert zu sein.

15.17.3 Primäre Myelofibrose (PMF)

Zytomorphologie und Histologie

Die PMF zeigt im peripheren Blut uncharakteristische Befunde, zumeist eine Anämie mit Retikulozytose sowie bei funktioneller Splenektomie Jolly-Körperchen und Tear drop Formen der Erythozyten. Bei starker KM-Fibrose mit extramedullärer Blutbildung kommen auch Normoblasten im peripheren Blut vor. Die Zahl der Leukozyten und Thrombozyten zeigt keine eindeutige Richtung an, nicht selten liegen eher niedrige als normale oder gar erhöhte Werte zum Zeitpunkt der Diagnose vor. Auf Grund einer Funktionsstörung der Thrombozyten ist die Blutungszeit bisweilen verlängert.

Bei der PMF ist die Zytologie des Knochenmarks häufig wegen der starken Faservermehrung und der dadurch bedingten Punctio sicca nicht auswertbar. Wenn diese trotzdem neben der Histologie, die obligat ist, erzwungen werden soll, kann versucht werden, Abrollpräparate einer Stanze zu machen.

Das histologische Bild zeigt eine unterschiedlich starke Fibrose (MF 0–3) mit fakultativem Auftreten der Neubildung von Geflechtknochen, entzündlichen Markveränderungen mit Lymphozyteninfiltraten, Erythrozytenextravasaten, Plasmozytose und entzündlichen Gefäßveränderungen mit weiten Sinusoiden, eine Wandsklerose und intra sinusoidal gelegene Hämatopoese. Außerdem finden sich Haufen atypischer Megakaryozyten und eine megaloblastoide Erythropoese. Blasten sind bei Diagnose meist nicht vermehrt. Im Verlauf der Erkrankung nehmen die Zytopenien zu, die Splenomegalie kann immense Maße annehmen, der Übergang in eine akute Leukämie wird beobachtet.

Zytogenetisch ist bei Patienten mit PMF der Stückverlust im langen Arm von Chromosom 20 (20q-) die häufigste Chromosomenaberration. Diese wird, wie Deletionen im langen Arm von Chromosom 13, bei 6–7 % der Patienten beobachtet. Als weitere Veränderungen des Karyotyps werden numerische Veränderungen der Chromosomen 7, 8 und 9 sowie strukturelle Aberrationen von 1q und 5q beschrieben /1/. Die Durchführung einer Chromosomen Analyse wird empfohlen, bei Punctio sicca kann auch eine Stanze in physiologischer NaCl Lösung mit etwas Heparin zur weiteren Analyse prozessiert werden.

Daneben sind molekulare Marker zwingend zu bestimmen, an erster Stelle JAK2 und MPLW515 (Tab. 15.17-5 – Diagnosekriterien der Primären Myelofibrose). Neuere gezielte Therapien stehen seit kurzem zur Verfügung /11/.

15.17.4 Essentielle Thrombozythämie (ET)

Zytomorphologie und Histologie

Der Leitbefund bei der ET ist die ausgeprägte Thrombozytose, die bis zu 5 × 1010/l erreichen kann. Nach WHO sind ≥ 450 × 109/l gefordert (Tab. 15.17-6 – Diagnosekriterien der essentiellen Thrombozythämie). Im Ausstrich sind häufig Riesenthrombozyten und Thrombozyten-Aggregate zu sehen. Die Blutungszeit kann normal oder verkürzt, allerdings wegen funktionaler Störungen der Thrombozyten auch verlängert sein. Aus den Thrombozyten wird Kalium freigesetzt, was zu einer Hyperkaliämie führt. Die ET zeigt im KM zytomorphologisch und histologisch bei normaler Granulopoese und Erythropoese diagnoseführend Megakaryozytenhaufen, die sich häufig um die zentral-intermediär gelegenen Sinus finden. Die Diagnose ET ist bisweilen eine Ausschlussdiagnose. Auch sie verlangt einen Stufenalgorithmus der molekularen Diagnostik (Tabb. 15.15-2 – Frühere FAB-Klassifikation der AML).

Nur ca. 5 % der Patienten mit ET weisen klonale Karyotyp-Anomalien auf. Am häufigsten wird bei diesen der Zugewinn eines Chromosoms 9 beobachtet. Die Durchführung einer vollständigen Chromosomen Analyse erscheint deshalb nicht obligat, aber im Rahmen der Erstdiagnose bei Verdacht auf ein MPN sinnvoll.

15.17.5 Chronische Eosinophilenleukämie (CEL), nicht anders spezifiziert

Nach der WHO-Klassifikation 2008 ist in dem Kapitel der MPN auch die chronische Eosinophilenleukämie (nicht anders spezifiziert) aufgeführt. Diese ist hier eingeordnet, weil im Gegensatz dazu die Erkrankungen mit Eosinophilie und Nachweis von molekularen Veränderungen an den Genen FIP1L1-PDGFRA, FGFR1, oder PDGFRA und PDGFRB ein Extrakapitel einnehmen /112/. So bleibt nach Ausschluss der molekularen Veränderungen oder auch spezifischer zytogenetischer Befunde diese nicht genauer einzuordnende CEL als Teil des MPN-Kapitels übrig. Diese hat Definitions gemäß eine Eosinophilie im Blut (1,5 × 109/l), weniger als 20 % Blasten und zeigt keine Veränderungen der Chromosomen.

15.17.6 Mastozytose

In der WHO-Klassifikation von 2008 sind auch die Mastozytosen in dem Kapitel zu den MPN aufgeführt. Es werden unterschieden: Die kutane Mastozyose (CM), die indolente systemische Mastozytose (ISM), die systemische Mastozytose mit klonaler hämatologischer Erkrankung von einer Zellsorte außerhalb der Mastzellen (SM-AHNMD), die aggressive systemische Mastozytose (ASM), die Mastzellleukämie (MCL), das Mastzellsarkom (MCS) und die extrakutane Mastozytose.

Im Detail wird nicht auf die aufwendigen Diagnosekriterien für die einzelnen Subgruppen genauer eingegangen /13/. Es sind u.a. verschiedene Untersuchungen in der Dermatologie ebenso nötig wie Laborparameter (z.B. die Messung der Tryptase im Serum), Immunphänotypisierung bzw. Histologie und Immunhistologie gehören dazu. Weiterhin sind Genmutationen zu untersuchen wie die Analyse auf KIT (meist D816V)-Mutationen.

Literatur

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15.18 Immunphänotypisierung von akuten Leukämien und Non-Hodgkin-Lymphomen

Richard Schabath, Wolf-Dieter Ludwig

Die Diagnose und Klassifikation der akuten Leukämien (AL) und der Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) orientiert sich an der Klassifikation der World Health Organization (WHO) von Tumoren hämatopoetischer und lymphatischer Gewebe /1/. In dieser werden akute myeloische Leukämien (AML) und akute lymphatische Leukämien (ALL) der Vorläufer B- bzw. Vorläufer-T-Zellen von reifen B-, T- und NK-Zell-Neoplasien abgegrenzt. Bei der differentialdiagnostischen Unterscheidung der Subtypen der AL bzw. NHL werden morphologische bzw. histologische Merkmale, Immunphänotyp und Genotyp berücksichtigt. Die häufig parallel durchgeführte Analyse dieser zellbiologischen Merkmale von Tumorzellen hat die Erkennung neuer Subtypen bzw. Entitäten, deren klinisches Erscheinungsbild und therapeutische Beeinflussbarkeit differieren, wesentlich erleichtert. Auch konnte anhand der Charakterisierung genetischer Veränderungen in Leukämie-/Lymphomzellen das Verständnis der für die Leukämo- bzw. Lymphomgenese pathogenetisch relevanten Mechanismen verbessert werden /2345/.

Die Immunphänotypisierung im Knochenmark (KM) und/oder peripheren Blut ist ein unverzichtbarer Bestandteil in der initialen Diagnostik und im Verlauf der AL und der leukämisch verlaufenden NHL. Sie basiert auf dem Nachweis verschiedener Antigene mittels monoklonaler Antikörper, die von Vorläufer- und/oder reifen Zellen der Myelo- bzw. Lymphopoese, häufig abhängig von deren Reifegrad, exprimiert werden /14678/. Die Bindung der monoklonalen Antikörper an membranständige bzw. intrazelluläre Antigene kann mit Hilfe verschiedener Methoden analysiert werden. Dabei gelten die Markierung von Zellsuspensionen mit Techniken der Immunfluoreszenz und deren Auswertung mittels multiparametrischer Durchflusszytometrie sowie immunenzymatische Färbungen als Routinemethoden /8910111240/.

Die Vorteile der durchflusszytometrischen Immunphänotypisierung sind:

  • Schnelle Analyse des Probenansatzes trotz hoher Zellzahlen (über 106 Zellen in einem Ansatz).
  • Hohe Nachweisempfindlichkeit.
  • Simultane Auswertung verschiedener Parameter wie 2–10 Fluoreszenzen und Streulichteigenschaften der Zellen.
  • Exakte Quantifizierung der Ergebnisse.
  • Statistische Datenauswertung.

Zu Empfehlungen, Indikationen, Standardisierung und Qualitätssicherung der Immunphänotypisierung bei AL und NHL mittels multiparametrischer Durchflusszytometrie bzw. immunenzymatischer Verfahren siehe Beitrag 52.2 – Durchflusszytometrie in der klinischen Labordiagnostik und Lit. /479101140/.

15.18.1 Immunologische Klassifikation der akuten Leukämien

Wesentliche Ziele der Immunphänotypisierung der akuten Leukämien (AL) sind:

  • Morphologisch und zytochemisch undifferenzierte Leukämien der B-, T-lymphatischen, NK- bzw. myeloischen Zellreihe zuzuordnen sowie den Reifegrad der Leukämiezellen festzulegen.
  • Biologisch und/oder prognostisch relevante Subtypen zu erkennen und in standardisierter, studiengerechter Weise zu diagnostizieren.
  • Expression von Proteinen nachzuweisen, die bei der Regulation zellbiologisch wichtiger Funktionen, z.B. Adhäsion, Proliferation, Differenzierung, Apoptose, beteiligt sind.
  • Detektion von Zielstrukturen für eine zielgerichtete Therapie (Targeted therapy z.B. mittels monoklonalen Antikörpern gegen CD20, CD33 oder CD52).
  • Die Behandlung nicht eliminierter residualer Leukämiezellen (Minimal residual disease, MRD) durch deren Identifikation zu ermöglichen.

Abb. 15.18-1 – Flussdiagramm zur Immunphänotypisierung bei akuten Leukämien zeigt das stufenweise Vorgehen in der immunologischen Zuordnung der AL /420/.

Ausgehend von der morphologischen Diagnose akute Leukämie (AL), die immer auf der lichtmikroskopischen Auswertung panoptisch gefärbter Ausstrichpräparate beruht, erfolgt eine eindeutige Diagnose und Definition des Subtyps durch Linienzuordnung der Leukämieblasten und Festlegung des immunologischen Subtyps und Reifegrads der AL.

Linienzuordnung der Leukämieblasten

Die Linienzuordnung der Leukämieblasten geschieht anhand des Nachweises von membranständigen (m) bzw. intrazytoplasmatischen (cy) Antigenen, die von unreifen lymphatischen oder myeloischen Vorläuferzellen exprimiert werden. Besonders bedeutsam für die Diagnostik der AL sind im Zytoplasma lokalisierte Antigene, die linienspezifisch bereits in sehr unreifen Zellen exprimiert werden /1314/, z.B.:

  • CD13, CD33, Myeloperoxidase (MPO) und Lysozym in myeloischen Zellen.
  • CD19, cyCD22 und cyCD79a in B-lymphatischen Vorläuferzellen.
  • cyCD3 in T-lymphatischen Vorläuferzellen.

Diese Antigene, deren Nachweis immunenzymatisch oder nach Fixierung und Permeabilisierung von Leukämiezell-Suspensionen auch mittels Durchflusszytometrie erfolgen kann /14/, werden teilweise von reiferen Leukämie- bzw. Lymphomzellen auch membranständig exprimiert (CD3, CD22, CD79a).

Festlegung des immunologischen Subtyps und Reifegrades

Die Festlegung des immunologischen Subtyps und Reifegrads der AL mittels monoklonaler Antikörper gegen Antigene, deren Expression auf unreife lympho- hämatopoetische Vorläuferzellen beschränkt oder mit unterschiedlichen Differenzierungsstufen der Lympho- oder Myelopoese assoziiert ist.

Anhand des Expressionsmusters werden die für die Immunphänotypisierung der AL wichtigen Antigene unterteilt in:

  • Linienspezifische Merkmale, z.B. MPO für die myeloische Zellreihe; cy/m Immunglobuline, CD22, CD79a für die B- sowie T-Zell-Rezeptor α/β bzw. γ/δ; CD3 für die T-Zellreihe.
  • Panmyeloische Antigene, z.B. CD13, CD33, CD65.
  • Pan-B-, z.B. CD19, CD22, CD79a.
  • Pan-T-Antigene, z.B. CD3, CD2, CD5, CD7.
  • Linienassoziierte Antigene, z.B. CD14 für monozytäre, CD15 für granulozytäre, CD235a (Glykophorin A) für erythrozytäre und CD41 oder CD61 für megakaryozytäre Zellen.
  • Progenitorzell assoziierte Antigene, wie CD10, CD34, CD117, HLA-DR, terminale Desoxyribonukleotidyltransferase (TdT).

Die Analyse der aufgelisteten Antigene ermöglicht in fast allen Fällen der AL eine eindeutige Linienzuordnung und Definition des Subtyps /20/. Siehe Abb. 15.18-1 – Flussdiagramm zur Immunphänotypisierung bei akuten Leukämien.

Das vom Kompetenznetz Akute und chronische Leukämien empfohlene Basispanel für die initiale Diagnostik bei AL ist gezeigt in Tabelle 15.18-1 – Vom Kompetenznetz Akute und chronische Leukämien empfohlenes Basispanel für die initiale Diagnostik bei akuten Leukämien Morphologisch bzw. zytochemisch AUL, bei denen mittels der Immunphänotypisierung nicht mehr als ein Antigen der myeloischen bzw. B- oder T-lymphatischen Zellreihe nachweisbar ist, werden nur noch sehr selten (unter 1 % aller AL) diagnostiziert /11617/. AUL, früher morphologisch auch als akute Stammzell-Leukämie bezeichnet, exprimieren ausschließlich Progenitorzell-assoziierte Antigene (CD34, CD38, CD117, HLA-DR, TdT).

Die für das therapeutische Vorgehen wichtige, endgültige Zuordnung der AUL erfordert zusätzliche Analysen wie z.B. den ultrastrukturellen Nachweis von MPO bzw. Plättchenperoxidase /1819/ oder von zyto- oder molekulargenetischen Anomalien /14/, die für AML bzw. ALL charakteristisch sind. Diese aufwendigen Analysen werden jedoch im Rahmen der initialen Leukämiediagnostik nicht regelmäßig durchgeführt.

15.18.1.1 Immunphänotypisierung der ALL

Die Identifizierung und Zuordnung der ALL zur B- oder T-Zellreihe ist anhand der in lymphatischen Vorläuferzellen zunächst intrazytoplasmatisch exprimierten Antigene cyCD3, cyCD22, cyCD79a /142021/ sowie der membranständigen Antigene CD7 und CD19 leicht möglich. Diese Antigene können in unreifen B- oder T-Vorläuferzellen und in über 99 % der korrespondierenden immunologischen Subtypen der ALL nachgewiesen werden.

Für die Erkennung unreifer Subtypen der T-ALL ist die gleichzeitige Analyse von CD7 und cyCD3 wichtig, da etwa 10–20 % der unreifen AML CD7 exprimieren /4/, cyCD3 jedoch als spezifisches Merkmal der T-Zellreihe gilt /13/.

Die genaue Charakterisierung des immunologischen Subtyps bzw. Festlegung des Reifegrads der ALL erfolgt anhand der Analyse zusätzlicher genannter B- und T-Zell-assoziierter Antigene und erlaubt die Unterscheidung, in folgender Untergruppen /4, 21/:

  • B-Vorläuferzell-ALL.
  • B-ALL/Burkitt Lymphom.
  • T-Vorläuferzell-ALL.

Siehe auch Abb. 15.18-1 – Flussdiagramm zur Immunphänotypisierung bei akuten Leukämien.

Tab. 15.18-2 – Terminologie, Häufigkeit und Phänotyp der immunologischen Subtypen der ALL verdeutlicht basierend auf den Vorschlägen der „European Group for the Immunological Characterization of Leukemias“ (EGIL) /20/ die Terminologie und Antigenexpression innerhalb der verschiedenen ALL-Subtypen sowie deren Häufigkeit bei Erwachsenen und Kindern /421/.

Bei 5–40 % der Patienten mit ALL zeigen die Blasten eine Koexpression myeloischer Antigene (My+ ALL), die insbesondere mit unreifen Subtypen (pro-B-ALL, pro- bzw. prä-T-ALL) assoziiert ist /26/.

Wichtig für die Definition von Risikogruppen und Zuordnung zu den verschiedenen Therapieformen der deutschen multizentrischen ALL-Therapiestudien bei Kindern (ALL-BFM) bzw. Erwachsenen (GMALL) ist die Abgrenzung folgender Subtypen:

  • Pro-B-ALL (Hochrisiko-Therapie in der GMALL-Studie).
  • B-ALL (eigenes Protokoll in den GMALL- bzw. ALL-BFM-Studien).
  • T-Vorläuferzell-ALL (Subtypen, siehe Tab. 15.18-2, werden unterschiedlich behandelt).

15.18.1.2 Immunphänotypisierung der AML

Die Immunphänotypisierung hat bei der AML nicht den Stellenwert wie bei der ALL erlangt.

Für die Klassifikationen ist die Immunphänotypisierung erforderlich hauptsächlich für die Erkennung der:

  • AML mit minimaler myeloischer Differenzierung, M0-Subtyp: MPO zytochemisch negativ, Expression panmyeloischer Antigene und/oder Nachweis von MPO mittels mAk bei Negativität von linienspezifischen B- oder T-Zell-Merkmalen /19/.
  • Akuten Megakaryoblastenleukämie, M7-Subtyp: Membranständige, selten nur intrazytoplasmatische Expression von CD41 und/oder CD61 /18/.

Bei etwa 75–90 % aller Patienten mit AML exprimieren Leukämiezellen die Antigene CD13, CD33 und CD65, wobei alle drei panmyeloischen Marker nur in etwa 55 %, zumindest eines dieser Antigene jedoch in über 98 % der Fälle nachweisbar ist /22/. MPO kann mittels monoklonaler Antikörper in knapp 90 % der AML nachgewiesen werden. Zusätzlich hat sich CD117, der Rezeptor für den Stammzellfaktor (c-kit Protoonkogen), der von 1–4 % normaler KM-Zellen, etwa 60–70 % der AML, jedoch nur selten von unreifen ALL exprimiert wird, als wertvoller Marker für die immunologische Charakterisierung der AML erwiesen /23/.

Durch die gleichzeitige Analyse dieser Antigene und Verwendung monoklonaler Antikörper gegen erythroide, z.B. Glykophorin A, Plättchen-assoziierte Antigene, z.B. CD41, CD61, sowie MPO können nahezu 100 % der AML anhand immunologischer Zellmarker identifiziert und eindeutig von der ALL abgegrenzt werden. Für die Unterscheidung zwischen AML und ALL ist der Nachweis von TdT von geringer Bedeutung, da 10–40 % der AML, abhängig von der verwendeten Methode (Immunfluoreszenz bzw. Immunzytochemie), das früher als lymphatischen Marker geltende Enzym TdT intranukleär exprimieren.

Eine Unterscheidung unreifer myeloischer von granulozytär differenzierten Leukämien ist mit Hilfe des kombinierten intra zytoplasmatischen Nachweises von MPO und Lactoferrin (LF) möglich, wobei undifferenzierte myeloische Zellen MPO-positiv und LF-negativ sind, während granulozytär differenzierte Leukämiezellen MPO und LF exprimieren /14/.

Auf Grund des Fehlens von monoklonalen Antikörpern, die spezifisch mit Monoblasten reagieren, kann eine immunologische Unterscheidung unreifer monoblastärer Leukämien (FAB-M5a) von anderen Subtypen unreifer AML, z.B. FAB-M0/M1, in der Regel nicht erfolgen.

Auch bei der AML kommt es wie bei der ALL zur aberranten Expression lymphatischer Marker auf Blasten. Bei 10–25 % der Patienten lässt sich eine Koexpression von T-lymphatischen Antigenen, insbesondere CD4, CD7 und/oder CD2 nachweisen, während B-lymphatische Antigene einschließlich CD10 nur selten (unter 10 %) exprimiert werden /25/.

Eine Korrelation des Immunphänotyps mit morphologisch bzw. zytochemisch definierten FAB-Subtypen sowie den zytogenetisch und molekularbiologisch definierten WHO-Subgruppen der AML ist wegen der Heterogenität der Antigenexpression bei AML mit Ausnahme des FAB-M0 bzw. FAB-M7-Subtyps nicht sicher möglich und kann auf den AML Subtyp nur einen ersten Hinweis geben, bis Ergebnisse von Zytogenetik und Molekularbiologie vorliegen (Tab. 15.18-3 – Korrelation von FAB-Klassifikation, Zytogenetik und Immunphänotyp) /2224/.

15.18.1.3 AL mit gemischtem Immunphänotyp (Mixed phenotype acute leukemia, MPAL)

Subtypen der AL, bei denen die pathologische Population der Blasten gleichzeitig myeloische und lymphatische Antigene exprimiert (aberrante Antigenexpression), werden zunehmend häufiger diagnostiziert (bis 5 % aller AL) und wurden zunächst als biphänotypische akute Leukämien (BAL) klassifiziert /2036/.

Eine international akzeptierte Nomenklatur für diese heterogene Untergruppe der AL existiert seit der WHO-Klassifikation von 2008 /1/. Der in Tab. 15.18-4 – Score für die Definition der „Mixed phenotype acute leukemia“ dargestellte Score für die immunologische Klassifikation der MPAL basiert auf dieser Klassifikation und löste die Empfehlungen der EGIL /20/ ab. Für die Prognose und Therapie der MPAL ist jedoch nicht der Immunphänotyp sondern vor allem die zugrundeliegende zytogenetische oder molekularbiologische Aberration entscheidend /3637/.

15.18.1.4 Nachweis residualer Leukämiezellen bei AL mittels Immunphänotypisierung

Der Nachweis residualer Leukämiezellen im Verlauf und nach Abschluss der initialen Chemotherapie bei AL hat Bedeutung für die weitere Therapieplanung und prognostische Einschätzung der Erkrankung erlangt. Die Beurteilung der Remission bei AL beruhte bisher auf der morphologischen Beurteilung von Knochenmark. Auf Grund der geringen Sensitivität der Morphologie (Nachweisgrenze: 10–2, d.h. eine Leukämiezelle auf 100 normale Zellen) werden zur Suche nach minimaler Resterkrankung (Minimal residual disease, MRD) sensitivere Methoden wie die Immunphänotypisierung (Sensitivität 10–3–10–5) und molekulargenetische Analysen (Sensitivität der Polymeraseketten-Reaktion 10–4–10–5) eingesetzt /7272838/.

Der immunphänotypische Nachweis residualer Zellen einer Leukämie beruht auf der Expression Leukämie-assoziierter Immunphänotypen (LAIP), die mittels multiparametrischer Durchflusszytometrie im überwiegenden Prozentsatz der AL dargestellt werden können. Als wichtige Parameter für die Unterscheidung zwischen leukämischen und normalen Vorläuferzellen gelten:

  • Aberrante oder asynchrone Antigenexpression.
  • Fehlende Expression von Differenzierungsantigenen.
  • Veränderte Antigendichte auf Leukämiezellen.

Als Vorteile des immunphänotypischen Nachweises von Minimal residual disease mittels multiparametrischer Durchflusszytometrie gelten neben der Geschwindigkeit der Untersuchung die Möglichkeit, die Zahl der residualen Leukämiezellen zu quantifizieren und deren Vitalität zu bestimmen.

Wichtige Voraussetzung für die immunphänotypische Identifizierung residualer Leukämiezellen ist eine genaue Charakterisierung der leukämischen Blasten zum Zeitpunkt der Diagnose. Das erfolgt anhand von multiparametrischer Durchflusszytometrie, mit der neben den Streulichteigenschaften auch die Expression von 3–10 Antigenen pro Zelle gleichzeitig beurteilt werden können. Ein- oder Zweifarbenanalysen von leukämischen Zellen sind nicht ausreichend für die Charakterisierung Leukämie-spezifischer Merkmale und sollten daher nicht mehr zum Nachweis von Minimal residual disease herangezogen werden.

Beispiele für geeignete Antigenkombinationen zum Nachweis von Minimal residual disease bei Patienten mit AL und Angaben zur Häufigkeit des Auftretens verschiedener aberranter bzw. asynchroner Phänotypen in den Leukämiesubtypen sind aufgezeigt in Tab. 15.18-5 – Antigenkombinationen für den Nachweis von Minimal Residual Disease bei Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie. Anhand des Nachweises dieser Kombinationenvon Antigenen ist es möglich, residuale Leukämiezellen innerhalb von 10.000 normalen hämatopoetischen Vorläuferzellen zu erkennen (Sensitivität 10–4).

Für die ALL konnte in mehreren, z.T. multizentrischen, prospektiven Studien die klinische Bedeutung des immunphänotypischen bzw. molekularbiologischen Nachweises residualer Leukämiezellen zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Behandlung gezeigt werden /2738/. Auch bei der AML liegen inzwischen genügend klinische Daten vor, die den routinemäßigen Einsatz des Nachweises von MRD mittels Immunphänotypisierung rechtfertigen /28/. Jedoch konkurriert hier bei der Detektion der Minimal residual disease die Durchflusszytometrie stark mit der bereits länger etablierten Molekularbiologie (quantitative PCR, etc.).

15.18.1.5 Immunphänotypisierung der NHL

Auch für die Diagnostik der leukämisch verlaufenden NHL spielt die Immunphänotypisierung eine entscheidende Rolle. Neben der Unterscheidung der reifen lymphatischen Neoplasien von AL hat sie folgende Ziele:

  • Zuordnung der malignen Zellen zur B-, T- bzw. NK-Zellreihe.
  • Nachweis oder Ausschluss der Klonalität maligner B-Zellen anhand einer Kappa- oder Lambda-Leichtkettenrestriktion.
  • Abgrenzung reifer lymphatischer Neoplasien, insbesondere reifer T-Zell Neoplasien, von reaktiv bedingten Zuständen, z.B. EBV-, Cytomegalievirus-Infektion oder Toxoplasmose.
  • Überwachung des Therapieansprechens (Chemotherapie, monoklonale Antikörper) durch frühzeitige Identifizierung residualer Leukämie- bzw. Lymphomzellen.

Die Zuordnung der reifen B-, T- und NK-Zell-Neoplasien zur entsprechenden Zellreihe bzw. einem bestimmten Reifestadium basiert auf einem Panel verschiedener monoklonaler Antikörper, dessen Zusammensetzung wesentlich von der Fragestellung, z.B. initiale Diagnostik oder Nachweis von Minimal residual disease, beeinflusst wird /7/. Die in Tab. 15.18-6 – Immunologisches Marker-Profil normaler B-Zellen und chronischer lymphoproliferativer Erkrankungen vom B-Zelltyp und Tab. 15.18-7 – Immunologisches Marker-Profil normaler T-Zellen und lymphoproliferativer Erkrankungen vom T-Zelltyp dargestellten immunphänotypischen Expressionsprofile normaler B- und T-Zellen bzw. reifer B-, T- und NK-Zell-Neoplasien treffen nicht in jedem Fall zu. Es gibt gelegentlich Überschneidungen im Immunphänotyp bei verschiedenen Subtypen, die eine endgültige Zuordnung nur in Zusammenhang mit weiteren Befunden der Klinik, Morphologie bzw. Histologie, Genotyp erlaubt /1711293031/.

Für die Abgrenzung der chronischen lymphatischen Leukämie der B-Zellreihe (B-CLL) von anderen reifen B-Zell-Neoplasien wurden Scores vorgeschlagen, die anhand eines charakteristischen Expressionsprofils membranständiger Antigene die Genauigkeit in der Unterscheidung zwischen B-CLL und anderen reifen B-Zell-Neoplasien wesentlich verbessern konnten. Durch die Analyse von fünf Antigenen, die auf Leukämiezellen bei B-CLL nicht (CD 79b, FMC7), schwach (membranständige Immunglobuline) oder deutlich (CD5, CD23) exprimiert werden, können in 90–95 % der Fälle typische B-CLL von anderen reifen B-Zell-Neoplasien abgegrenzt werden /31/. Ein weiterer nützlicher Marker ist hier CD200, der von Zellen der B-CLL meist exprimiert wird, während Mantelzell-Lymphome, die als CD5 positive NHL in der Abgrenzung zur B-CLL problematisch sein können, CD200 negativ sind /39/.

Untersuchungen zu Mutationen in den variablen Anteilen der Immunglobulin-Schwerkettengene (IgVH) haben zur Erkennung von zwei unterschiedlichen zellbiologischen Subtypen der B-CLL geführt, die sich hinsichtlich klinischem Verlauf, Immunphänotyp sowie zyto- bzw. molekulargenetischen Befunden eindeutig unterscheiden /32/. Membranständige (CD38) bzw. intrazytoplasmatische Antigene (ZAP-70) werden von diesen beiden Subtypen unterschiedlich exprimiert und deshalb zunehmend als diagnostische bzw. prognostische Parameter verwendet. Positivität von CD38 oder ZAP-70 in B-CLL-Zellen korrelieren meistens mit dem Fehlen von Mutationen der Gene IgVH und einem ungünstigen klinischen Verlauf /3334/.

Auch bei reifen B-Zell-Neoplasien ermöglicht die Immunphänotypisierung mittels multiparametrischer Durchflusszytometrie einen sehr empfindlichen Nachweis (Sensitivität 10–4) residualer Leukämiezellen /35/.

Trotz zunehmend genauer Kenntnisse des Immunphänotyps reifer B-, T- und NK-Zell-Neoplasien sowie methodischer Weiterentwicklungen, wie z.B. der multiparametrischen Durchflusszytometrie, ist häufig anhand der Immunphänotypisierung im KM oder peripheren Blut bei leukämisch verlaufenden reifen lymphatischen Neoplasien eine eindeutige Zuordnung zu den in der WHO-Klassifikation definierten Entitäten nicht möglich /1/. Weiterführende diagnostische Maßnahmen, z.B. KM- bzw. Lymphknotenhistologie, zyto- bzw. molekulargenetische Analysen, sind deshalb für die endgültige Klassifikation und prognostische Einschätzung der Erkrankung meistens erforderlich.

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Tabelle 15.1-1 Lebenszeit im Blut und täglicher Umsatz von Blutzellen /1/

Blutzelle

Lebenszeit

Umsatz/24 h

Erythrozyt

120 d

2,0 × 1011

Retikulozyt

24 h

2,0 × 1011

PMN1)

21 h

1,0 × 1011

Eosinophiler

6–18 h

Basophiler

8 h

Monozyt

14 h

8,4 × 109

Thrombozyt

10 d

1,0 × 1011

d, Tage; h, Stunden; 1) Lebenszeit im Gewebe 4–5 Tage, PMN, polymorphkerniger neutrophiler Granulozyt

Tabelle 15.1-2 Hämatologische Untersuchungen zur Beurteilung der Hämatopoese /2728/

Untersuchung

Bewertung

Hämoglobin-Konzentration (Hb-Wert)

Die Messung der Konzentration von Hämoglobin ist die zuverlässigste (Präzision, Richtigkeit) und am besten standardisierte Untersuchung in der Hämatologie. Der Hb Wert ist ein effektiver Parameter zur Beurteilung der Erythrozytenmasse des Organismus und somit auch der Transportkapazität des Blutes für Sauerstoff, obwohl er nur eine indirekte Größe der roten Blutzellmasse ist.

Erythrozytenzahl

Die Erythrozytenzahl, im englischen Sprachgebrauch auch als Red blood cell count (RBC), bezeichnet, ist ein Indikator der roten Blutzellmasse des Organismus. Sie ist aber kein guter diagnostischer Parameter zur Erkennung einer Verminderung der Zellmasse bei Anämie oder Erhöhung durch eine Polyzythämie, da Änderungen des Erythrozytenvolumens unberücksichtigt bleiben.

MCV

Das mittlere korpuskuläre Volumen (Mean corpuscular volume; MCV) ist ein Indikator der Zellgröße peripherer roter Blutzellen. Die Analysensysteme messen diese Größe direkt. Da aber nur das MCV aller roten Blutzellen, auch der Retikulozyten und evtl. vorhandener Normoblasten, gemessen wird, ist der MCV ein elastischer Parameter und ein normaler, erniedrigter oder erhöhter MCV kann nicht automatisch mit Normozytose, Mikrozytose oder Makrozytose ohne Kenntnis der Erythrozytenverteilungsbreite gleichgesetzt werden.

MCH

Der mittlere korpuskuläre Hb-Gehalt der roten Blutzellen (Mean corpuscular hemoglobin, MCH) ist eine Rechengröße, die den mittleren Hb Gehalt aller roten Blutzellen in pg angibt. Der MCH ist über die Lebensspanne des Erythrozyten eine fixierte Größe und bestimmt sein Volumen.

%HYPO

Gemessen wird die Hb Konzentration der individuellen roten Blutzelle und der Anteil der Zellen mit einer Konzentration unter 280 g/l in % der Gesamtzahl aller roten Blutzellen angegeben. Der %HYPO ist ein direkter Maßstab der Eisenversorgung der Erythropoese. Diese Messgröße ist nur mit einigen Hämatologie-Analyzern bestimmbar.

MCHC

Die Mean Cellular Hemoglobin Concentration (MCHC) ist eine Rechengröße und gibt die Hb Konzentration der zirkulierenden roten Blutzellen in g/l an. Änderungen des MCHC weisen auf eine Störung der Relation von Hb Gehalt und Volumen des Erythrozyten hin. Auf Grund des MCHC Werts wird eine Anämie in normochrom und hypochrom differenziert.

Hämatokrit (Hkt)

Der Hkt, auch als Packed RBC Volume (PCV) bezeichnet, ist das Produkt aus Erythrozytenzahl × MCV. Es handelt sich um einen in der Anämiediagnostik redundanten Parameter.

RDW

Die RBC Distribution Width (RDW) wird als Standardabweichung oder Variationskoeffizient des MCV aus dessen Verteilungshistogramm berechnet. Bei Mikrozytose ist eine erhöhte RDW auf einen Eisenmangel und eine normale RDW auf eine heterozygote β-Thalassämie hinweisend.

Retikulozytenzahl

Die Retikulozytenzahl oder von ihr abgeleitete Größen sind Indikatoren der Effektivität der Erythropoese. Die Differenzierung erfolgt in normo-, hypo- und hyperregenerative Erythropoese.

Retikulozyten-RNA

Der RNA Gehalt der Retikulozyten ist ein Indikator des Ausmaßes der Stimulation der Erythropoese. Ein großer Anteil Retikulozyten mit hohem RNA Gehalt spricht für eine intensive Stimulation, z.B. nach Gabe von Erythropoese stimulierenden Agentien (ESA).

Retikulozyten-Hb

Der mittlere Hb Gehalt der Retikulozyten (Content hemoglobin reticulocytes, CHr) ist ein früher und dynamischer Indikator des Eisenbedarfs der Erythropoese. In Kombination mit der Bestimmung von %HYPO und dem MCH steht ein diagnostisches Muster zur Verfügung, das Aussagen macht seit wann ein Eisenbedarf der Erythropoese besteht: CHr-Abnahme bedeutet Eisenbedarf seit ≤ 3 Tagen, %HYPO Zunahme bedeutet Eisenbedarf seit ≥ 2 Wochen, MCH Abnahme bedeutet Eisenbedarf ≥ 3 Monaten. Der CHr ist ein guter Marker zur Diagnostik einer Eisen defizienten Erythropoese. Diese tritt auf, wenn der Eisenbedarf der Erythropoese stärker als ihre Versorgung ist, unabhängig vom Speichereisengehalt.

Differenzierte Leukozytenzählung

Die Leukozytenzählung mit Differenzierung in kombinierter Bestimmung mit dem Blutbild durch einen Hämatologie-Analyzer hat sich auf Grund akzeptabler Präzision und kurzer Analysenzeit durchgesetzt. Es bestehen jedoch Limitierungen und die automatische Differenzierung sollte bei symptomatischen Patienten und wenn einer oder mehrere Parameter der Blutzellzählung vom Hämatologie-Analyzer geflaggt werden, durch die Blutausstrich-Untersuchung ergänzt werden.

Blutausstrich

Die -Untersuchung des Blutausstrichs durch die Mikroskopie hat zwei wesentliche Indikationen:

  • Verifizierung der Blutzellzählung des Hämatologie-Analyzers, wenn diese unplausibel erscheint.
  • Gewinnung weiterer diagnostischer Information aus der Blutzellmorphologie, insbesondere der Nachweis von Blutzellen, die in der Regel nur im Knochenmark nachzuweisen sind.

Thrombozytenzahl

Indikator der Thrombozytenmasse des Organismus.

MPV

Das Mean platelet volume (MPV) ist ein Indikator der Stimulation der Thrombopoese. Bei erniedrigter Thrombozytenzahl weist ein erhöhtes MPV auf einen peripheren Thrombozytenverbrauch, z.B. durch disseminierte intravasale Gerinnung hin, ein erniedrigtes MPV eher auf eine intrinsische Störung der Megakaryopoese.

Tabelle 15.1-3 Differentialdiagnostisk der Panzytopenie 30/

Klinische und Laborbefunde

Aplastische Anämie

Die aplastische Anämie ist durch ein hypozelluläres Knochenmark bei Abwesenheit von myeloiden Formen charakterisiert. Der Ausdruck bezieht sich auf ein leeres Knochenmark. Es gibt kongenitale und erworbene Formen der aplastischen Anämie. Die erworbenen Formen resultieren aus Störungen der Hämatopoese durch toxische Substanzen, Infektionen und Autoimmunerkrankungen.

Myelodysplastisches Syndrom (MDS)

Das MDS ist eine primäre myeloide Neoplasie mit dem Risiko des Übergangs in eine akute Leukämie. Die klonale Proliferation hämatopoetischer Stammzellen verursacht eine Dysplasie des Knochenmarks und eine Zytopenie des peripheren Blutes.

Für weitere Information siehe Beitrag 15.15 – Myelodysplastisches Syndrom.

Systemische Erkrankungen

Die erhöhte Konzentration von Tumornekrosefaktor-alpha und Interleukin-6 bei Inflammation und Infektion kann zu einer Suppression der Knochenmarksaktivität führen. Aus der verminderten Produktion und Ausschwemmung reifer Blutzellen in das periphere Blut kommt es zu einer Panzytopenie.

Toxine, Medikamente

Toxine und Medikamente mit myelosuppressiven Eigenschaften können zur Schädigung des Knochenmarks und einer niedrigen Zahl aller drei Zelllinien im peripheren Blut führen. Beispiele sind Suchtmittel wie Levamisol in Kokain,aber auch der exzessive Konsum von Alkohol.

Ernährungsstörungen

Vitamin B12 und Folsäure sind notwendig zur Synthese von DNA. Bei einem Mangel kommt es zu einem Stopp in der Synthesephase (S-Phase) im Zyklus der Zellbildung. Die Patienten mit ausgeprägtem Mangel stellen sich beim Arzt mit einer Panzytopenie und Erhöhung der Lactatdehydrogenase im Serum vor.

Sequestration und Zerstörung von Blutzellen in der Peripherie

Die periphere Zerstörung oder Sequestration (z.B. Zurückhaltung von Thrombozyten in einer vergrößerten Milz) kann zu einer Panzytopenie führen. In den meisten Fällen ist die Hämolyse dominant, die Immunthrombocytopenie und die autoimmune Thrombozytopenie können eine niedrige Thrombozytenzahl und eine Erniedrigung der Neutrophilenzahl bewirken.

Myelophthise

Unter Myelophthise wird die Infiltration des Knochenmarks mit nicht-hämatopoetischen Zellen verstanden. Es resultiert eine Zerstörung der regulären Hämatopoese oder die Ausbildung einer Fibrose des Knochenmarks. Ursachen sind Metastasen solider Tumoren im Knochenmark, Granulomatosen und Lipidspeicherkrankheiten.

Akute Myeloische Leukämie

Patienten mit akuter myeloischer Leukämie stellen sich mit einem pathologischen Blutbild vor: Normochrome Anämie, Thrombozytenzahl stark vermindert, Leukozytenzahl unter 4.000/μl in 20–30 % der Fälle.

Für weitere Information siehe Beitrag 15.14 – Akute Leukämien.

Tabelle 15.2-1 Referenzbereiche der Erythrozytenzahl

Erwachsene /2/

4,1–5,4

4,4–5,9

Kinder /34/

Feten /5/*

  • 1. Tg.*

4,3–6,3

  • 15. SSW

1,9–3,0

  • 0,5 Mon.*

3,9–5,9

  • 16. SSW

2,2–3,2

  • 1 Mon.*

3,3–5,3

  • 17. SSW

2,3–3,2

  • 2 Mon.*

3,1–4,3

  • 18.–21. SSW

2,6–3,6

  • 4 Mon.*

3,5–5,1

  • 22.–25. SSW

2,4–3,8

  • 6 Mon.*

3,9–5,5

  • 26.–29. SSW

2,7–4,3

  • 9–12 Mon.*

4,0–5,3

  • < 30. SSW

2,5–5,1

  • 1,5–3,0 J.

3,7–5,3

  • 4–9 J.

3,9–5,1

  • 10–12 J.

4,1–5,2

  • 13–16 J.

4,0–5,0

4,3–5,6

Angaben in 106/μl oder 1012/l, * zentrales 95 %-Intervall

Tabelle 15.2-2 Referenzbereiche der Erythrozytenindices

Erwachsene* /2/

MCV (fl)

MCH (pg/Zelle)

MCHC (g/l)

RDW

80–96

28–33

330–360

(%)***

%HYPO /13/*

1–5 %

< 15

Kinder /514/**

Alter

MCV (fl)

MCH (pg/Zelle)

MCHC (g/l)

  • Nabelschnur

101–125

33–41

310–350

  • 1. Tg.

98–122

33–41

310–350

  • 2.–6. Tg.

94–135

29–41

240–360

  • 14.–23. Tg.

84–128

26–38

260–340

  • 24.–37. Tg.

82–126

26–38

250–340

  • 40.–50. Tg.

81–125

25–37

260–340

  • 2,0–2,5 Mon.

81–121

24–36

260–340

  • 3,0–3,5 Mon.

77–113

23–36

260–340

  • 5–7 Mon.

73–109

21–33

260–340

  • 8–10 Mon.

74–106

21–33

280–320

  • 11–13,5 Mon.

74–102

23–31

280–320

  • 1,5–3,0 J.

73–101

23–31

260–340

  • 4–12 J.

77–89

25–31

320–360

  • 13–16 J.

79–92

26–32

320–360

Feten /3/

MCV (fl)**

  • SSW 15

127–159

  • SSW 16

119–167

  • SSW 17

121–153

  • SSW 18–21

119–143

  • SSW 22–25

109–141

  • SSW 26–29

103–134

  • SSW ≥ 30

97–132

* Das zentrale 95 %-Konfidenzintervall bei nicht­para­metrischer Verteilung ist angegeben. ** Angabe von x ± 2s. *** Werte sind Geräte-abhängig.

Umrechnung: 1 × 10–15 l = 1 fl; pg × 0,062 = fmol; g/l × 0,062 = mmol/l.

Tabelle 15.2-3 Klassifizierung der Anämien auf Grund von MCV und RDW /18/

Mikrozytär isozytär

Mikrozytär anisozytär

Normozytär isozytär

Normozytär anisozytär

Makrozytär isozytär

Makrozytär anisozytär

MCV

RDW

MCV

RDW

MCV

RDW

MCV

RDW

MCV

RDW

MCV

RDW

Erniedr.

Normal

Erniedr.

Erhöht

Normal

Normal

Normal

Erhöht

Erhöht

Normal

Erhöht

Erhöht

β-Thalassaemia minor

Eisen­mangel­anämie

Anämie chronischer Erkrankungen

Osteomyelofibrose

Aplastische Anämie

Perniziosa

Tabelle 15.2-4 Klassifizierung der Anämien auf Grund von MCV, MCH und MCHC /15/

Erythrozyten-Indizes

Beurteilung

MCV normal

MCH normal

MCHC normal

Normochrome normozytäre Anämie:

  • Hyporegenerative Anämien, z.B. chronische Erkrankungen der Nieren, chronisch entzündliche Erkrankungen, systemische Infektion, maligner Tumoren (Anemia of chronic disease).

MCV normal

MCH erhöht

MCHC erhöht

Scheinbare hyperchrome Anämie durch präanalytische oder analytische Störung:

  • Intravaskuläre Hämolyse, in vitro-Hämolyse.
  • Hyperlipidämie, verursacht falsch hohes Hb.
  • Heinz-Körper bei toxisch hämolytischer Anämie, instabilem Hb oder Enzymopathie.
  • Laborfehler, durch falsch-iedrigen Hämatokrit oder falsch hohe Hämoglobinmessung.

MCV normal

MCH erniedrigt

MCHC normal

Beginnende Eisenmangelanämie. Die RDW ist gewöhnlich schon über 15 % und ebenfalls der Anteil hypochromer Erythrozyten (über 5 %) und der Hb-Gehalt der Retikulozyten (Ret-He, CHr) ist unter 28 pg. Siehe Beitrag 15.6 – Retikulozytenzahl und -indices.

MCV erniedrigt

MCH erniedrigt

MCHC erniedrigt

Häufigste Anämieform. In 80–90 % der Fälle liegt in Nord- und Mitteleuropa die klassische Eisenmangelanämie vor oder die Anämie chronischer Erkrankungen mit Eisen restriktiver Erythropoese, in etwa 5 % der Fälle eine β-Thalassämie. Selten ist die hereditäre sideroblastische Anämie.

MCV erniedrigt

MCH normal

MCHC erhöht

Hereditäre Sphärozytose. Es handelt sich um eine hämolytische Erkrankung mit Erhöhung der Erythrozytenzahl, der Hb-Konzentration und des Hämatokrits. Die hereditäre Sphärozytose ist keine hyperchrome Anämie.

MCV erhöht

MCH erniedrigt

MCHC erniedrigt

Regenerative Anämie, z.B. Eisen-, Kupfer- oder Vitamin B6-Mangelanämie in den ersten Tagen unter adäquater Therapie. Tumorpatienten unter zytostatischer Therapie.

MCV erhöht

MCH normal

MCHC normal/erniedr.

  • Folat- oder Vitamin B12-Mangelanämie, Leberzirrhose, Alkoholismus.
  • Tumorpatienten unter zytostatischer Therapie.
  • Myelodysplastisches Syndrom, hereditäre Stomatozytose.

MCV erhöht

MCH erhöht

MCHC erhöht

Präsenz hochtitriger Kälteagglutinine, die eine Agglutination von Erythrozyten bewirken. Die Erythrozytenzahl wird zu niedrig, das MCV zu hoch bestimmt. Als Folge sind die Erythrozytenzahl und der Hämatokrit zu niedrig, und die Berechnung von MCH und MCHC zu hoch.

Tabelle 15.3-1 Bildung von Hämiglobincyanid aus Hämoglobin /2/

Hb (Fe2+) + [FeIII(CN)6]3– → Hi (Fe3+) + [FeII (CN)6]4–

Hi (Fe3+) + CN → Hi [FeCN]2+

Tabelle 15.3-2 Referenzbereich von Hämoglobin

Feten /3/*

  • SSW 15

109 ± 7

  • SSW 16

125 ± 8

  • SSW 17

124 ± 9

  • SSW 18–21

117 ± 13

  • SSW 22–25

122 ± 16

  • SSW 26–29

129 ± 14

  • SSW > 30

136 ± 22

Kinder /5, 6/***

  • Nabelschnurblut

135–207

  • 1. Tg.

152–235

11–13,5 Mon.

107–113

  • 2–6 Tg.

150–240

1,5–3 J.

108–128

  • 14–23 Tg.

127–187

5 J.

111–143

  • 24–37 Tg.

103–179

10 J.

119–147

  • 40–50 Tg.

90–166

12 J.

118–150

  • 2,0–2,5 Mon.

92–150

15 J.

128–168

  • 3,0–3,5 Mon.

96–128

  • 5–7 Mon.

101–129

  • 8–10 Mon.

105–129

Erwachsene /4/**

115–160

135–178

Angaben in g/l. * Angabe von x ± 1 s; ** Das zentrale 95 %-Konfidenzintervall ist angegeben. *** Angabe von x ± 2 s.

Umrechnungen:

 g/dl × 0,6206 = mmol/l. Beispiel: 15 g/dl = 9,309 mmol/l

 g/l × 0,06206 = mmol/l

mmol/l × 1,611 = g/dl

Table 15.3-3 Untere Grenzwerte der normalen Hb-Konzentration Erwachsener /9/

Gruppe

Alter (Jahre)

Hb g/l (mmol/l)

Männer weiß

20–59

137 (8,50)

≥ 60

132 (8,19)

Frauen weiß

20–49

122 (7,57)

≥ 50

122 (7,57)

Männer schwarz

20–59

129 (8,00)

≥ 60

127 (7,88)

Frauen schwarz

20–49

115 (7,14)

≥ 50

115 (7,14)

Basierend auf den Scripps-Kaiser Daten, bezogen auf die 5. Perzentile, Ref. 7, Tabelle 2. Die NHANES Daten werden als bestätigend erachtet.

Tabelle 15.3-4 Untere Grenzwerte für Anämie bei Kindern in den USA /10/

Alter (Jahre)

Hb (g/l)

Hkt (Fraktion)

1–1,9

110

0,330

2–4,9

112

0,340

5–7,9

114

0,345

8–11,9

116

0,350

12–14,9

118

0,355

123

0,370

15–17,9

120

0,360

126

0,380

≥ 18

120

0,360

136

0,410

Tabelle 15.3-5 Korrektur für Anämie bei längerem Aufenthalt in Höhenlagen /10/

Höhenlage (Fuß)

Hb (g/l)

Hkt (Fraktion)

< 3.000

0,0

0,0

3.000–3.999

+ 2,0

+ 0,005

4.000–4.999

+ 3,0

+ 0,010

5.000–5.999

+ 5,0

+ 0,015

6.000–6.999

+ 7,0

+ 0,020

7.000–7.999

+ 10

+ 0,030

8.000–8.999

+ 13

+ 0,040

9.000–9.999

+ 16

+ 0,050

≥ 10.000

+ 20

+ 0,060

Der Hb- oder Hkt-Betrag muss zum Referenzbereichswert addiert werden.

Tabelle 15.3-6 Korrektur für Anämie bei Rauchern /10/

Raucherstatus

Hb (g/l)

Hkt (Fraktion)

Nichtraucher

0,0

0,0

Raucher (alle)

+ 3,0

+ 0,0010

0,5–1 Packung/Tag

+ 3,0

+ 0,0010

1–2 Packungen/Tag

+ 5,0

+ 0,0015

> 2 Packungen/Tag

+ 7,0

+ 0,0020

Der Hb- oder Hkt-Betrag muss zum Referenzbereichswer addiert werden.

Tabelle 15.3-7 Einteilung der Anämien nach der Regenerativität der Erythropoese

Hyporegenerative Anämien

Es liegt eine ineffektive Erythropoese auf Grund einer inadäquat niedrigen Synthese von Erythropoetin oder einer intrinsischen Hypoproliferation der Erythropoese vor, meist besteht aber eine Kombination beider. Ursachen können sein:

  • Mangel an Eisen, Vitamin B12, Folat oder es liegen vor: Chronische Nierenerkrankung (Erythropoetin-Mangel ?), Hormonmangel bei Schilddrüsen-, Hypophysen- oder Nebennierenrinden-Erkrankung.
  • Störung der Proliferation und/oder Differenzierung der Stammzelle: Chronische Erkrankung (chronische Entzündung, Autoimmunerkrankung, Tumor, Lebererkrankung), toxisch (Alkohol, Zytostatika), Bestrahlung, aplastische Anämie.
  • Verdrängung der Erythropoese: Akute Leukämie, myelodysplastisches Syndrom, myeloproliferatives Syndrom, malignes Lymphom, Metastasierung eines soliden Tumors in das Knochenmark, Speicherkrankheiten.

Hyperregenerative Anämien

Bei diesen Anämien entspricht die Antwort der Erythropoese dem Ausmaß der Anämie. Der Anstieg der Sekretion von Erythropoetin ist adäquat dem Hämoglobinabfall und das erythropoetische Gewebe gesund. Folgende Ursachen können zugrunde liegen:

  • Subakute Blutung (maligner Tumor)
  • Therapie bedingte Regeneration der Erythropoese (Eisentherapie, Folsäure- und Vitamin B12-Therapie)

Gesteigerter Erythrozytenabbau: Hypersplenismus, immunhämolytisch, direkt toxisch (Malaria, M. Wilson), mechanisch (Herzklappen, Gefäßprothesen, disseminierte intravasale Gerinnung).

  • Membrandefekt der Erythrozyten; hereditäre Sphärozytose, Elliptozytose, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie.
  • Hämoglobinopathie, Enzymdefekt.

Tabelle 15.3-8 Blutzellstatus bei bestimmten Personen- und Patientengruppen

Anämie:

– Kinder. In den ersten Lebenswochen erfahren alle Neugeborenen eine Verminderung der Erythrozytenmasse, die zum Absinken des Hb-Werts und des Hämatokrits führt. Im Alter von 10–12 Wochen unterschreitet bei gesunden Kindern der Nadir nur selten die Hb-Konzentration von 90 g/l. Der Abfall ist stärker bei Frühgeburten und der Nadir kann bei 80 g/l liegen, wenn das Geburtsgewicht 1,0–1,5 kg betrug und bei 70 g/l, wenn das Geburtsgewicht unter 1,0 kg war. Während reif geborene Kinder den Hb-Abfall tolerieren und deshalb von einer physiologischen Anämie gesprochen wird, können Frühgeborene klinische Symptome zeigen, die eine Bluttransfusion oder Therapie mit Erythropoese stimulierenden Agentien (ESA) erfordern /20/. Die Ursache des stärkeren Hb-Abfalls bei Frühgeborenen ist der Eisenmangel, beruhend auf ungenügender Eisenspeicherung durch die Frühgeburt, das frühere postnatale Anspringen der Erythropoese, das raschere Wachstum nach der Geburt und die häufigen Blutentnahmen zu diagnostischen Zwecken. Die Referenzintervalle für Blutbild und Parameter des Eisenstoffwechsel der reif geborenen Kinder haben innerhalb des ersten Lebensjahres auch Gültigkeit für Frühgeborene /21/.

Mit zunehmendem Alter kommt es zu einem kontinuierlichen Anstieg der Hb-Konzentration und des Hämatokrits. In den USA haben die Centers for Disease Control die in Tab. 15.3-2 – Referenzbereich von Hämoglobin genannten Grenzwerte für Anämie bei Kindern festgelegt.

– Sportler /16/: Ausdauerathleten zeigen oft eine Verminderung des Hb-Werts und des Hämatokrits. Die Anämie ist wesentlich bedingt durch eine Vermehrung des Plasmavolumens in Bezug auf die rote Blutzellmasse. Es besteht eine Hämodilution, obwohl die Erythropoese stimuliert ist. Akute schwere körperliche Arbeit vermindert die arterielle Sauerstoffsättigung und ändert die renale Hämodynamik; beides sind Trigger der Produktion von Erythropoetin.

– Ältere Menschen /22/: Die Prävalenz der Anämie bei über 65-Jährigen beträgt im Mittel 17 %. Etwa 60 % der über 65-Jährigen haben Erkrankungen, die den Hb-Wert erniedrigen. In der Cardiovascular Health Study cohort hatte über 65-Jährige einen schlechteren klinischen Outcome bei Hb-Werten unter 137 g/l bei Männern und unter 126 g/l bei Frauen. Nur 1 % der nicht in Krankenhäusern befindlichen Alten haben eine Hb-Konzentration unter 100 g/l. Möglicherweise wird in einigen Fällen die Anämie maskiert auf Grund einer Hämokonzentrierung, bedingt durch die Einnahme von Diuretika. Nach der InChianti-Studie ist die Prävalenz der Anämie deutlich größer bei denjenigen mit einer Creatinin Clearance unter 30 [ml × min–1 × (1,73 m2)–1/23/. Alte Menschen mit erniedrigten Hb haben ein höheres Risiko der Krankenhauseinweisung und der Mortalität als diejenigen mit Werten im Referenzbereich. Das gilt auch schon für alte Menschen mit milder Anämie (Frauen Hb 100–119 g/l, Männer 100–129 g/l). Das 3-Jahresrisiko eines Krankenhausaufenthalts war mit einer Hazard ratio von 1,32 assoziiert und die Mortalität mit 1,86 /24/. Ein Viertel der Anämien im Alter sind weder durch Nahrungs-bedingten Mangel (Eisen, Vitamin B12, Folsäure) noch durch Niereninsuffizienz, chronische Inflammation oder ein myelodysplastisches Syndrom erklärbar /25/.

– Schwangerschaft: Während der Schwangerschaft durchläuft die Erythropoese erhebliche Veränderungen /26/. Ab der 10. SSW kommt es zu einem Anstieg des Blutvolumens um 30–40 %, des Plasmavolumens um 40–50 % und der Erythrozytenmasse um 20–30 %. Maximale Veränderungen werden in der SSW 32–34 erreicht. Nach Empfehlungen der WHO soll während einer Schwangerschaft die Hb-Konzentration nicht unter 110 g/l und im Wochenbett nicht unter 100 g/l abfallen /8/. Im Wochenbett kommt es bei Frauen ohne Anämie zu einem Abfall des Hb um 10 g/l und des Hkt um 0,10 gegenüber dem Ausgangswert, die Retikulozyten steigen schon während der Entbindung an /27/. Ab dem 4. Tag post partum steigen Hb und Hämatokrit kontinuierlich an.

– Chronische Herzinsuffizienz /16/: Ein hoher Anteil von Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz hat eine Anämie, davon 58 % eine Anämie chronischer Erkrankungen. Hb-Werte von 100–120 g/l bewirken einen Anstieg des Herzminutenvolumens mit einer verstärkten Belastung des linken Ventrikels, wodurch es zu einem erhöhten Sauerstoffverbrauch und Verlust von Myozyten kommt. Die Gewebshypoxie bewirkt eine arterielle Vasodilatation mit verminderter Nachlast und eine chronische Volumenüberlastung mit ventrikulärer Dilatation (siehe Beitrag 2.7 – Chronische Herzinsuffizienz). Die Mortalität der Patienten ist abhängig vom Hb-Wert. So hatten in der Prospective Randomized Amlodipine Survival Evaluation (Praise), in der Patienten mit einer Ejektionsfraktion unter 30 % und der NYHA-Klassifikation IIIB und IV über 15 Monate untersucht wurden, diejenigen in der niedrigsten Quintile (Hb 116 ± 9 g/l) ein 52 % höheres Mortalitätsrisiko (Hazard ratio 1,52) als Patienten in der höchsten Quintile (Hb 162 ± 9 g/l) /28/.

– Diabetes mellitus: Etwa jeder fünfte nicht hospitalisierte Diabetiker hat eine Anämie, wenn diese bei Frauen als eine Hb-Konzentration unter 120 g/l und bei Männern unter 130 g/l definiert wird. Nach einer Untersuchung haben /34/:

  • Patienten mit einer GFR über 60 [ml × min–1 × (1,73 m2)–1] und fehlender Albuminurie höhere Hb-Werte als diejenigen mit Albuminurie.
  • Patienten mit Makroalbuminurie niedrigere Hb-Werte als diejenigen mit Mikroalbuminurie.
  • Patienten mit einer GFR unter 60 [ml × min–1 × (1,73 m2)–1] und Normoalbuminurie vergleichbare Hb-Werte zu denjenigen mit einer GFR über 60 [ml × min–1 × (1,73 m2)–1] und Makroalbuminurie.

Deshalb sollte bei Diabetikern nicht nur die Untersuchung auf Anämie bei Einschränkung der eGFR, erfolgen, sondern auch bei normaler GFR und Präsenz einer Albuminurie.

Die Anämie kann klinisch früher in Erscheinung treten als die Niereninsuffizienz.

Die Genese der Anämie bei diabetischer Nephropathie ist multifaktoriell. Wesentliche Faktoren sind die Schädigung interstitieller Zellen und der vaskulären Architektur der Nieren mit der Folge einer interstitiellen Fibrose. Je stärker diese ist, desto weniger Erythropoetin wird gebildet.

– Alkoholismus: Die Anämie bei Alkoholismus ist multifaktoriell. So sind pathophysiologisch zu nennen:

  • Toxische Suppression der Erythropoese durch Hemmung der ribosomalen und mitochondrialen Proteinsynthese.
  • Megaloblastäre Veränderungen auf Grund Störung des Folsäurestoffwechsels durch Alkohol.
  • Störung des Vitamin B6-Stoffwechsels und dadurch mitochondriale Einlagerung von Eisen in Erythroblasten und Entstehung von Ringsideroblasten.
  • Veränderungen der Erythrozytenmembran durch Alkohol mit der Folge von Hämolyse und verkürzter Erythrozytenlebenszeit.

Labordiagnostik: Die Hb-Konzentration ist gewöhnlich 80–120 g/l, der mittlere MCV liegt 5–10 % höher als bei gesunden Kontrollpersonen, die RDW zeigt eine Dimorphie. Im Blutausstrich Akanthozytose und Stomatozytose, nach Eisenfärbung Ringsideroblasten.

– Maligner Tumor: Patienten, die unter Chemotherapie eine Anämie ausbilden (Hb unter 1106#160;g/L oder Hb-Abfall von mehr als 20 g/L von einem Ausgangswert unter 120 g/L) und einen absoluten Eisenmangel haben (Serumferritin unter 100 ug/L ) sollte eine intravenöse Eisentherapie zur Korrektur des Eisenmangels verordnet werden. Wird eine Therapie mit ESA (Erythropoetin stimulierenden Agens) in Betracht gezogen, sollte die Eisentherapie vor der ESA-Behandlung beginnen, um einen funktionellen Eisenmangel zu vermeiden (Transferrinsättigung < 20 % und Serumferritin > 100 ug/L) /61/.

Die Transfusion von Erythrozyten sollte in Betracht gezogen werden bei Patienten mit einem Hb-Wert < 70–80 g/L oder bei Patienten mit Symptomen einer schweren Anämie (auch bei höheren Hb-Werten). Eine Bluttransfusion ist auch gerechtfertigt bei denjenigen, bei denen eine Erhöhung des Hb-Wertes zu einer sofortigen Besserung der Symptome von akuten Beschwerden führt /61/.

Studien berichten zum Ausgang von Patienten, die während einer radikalen operativen Therapie eines malignen nicht metastasierten Tumors Bluttransfusionen erhalten haben. So soll die Transfusion mit einem erhöhten Risiko des Todes des Tumorpatienten verbunden sein (hazard ratio 1.36; 95 % CI 1.26–1.46). Die Überlebensrate war nicht nur vermindert, sondern es bestand auch ein erhöhtes Risiko des Rezidivs /74/.

Tabelle 15.3-9 Klassifikation und Differenzierung der mikrozytären Anämien

Mikrozytäre Anämie – Generell: Charakteristisch ist, abhängig vom Hämatologie-Analyzer, ein MCV unter 80–83 fl. Es ist immer erforderlich, zusätzlich die Verteilungsbreite der Erythrozyten zu beurteilen, um eine Erythrozytendimorphie auszuschließen oder die Erythrozytenmorphologie im Blutausstrich zu beurteilen. Ist ein erniedrigtes MCV gesichert, wird an Hand des MCHC beurteilt, ob eine Hypochromie (MCH unter 28 pg) oder eine Normochromie (MCH normal) vorliegt.

Mikrozytäre hypochrome Anämien können resultieren aus einem Defekt in den Globingenen (Hämoglobinopathie oder Thalassämie), einem Defekt in der Hämsynthese, einem Defekt in der Bereitstellung von Eisen für die erythroiden Vorläuferzellen oder deren mangelnde Eisenaufnahme. Meist liegt eine Eisen-restriktive Erythropoese, bedingt durch einen nutritiven Eisenmangel oder durch einen Eisenverlust auf Grund einer chronischen oder akuten Blutung vor /35/.

– Eisenmangelanämie. Bei Frauen bis zum 50. Lj. sind menstruelle Blutungen, bei Männern bis zu diesem Alter gastrointestinale Blutungen und bei beiden Geschlechtern über 50 Jahre die gastrointestinalen Blutungen durch Tumoren (kolo-rektales Karzinom) die häufigsten Ursachen des Eisenmangels /36/. Bei Kindern ist eine inadäquate Eisenzufuhr die wesentliche Ursache eines Eisenmangels. Abhängig vom Ausmaß und der Dauer des Eisenmangels sind Hb, MCV und MCH vermindert. Die Erythrozytenzahl ist meist niedrig-normal oder nur leicht vermindert. Gewöhnlich überwiegt die Hypochromie die Mikrozytose /7/. Die RDW ist verbreitert auf über 15 %. Von der Entleerung der Eisenspeicher mit Übergang in eine Eisen-restriktive Erythropoese bis zum Auftreten einer messbaren Anämie vergehen etwa 8 Wochen. Wird der Anteil der hypochromen Erythrozyten (%HYPO) bestimmt, verkürzt sich diese Zeit auf 2–3 Wochen und bei Bestimmung des Hb-Gehaltes der Retikulozyten auf etwa 3 Tage. Im Blutausstrich besteht eine Poikilozytose (irreguläre Gestalt) und Anisozytose (ungleiche Größe) der Erythrozyten. Bei Eisen-restriktiver Erythropoese steigt der Anteil der %HYPO auf über 5 % und Ret-He bzw. CHr fallen unter 28 pg. Unter effektiver oraler Eisentherapie steigt der Hb-Wert innerhalb von 4 Wochen um über 10 g/l an und der CHr und RetHe nach einer Woche. Zur weiteren Diagnostik siehe Kapitel 7 – Eisenstoffwechsel und Beitrag 15.2 – Erythrozyten. Die Erythropoese ist bei der Eisenmangelanämie hypo- bis normoregenerativ.

– β-Thalassämie. Der biochemische Defekt bei der β-Thalassämie ist eine fehlende Synthese von β-Globinketten der erythroiden Vorläuferzellen (siehe Beitrag 15.7 – Hämoglobinopathien). Bei den heterozygoten Merkmalsträgern (Thalassämia minor) führt das zu einer mangelnden Hämoglobinisierung der Erythrozyten. Bei homozygoten Patienten (Thalassämia major) liegt nicht nur ein Mangel an β-Globinketten vor, sondern die Erythropoese ist auch durch einen relativen Überschuss an α-Globinketten gestört. Diese überschüssigen Ketten, die nicht zu HbA gebunden werden können, präzipitieren in den erythroiden Vorläuferzellen und führen zum Zelltod und zur Dyserythropoese /37/. Die Thalassämia major bewirkt eine schwere hypochrome mikrozytäre Anämie im Kindesalter. Die Thalassämia minor hat in unkomplizierten Fällen eine Hb-Konzentration von 110–120 g/l. Diese wird durch eine hohe Erythrozytenzahl von (5–7) × 1012/l aufrecht erhalten. Der MCV ist unter 80 fl, meist sogar unter 75 fl und kann bis zu 55 fl erniedrigt sein. Das MCH ist deutlich erniedrigt, der MCHC über 310 g/l, die RDW normal, da die Mikrozytose uniform ist. Die Mikrozytose überwiegt die Hypochromie und ein Quotient %MIKRO/%HYPO über 0,9 bei einem Anteil von ≥ 20 % hypochromer Erythrozyten weist auf eine heterozygote β-Thalassämie hin /38/. Diese kann mit einer leichten Retikulozytose und Erhöhung des löslichen Transferrinrezeptors einhergehen. Hämatologische Werte bei der hetero- und der homozygoten β-Thalassämie zeigt Tab. 15.3-10 – Hämatologische Daten bei Patienten mit β-Thalassämie-Syndrom.

– HbE-Syndrom. Nach HbS ist HbE weltweit die zweithäufigste Hb-Variante. Die Genfrequenz ist etwa 10 % in Südostasien. In der Region Kambodscha, Laos und Thailand beträgt die Prävalenz von HbE 20–40 %. HbE ist eine Mutation, die auf dem Ersatz von Glutamin durch Lysin in Position 26 der β-Globinkette beruht. Ursache ist der Austausch von Guanin durch Adenin im Codon 26 des β-Globingens. Da zusätzlich durch diese Mutation eine Änderung der Splicing site bewirkt wird, kommt es zu einer Verminderung funktioneller β-Globin-mRNA mit konsekutiv reduzierter Bildung von β-Ketten, woraus ein milder Thalassämie-Phänotyp resultiert. Es gibt drei HbE-Syndrome, denen allen eine Mikrozytose und ein unterschiedlicher Anteil von HbE gemeinsam ist /39/:

  • HbEE ist der homozygote Phänotyp. Es handelt sich um einen benignen Zustand mit keiner oder nur geringer Anämie. Das MCV ist 20–25 fl niedriger als normal, die Erythrozyten haben eine normale Lebenszeit. Die Erythrozytenzahl ist erhöht, die der Retikulozyten meist normal. Im Blutausstrich sind bis zu 75 % Targetzellen nachweisbar, in der Hb-Elektrophorese wird kein HbA und nur HbE in Kombination mit einem geringen Prozentsatz HbF gefunden.
  • HbAE ist der heterozygote Phänotyp: Diese Personen sind klinisch meist asymptomatisch, es liegt keine Anämie vor. Die Erythrozytenzahl ist leicht erhöht, das MCV 10–15 fl unter normal. Im Blutausstrich sind einige Targetzellen sichtbar. Die Hb-Elektrophorese zeigt eine HbE-Fraktion von etwa 30 %, der Rest ist HbA.
  • HbE/β-Thalassämie-Phänotyp. Es liegt ein heterozygoter Status für HbE und β-Thalassämie mit einem klinischen Bild vor, das der β-Thalassämie ähnlich ist. Die Klinik ist variabel und kann mit einer milden mikrozytären Anämie einhergehen oder auch Transfusions bedürftig sein.

Hereditäre Sphärozytose (HS) /40/: Häufigste genetisch bedingte hämolytische Anämie bei Kaukasiern mit einer Inzidenz von 1 auf 2–5 Tausend Geburten. Etwa 75 % der Fälle werden autosomal dominant vererbt, der Rest wird rezessiv vererbt oder es handelt sich um neue Mutationen. Die molekularen Defekte sind sehr heterogen und umfassen Gene die kodieren die Erythrozytenproteine Spektrin, Ankryn und Bande 3. Alle diese Proteine sind in den strukturellen Aufbau der des Zytoskeletts der roten Blutzellen involviert und ein Mangel oder die Fehlfunktion führt zur Bildung von sphäroidalen, fragilen und osmotisch labilen Erythrozyten. Diese werden von der Milz abgefangen und zerstört. Das defekte Protein kann vermittels der SDS-Polyacrylamid Gelelektrophorese detektiert werden. Der Phänotyp mit Mangel an Spektrin hat gewöhnlich eine schwerer Anämie und mehr Sphärozyten im Ausstrichpräparat als derjenige mit einem Bande-3 Mangel. In einer Studie /41/, präsentierte sich die HS als milde, moderate und schwere Form in jeweils 38 %, 11 % und 9 % der Fälle. Der Membrandefekt (Spektrin, Ankryn, Bande 3) hatte keine klare Assoziation zur Schwere der HS. Gewöhnlich wird die Diagnose schon bei Kindern gestellt durch Anämie, Ikterus und Splenomegalie, bei Erwachsenen durch Splenomegalie und Gallensteine. Die Schwere der Anämie korreliert mit dem Ausmaß der Hämolyse und der Splenomegalie. Splenektomie macht die Anämie rückgängig.

Labordiagnostik: Hb erniedrigt oder normal, MCV erniedrigt (besonders gut zu bestimmen mit Hämatologie-Analyzern die flowzytometrisch messen), MCHC erhöht, RDW erhöht, % hyperdense rote Blutzellen erhöht, Retikulozytose, Erythropoetin erhöht. Nach Milzentfernung Normalisierung von Hb, Retikulozyten und Erythropoetin.

Sideroblastische Anämie /42/: Sideroblastische Anämien sind eine heterogene Gruppe angeborener oder erworbener Störungen des Knochenmarks, denen die Ablagerung von Eisen in den Mitochondrien, die ringförmig um den Nukleus der Erythroblasten gelagert sind, gemeinsam ist.

  • Die angeborenen Formen sind die X-linked sideroblastische Anämie, die auf Mutationen im Gen der Aminolävulinsäure Synthetase (ALAS2 ) beruht und die sideroblastische Anämie beruhend auf Mutationen Im Gen SLC25A38.
  • Die Pathogenese der erworbenen Form ist durch Alkohol und Medikamente bedingt. Jedoch die am meisten bekannte sideroblastische Anämie ist die refraktäre sideroblastische Anämie mit Ringsideroblasten (RARS).

– X-linked sideroblastic anemia (XLSA) /42/: Sie ist die häufigste Form der hereditären sideroblastischen Anämie. Es liegt eine Mutation im Gen ALAS2 der Hämatopoese-spezifischen Aminolävulinsäure Synthetase (ALAS2) vor. Das von diesem Gen kodierte Enzym ALAS2 katalysiert den ersten Schritt der Hämsynthese, die Bildung von Aminolävulinsäure aus Glycin und Succhinyl-CoA (siehe auch Abb. 7.1-6 – Erster Schritt der Hämsynthese). Es bestehen viele Mutationen, von denen die meisten Missense-Mutationen sind. Hemizygote Männer haben eine mikrozytäre Anämie und Eisenüberladung. Die Erkrankung ist schon bei Neugeborenen diagnostizierbar, wird häufig aber erst im mittleren Lebensalter klinisch auffällig.Die sideroblastische Anämie ist bedingt durch Mutationen im Gen SLC25A38. Kodiert wird das Importer Protein Mitoferrin 1 (Mfrn1; SLC25A38), das ein Mitglied der Familie der Füssigkeitscarrier ist, in der inneren mitochondrialen Membran gelegen ist und mit verantwortlich ist für die Synthese von Häm und die Bildung des Eisen-Schwefel Clusters.

Labordiagnostik: Die wesentlichen Merkmale sind eine mikrozytäre, hypochrome Anämie, oft mit Pappenheim-Körperchen (Eisen-positive Einschlüsse), Dimorphismus der Erythrozyten (eine mikrozytäre und eine normozytäre Population), im Knochenmark Ringsideroblasten, besonders Eisenablagerung in den orthochromatischen Erythroblasten, sekundäre Eisenüberladung auf Grund einer ineffektiven Erythropoese. Die Erkrankung kommt in allen Altersgruppen vor, ist bei Männern häufiger als bei Frauen, die Anämie ist aber bei Frauen schwerwiegender.

Weitere hereditäre mikrozytäre Anämien: Mikrozytäre Anämien, die bedingt sind durch eine Fehlregulation des zellulären Eisenstoffwechsel und ihre Auswirkungen siehe Lit. /42/.

Posttransplantationsanämie (PTA) /43/: Die Prävalenz der PTA (Hb Frauen unter 120 g/l, Männer unter 130 g/l) wird in Abhängigkeit vom Zeitpunkt nach Transplantation mit 12–94 % angegeben. So betrug in einer Studie bei 240 Empfängern von Nierentransplantaten die Anämieprävalenz zu Zeitpunkt der Transplantation 76 %, ein Jahr später 21 % und 36 % nach 4 Jahren /44/. In den ersten 6 Monaten liegt überwiegend eine mikrozytäre Anämie vor. Eine Ursache der Mikrozytose ist die Therapie mit Sirolimus. Das Ausmaß der Anämie ist abhängig vom Stadium der chronischen Niereninsuffizienz (CKD) nach Transplantation. Die Anämieprävalenz betrug in den CKD-Stadien 1, 2, 3, 4, 5 jeweils 0 %, 3 %, 7 %, 27 % und 33 %.

Patienten mit 2 oder 5 Jahren nach einer hämatopoetischen Zelltransplantation (HCT) haben eine mehr als 80 % Wahrscheinlichkeit auch die nächsten 10 Jahre zu überleben. Viele Studien zeigen aber, dass HCT Überlebende signifikante Spätschäden haben, die einen Einfluss auf die Mortalität, Morbidität, den Arbeitsstatus und das Wohlbefinden ausüben. Laboruntersuchungen zur Diagnostik von Spätschäden sind TSH (Hypothyreose), Glucose und HbA1c (Diabetes mellitus), Lipide (Dyslipidämie), Cortisol-Stimulationstest (Nebenniereninsuffizienz), Testosteon (gonadale Dysfunktion), FSH, LH (gonadale Dysfunktion), Ferritin (Eisenüberladung), ALT (Hepatitis) /69/.

Posttransplantation lymphoproliferative disorders (PTLD) machen etwa 21 % aller malignen Erkrankungen bei Patienten mit Organtransplantation aus. Die Inzidenzen betragen bei Nierentransplantierten 0,8–2,5 %, bei Pankreastransplantierten 0,5–5 %, bei Lebertransplantierten 1,5–5 %, bei Herztransplantierten 2–8 %, bei Lungentransplantierten 3–10 % und bei Multiorgan Transplantierten im gastrointestinalen Bereich ≤ 21 %. Die PLTD ist eine Folge der therapeutischen Immunsuppression /70/.

Hämolytische Anämie: Eine Hämolyse bei hämatologischen Erkrankungen wird oft von einer Anämie mit Eisenüberladung begleitet. Die Eisenüberladung ist die Folge eines massiven Einstroms von Hb in die Zirkulation. Es resultiert ein kompletter Abfall von Haptoglobin, Hämopexin, ein Anstieg der LDH, eine Zunahme der Erythrozytenverteilungsbreite, eine Verminderung der erythrozytären Halbwertszeit, ein Anstieg von Ferroportin und der Abfall von Hepcidin. Das verstärkt aufgenommene Eisen wird in der Leber und den Makrophagen der Milz gespeichert, Ferritin ist erhöht, aber die Transferrinsättigung bleibt normal. Die aus Häm und Hämoglobin resultierende Eisenüberladung besteht vorwiegend in den Makrophagen von Milz und Leber, ist aber nicht in den Hepatozyten lokalisiert. Aufgrund des niedrigen Hepcidins ist die enterale Eisenabsorption erhöht. Die fehlende Eisenüberladung der Hepatozyten beruht auf der erheblichen Neubildung von Erythroblasten und dem Eisenverlust über die Nieren /71/.

Tabelle 15.3-10 Hämatologische Daten bei Patienten mit β-Thalassämie-Syndrom, nach Lit. /37/

Parameter

Normal

Heterozygot

Homozygot

Hb (g/l)

110–150

80–110

40–70

MCH (pg)

27–33

16–24

16–24

MCV (fl)

75–90

60–75

60–75

Retikuloz. (%)

1–2

1–2

2–10

HbA (%)

96–98

90–95

0–20

HbF (%)

0–2

1–5

60–90

HbA2 (%)

1–3

4–6

0–10

Erythroblasten

0

0

Viele

Tabelle 15.3-11 Klassifikation und Differenzierung der normozytären Anämien

Normozytäre normochrome Anämie:

– Allgemein. Normozytäre normochrome Anämien haben normale Werte für MCV, MCH und MCHC. Sie werden entsprechend der Regenerativität der Erythropoese in hypo- und hyperregenerative Formen unterteilt. Wesentliche Anämien bei hyperregenerativem Zustand sind die posthämorrhagische Anämie und die hämolytische Anämie. Entsprechend der Regenerativität der Erythropoese ist ein Anstieg der Retikulozyten und des sTfR zu erwarten. Die hyporegenerativen normozytären normochromen Anämien bestehen aus einem Sammelsurium unterschiedlicher Zustände, die mit Entzündung, malignem Tumor oder einer verminderten Erythropoetin-Synthese einhergehen /7/.

– Hyperregenerativ. Hyperregenerative Anämien können bedingt sein durch:

  • Zerstörung der Erythrozyten (Hämolyse), die Erythrozytenlebenszeit ist verkürzt.
  • Eine Blutung nach außen oder innen, z.B. äußere Verletzung oder in den Gastrointestinaltrakt.
  • Behandlung einer Mangelanämie, z.B. in der Regenerationsphase nach Eisensubstitution, Substitution mit Vitamin B12 oder Folat.

Labordiagnostik: Charakteristische Befunde sind die Retikulozytose und im Blutausstrich eine Polychromasie der Erythrozyten. Die regenerative Antwort, also die Retikulozytose und Polychromasie, sind bei der hämolytischen Anämie größer als bei der Blutungsanämie. Das soll bei der hämolytischen Anämie bedingt sein durch eine raschere Verfügbarkeit von Eisen und die Freisetzung von Faktoren aus aktivierten Makrophagen mit stimulierender Wirkung auf die Erythropoese /45/.

Hämolytische Anämie (HA): HA machen etwa 5 % der Anämien aus und können die in Tab. 15.3-12 – Ursachen hämolytischer Anämien aufgeführten Ursachen haben. Die Hämolyse kann mit einer normozytären oder mikrozytären Anämie assoziiert sein. Die Hämolyse kann im Gefäßsystem erfolgen (intravasale Hämolyse) oder bei Vorliegen einer Splenomegalie in der Milz (extravaskuläre Hämolyse). Dieser pathologische Prozess wird als Hypersplenismus bezeichnet. Beide Hämolyseformen können eine Hyperbilirubinämie verursachen. Während die Retikulozytose ein Indikator der extra- und intravasalen Hämolyse ist, kommt die Haptoglobin (Hp)-Verminderung vorwiegend bei intravasaler Hämolyse vor. Die Halbwertszeit des Hp ist 4 Tage, der Hp-Hb-Komplex hat eine Lebenszeit von wenigen Minuten. Da die Rate des Hp-Katabolismus bei Hämolyse sehr viel größer ist als die Synthese, ist die Hp-Konzentration erniedrigt. Oft kommen intra- und extravasale Hämolyse gemeinsam vor, wobei aber eine Form dominiert. Die Konzentration von Totalprotein im Plasma ändert sich bei der HA nicht /46/. Die HA sind mit einer Hyperkoagulabilität assoziiert /47/.

HA sind hyperregenerativ, am 2.–3. Tag werden Retikulozytosen von 15 % erreicht, nach einer Woche bis zu 50 %, insbesondere bei immun vermittelter Hämolyse. Weiterführend zu den hämolytischen Anämien siehe auch Beiträge LDH, Retikulozyten und Haptoglobin.

Hereditäre HA sind im Wesentlichen bedingt durch eine Störung der Erythrozytenmembran (hereditäre Sphärozytose, hereditäre Elliptozytose), durch Enzymstörungen des Erythrozyten, durch eine verminderte Bildung von normalem Hb (Thalassämie-Syndrom) oder die Synthese eines qualitativ abnormen Hb (HbE-Syndrome, Sichelzellanämie). Bei den Hb-Störungen sind diejenigen mit einer Abnormität der α-Globinkette schon bei der Geburt klinisch manifest, diejenigen mit β-Globinstörungen werden erst im Alter von 4–6 Monaten evident /39/.

Siehe auch Tab. 7.6-2 – Störungen der Hepcidin- und Ferroportin-Regulation.

– Hereditäre Elliptozytose: Diese Erkrankung wird sporadisch entdeckt bei der Auswertung eines Blutausstriches. Diese Patienten haben einen Anteil von 15–70 % Elliptozyten an den Erythrozyten. Gewöhnlich sind sie nicht anämisch und ohne Auffälligkeiten im mechanisierten Blutbild. Etwa 5–20 % haben eine kompensierte Hämolyse bei leichter Anämie mit einer Retikulozytose von etwa 20 %.

– Enzymdefekte: Von den nicht sphärozytischen hämolytischen Anämien haben die Enzymdefekte einen Anteil von etwa 18 %. Davon betreffen 54 % den Mangel der Pyruvatkinase und 30 % die Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase (siehe Beitrag 15.8 – Erythrozyten-Enzyme).

– Sichelzellanämie (SCA) /48/: Die SCA beinhaltet eine Gruppe autosomal dominanter Hämoglobinopathien charakterisiert durch Mutationen im Gen, das die Hämoglobin B-Untereinheit auf Chromosom 11 kodiert. Das Gen kodiert die Zusammensetzung von zwei Globinketten zu HbA. Das mutante β-Allel (βs) kodiert für die Bildung der Varianten Hämoglobin S (HbS). In dem mutierten Sichelzellgen (βs) ist Adenin durch Thymin ersetzt und somit in Aminosäureposition 6 der β-Globinkette Valin anstatt von Glutaminsäure. Der heterozygote Carrierstatus, bekannt als Sichelzellerkrankung, besteht in der Bildung von Hämoglobin A und Hämoglobin S und hat vorwiegend ein gutartiges klinisches Bild. Es gibt 5 Haplotypen des βS-Allels, die auf spezifische Regionen der Erde verteilt sind. Die Haplotypen unterscheiden sich in der Schwere des Krankheitsbildes, der Häufigkeit und dem Muster an klinischer Symptomatik. Patienten mit HbA und HbS sind nahezu resistent gegenüber Malaria, da die intraerythozytären Parasiten bei der Hämolyse degradiert werden.

Die SCA ist die häufigste Hämoglobinopathie mit einer hohen Inzidenz in den Mittelmeerländern, dem nahen Osten, Zentralafrika und gewissen Regionen in Indien. Bei Personen afrikanischen Ursprungs gibt es 3 unterschiedliche Haplotypen (Benin, Bantu und Senegal), die in Nordamerika und in der Karibik dominieren. Der asiatische Haplotyp herrscht in Indien und den östlichen Regionen von Saudi Arabien vor /75/.

Die Polymerisation von desoxygeniertem HbS (PO2 < 40 mmHg) ist das primäre Ereignis der SCA. HbS wird als einzelnes Molekül in ein Gel überführt durch die Bindung von Valin in Position 6 an Phenylalanin in Position 85 des benachbarten HbS-Moleküls wodurch es zur Faserbildung kommt. Die Sichelzelle erhält ihre typische Form durch die Polymersation der Hämoglobinmasse, wenn der HbS-Anteil etwa über 50 % beträgt /49/. Die Zellen verlieren ihre Plastizität und verstopfen das Kapillarbett, wodurch es zu trophischen Störungen mit Gewebsuntergang und Schmerzkrisenkommt. Es werden vier Sichelzellsyndrome differenziert (Tab. 15.3-13 – Laborbefunde bei Sichelzellanämie-Syndromen/39/:

HbSS ist der homozygote Phänotyp. In Afrika werden jährlich etwa 120.000 Kinder dieses Typs geboren, in den USA 3.000–4.000. Patienten mit diesem Phänotyp haben eine normozytäre normochrome Anämie mit Hb-Werten von 60–100 g/l und einer Retikulozytose von 10–25 %. Die Überlebenszeit der Erythrozyten ist auf 5–20 Tage verkürzt. Während normalerweise die Sichelzellform bei Oxygenierung des Erythrozyten in die bikonkave Form zurückgeht, sind beim homozygoten Phänotyp bis zu 30 % der Sichelzellen irreversibel verändert und fallen der Hämolyse anheim. Das Ausmaß der Hämolyse ist deshalb vom Anteil der irreversiblen Zellen abhängig. Die irreversiblen Formen werden im Blutausstrich gesehen, ebenfalls Howell-Jolly-Körperchen. Patienten mit diesem Phänotyp zeigen die zuvor aufgeführte klinische Symptomatik.

HbAS ist eine heterozygoter Phänotyp mit 35–45 % HbS und dem Rest HbA. In gewissen Regionen Westafrikas sind 20–25 % der Bevölkerung Träger des Sichelzellgens, in den USA bei 10 % der Schwarzen. HbAS-Phänotypen haben keine Anämie und eine normal Blutzellmorphologie.

HbSC-Phänotyp: Die heterozygote Vererbung von HbS und HbC zu Anteilen von 45–55 % verursacht ein Syndrom, das in der Ausprägung milder ist als das HbSS Syndrom. Die Anämie ist mild, das MCV vermindert und es besteht eine Retikulozytose von 3–6 %. Die Prävalenz in Afrika beträgt ein Fünftel des HbSS Syndroms. Wie bei diesem Syndrom zeigt auch der HbSC-Phänotyp Schmerzkrisen, gehäuft beobachtet werden Papillennekrosen der Nieren, Nekrose der Femoralköpfe und eine Retinopathie. Im Gegensatz zum HbSS-Syndrom, bei dem es im Alter ab 5 Jahren zu einer Milzatrophie kommt, hat der HbSC-Phänotyp sein Leben lang eine Splenomegalie.

HbS/β-Thalassämie-Phänotyp: Eine Heterozygotie für HbS und die β-Thalassämie besteht. Dieser Typ kommt bevorzugt in der Mittelmeerregion vor. Der Anteil von HbS ist 60–90 %, der Rest ist HbF, gelegentlich HbA. Der Hb ist etwa 100 g Hb/l, MCV und MCH sind vermindert. Der klinische Verlauf ist milder als bei den Phänotypen HbSS und HbSC, da der vermehrte HbF-Gehalt des Erythrozyten die Bildung der Sichelzellen verhindert.

Klinik: Die SCA ist mit schmerzhaft wiederkehrenden Gefäßverschlüssen, Multiorganversagen und erhöhtem Risiko der frühen Mortalität assoziiert. Erhöhte HbF-Werte führen zu einer relativ milden klinischen Manifestation der SCA /66/. Schon junge Patienten mit SCA haben Defekte der Urinkonzentrierung, der Elektrolytregulation und eine übernormale proximal tubuläre Funktion. Die Glomerula sind hypertrophiert und die GFR ist erhöht, bedingt durch einen verstärkten renalen Plasmafluss. In der zweiten Lebensdekade entwickelt sich eine Proteinurie, bei 10–20 % der Patienten. Häufig besteht schon eine Makroalbuminurie und später eine fokale glomeruläre Sklerose. Im Baby Hug Trial /50/ wurde gezeigt, dass eine beginnende Störung der Nierenfunktion schon früh mit der DPTA-GFR diagnostiziert und durch frühzeitige Behandlung mit Hydroxyharnstoff eine Organschädigung verhindert werden kann. Die chronische Gabe von Blut ist häufig, was zu hohem Ferritin führt. Werte < 1.500 µg/l sind tolerabel /51/. Die Milz ist eines der ersten Organe, die bei der SCA geschädigt werden, was zur funktionellen Asplenie mit hohem Risiko bakterieller Infektionen führt. Einige Kinder erfahren eine akute Milz-Abstoßung oder einen chronischen Hypersplenismus.

Labordiagnostik: HbS ist in der Regel 35-45 % des Gesamt-Hb, unter der Voraussetzung, dass kein Eisenmangel und keine alpha-Thalassämie vorliegt, denn beide vermindern den Anteil des Gesamt-Hb. Bei Patienten mit Hydroxyurea-Therapie ist der MCV erhöht /76/.

– Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH): Die PNH ist eine erworbene nicht-maligne klonale Stammzellerkrankung, bedingt durch eine Mutation des Phosphatidyl-Inositol-Glykan (PIG)-A Gens. Die PNH resultiert aus der somatischen Mutation hämatopoetischer Stammzellen und ihren Vorläufern, die nicht fähig sind auf der Zellmembran den Glykosyl phosphatidyl inositol (GPI)-Anker zu bilden. Der Anker dient dazu, die Komplement hemmenden Proteine CD55 und CD59 an die Zellen zu binden. Der Defekt beruht darauf, dass nicht der Transfer von N-Acetylglucosamin zu Glycosylphosphatidylinositol, die für die Synthese des GPI-Ankers erforderlich ist, unterstützt wird. Die Proteine, die den GPI-Anker bilden, werden zwar sythetisiert, aber nicht in die Zellmembran integriert. Sie sind somit in erhöhter Konzentration im Blutplasma nachweisbar. Der GPI-Anker ermöglicht auch den Einstrom von GPI-spezifischer Phospholipase C zur Trennung der angehefteten Proteine von der Zellmembran. Die PNH-Prävalenz in der Bevölkerung beträgt 1 : 100.000 bis 1 : 500.000.

Klinik: Die PNH ist durch folgende Triade charakterisiert: Intravaskuläre Hämolyse, hohes Risiko der Thromboembolie und eine Insuffizienz des Knochenmarks (Bild der aplastischen Anämie oder des myelodysplastisches Syndroms). Die hämolytische Anämie und Hämoglobinurie resultieren aus der chronischen intravasalen Hämolyse. Uncharakteristische Beschwerden sind Bauchschmerzen, Krämpfe der Speiseröhre und Schluckbeschwerden. Die Symptome sind nach Häufigkeit: Thromboembolie 40 %, Anämie 35 %, Hämoglobinurie 26 %, Hämorrhagie 18 %, aplastische Anämie 13 %, gastrointestinale Beschwerden 10 %, Ikterus 9 %, Eisenmangelanämie 6 %.

Intravasale Hämolyse: Die somatische Mutation des im X-Chromosom lokalisierten Gens PIGA befähigen die hämatopoetische Stammzellen und ihre Vorläufer nicht den Glykosyl phosphatidyl inositol Anker zu bilden. Deshalb schützen CD55 und CD59 nicht die hämatopoetischen Zellen vor der Hämolyse durch aktiviertes Komplement. Die Folge ist ist eine intravasale Hämolyse und hämolytische Anämie.

Thromboembolie /52/: Die Thromboembolie bei der PNH geht mit einem 7-fach höheren Todesfallrisiko einher. Bei 46 % der Patienten entwickelt sich eine Thromboembolie. Das Thromboembolierisiko, ist 7-fach höher, wenn die Lactatdehydogenase um den Faktor 1,5 gegenüber dem oberen Referenzbereichswert erhöht ist. Das Risiko einer PNH ist 3-fach erhöht bei Abdominalschmerz, Thoraxschmerz oder Dyspnoe. Bei einer Lactatdehydrogenase > 1,5-fach bei Abdominalschmerz, Thoraxschmerz bzw Dyspnoe oder bei Hämoglobinurie ist das Risiko einer PNH jeweils um die Faktoren 19, 18, 10 erhöht.

Knochenmarkinsuffizienz: Bedingt durch mangelnde Nachbildung intakter roter Blutzellen kann die Hämatopoese das Bild einer aplastischen Anämie oder eines myelodysplastischen Syndroms vermitteln.

Labordiagnostik: LDH erhöht, Bilirubin erhöht, Haptoglobin erniedrigt, Hämoglobinurie. Sicherung der Diagnose durch Flowzytometrie. Es fehlen auf allen hämatopoetischen Zelllinien die GPI-verankerten Oberflächenproteine (CD55/CD59-Mangel). Zellen mit normaler Expression werden Typ I-Zellen, diejenigen mit teilweisem Verlust Typ II-Zellen und solche mit kompletten Verlust als Typ III-Zellen bezeichnet. Während bei unbehandelten Patienten der direkte Coombs-Test negativ ist (da alle roten Blutzellen, die C3 gebunden haben, schnell lysiert sind) haben Patienten, die suboptimal mit dem C5-Inhibitor Eculizumab behandelt wurden, einen positiven direkte Coombs-Test /71/.

Hämolytisch urämisches Syndrom (HUS) /53/: Das HUS ist eine thrombotische Mikroangiopathie und durch hämolytische Anämie, Thrombozytopenie und akutes Nierenversagen charakterisiert. Unterschieden werden:

  • Eine mit Diarrhoe assoziierte Form D(+)HUS, getriggert durch eine intestinale Infektion mit Shigatoxin produzierenden E. coli O157:H7 aber auch anderen Subtypen wie O103; O111, O26. Sie machen etwa 95 % aller HUS-Fälle aus. Infizierte Rinder sind das Reservoir dieser entero-hämorrhagischen E. coli (EHEC). Die Prävalenz in Deutschland und Österreich beträgt 0,7/100.000 Kinder unter 15 J. und 1,5–1,9/100.000 Kinder im Alter unter 5 Jahren. Die infektiöse Dosis beträgt etwa 100 Keime. Oral aufgenommene Keime kolonisieren den Darm, durchbrechen die intestinale Barriere und gelangen in das Blut.
  • Eine sehr seltene mit Streptococcus pneumoniae assoziierte HUS (SPA-HUS) die mit Sepsis, Meningitis und Pneumonie mit Pleuraempyem einhergehen kann.
  • Die atypische HUS D(–). Sie beruht auf einer exzessiven Komplementaktivierung an renal-glomerulären und arteriolären Zellen. Ursache ist eine Mutation im Gen des Faktors B.

Das Risiko einer HUS nach Infektion mit Shigatoxin produzierenden E. coli beträgt 10–15 %, ist häufig selbst limitierend und bessert sich 1–3 Wochen nach Beginn der Erkrankung. In 10–20 % der Fälle kommt es jedoch zu einer bleibenden Reduzierung der GFR.

Labordiagnostik: Hämolytische Anämie mit einem Hb unter 100 g/l, fragmentierte Erythrozyten, Retikulozytose, Thrombozytopenie < 150 × 109/l und Creatinin über der Alters entsprechenden 97. Perzentilen, Erhöhung von Bilirubin und LDH, diese ist stark erhöht bei atypischem HUS. 

– Malaria /54/: Die Erkrankung wird ausgelöst durch den Biss der Anophelesmücke, sie gibt Sporozoiten in das Blut der betroffenen Person ab, die sich in der Leber festsetzen. Dort reifen Schizonten heran und von zerfallenden Schizonten treten Merozoiten in das Blut über und siedeln in den Erythrozyten. In der erythrozytären Phase können diese zwei Wege der Entwicklung gehen:

  • Den sexuellen Weg, der nach einem wiederholten Biss der Mücke die Transmission auf andere Personen ermöglicht.
  • Den asexuellen Weg. Bei diesem entwickelt sich der Merozoit in ein Ringstadium, das zum Trophozoiden reift und dann zum Schizonten. Dieser zerfällt und setzt zahlreiche Merozoiten frei, die wiederum weitere Erythrozyten befallen. Bei der P. falciparum Infektion ist das ein synchroner Prozess der jeweils 48 h dauert.

Labordiagnostik: Anämie, Haptoglobin Verminderung, LDH Erhöhung. Erniedrigung des Serumeisens und eine inadäquat niedrige Retikulozytose in Relation zur Anämie, Erhöhung von Ferritin. Bei den chronischen Formen liegt eine defekte Antwort der Erythropoese vor, möglicherweise durch eine verminderte Antwort auf Erythropoetin und eine verstärkte Erythrophagozytose. Weitere Malariabefunde siehe Kapitel 44 – Parasitosen.

– Wärmeautoantikörper induzierte hämolytische Anämie (wAIHA): Die wAIHA ist eine seltene Autoantikörper induzierte hämolytische Anämie. Die Pathologie wird hervorgerufen durch IgG-, IgA- und IgM Autoantikörper, die Komplementkomponenten gebunden haben können. Die Autoantikörper sind gegen eigene Erythrozyten gerichtet. Die Zerstörung roter Blutzellen (RBC) erfolgt durch FcγR tragende Effektorzellen. Das geschieht vorwiegend in der Milz durch Sequestrierung und Einfangen der RBC durch Makrophagen. Die wesentlichen Antigene sind Membranproteine der RBC. Die Ergebnisse einer Studie /68/ zeigen, dass die Fähigkeit der anti-RBC Autoantikörper zur Induktion von Phagozytose, Trogozytose und Antigen-abhängiger Zytotoxizität nicht auf deren Antigenspezifitär beruht, sondern dass der Schweregrad der hämolytischen Reaktion von der funktionellen Aktivität der Antikörper abhängig ist.

Blutungsanämie: Bei akuter Blutung erfolgt ein Verlust von Erythrozyten und Totalprotein, beide verhalten sich nicht gleichsinnig /45/. Unmittelbar nach akuter Blutung kommt es zu einer Rückverteilung von Erythrozyten aus kleinen Gefäßen, insbesondere aus der Milz und den Gefäßen im Bereich des Nervus splanchnicus. Blut, das zur Analytik aus den großen Gefäßen gewonnen wird, zeigt deshalb normale Hb- und Erythrozytenwerte. Erst nach 12–24 h erfolgt ein Abfall unter den Referenzbereich und der Nadir stellt sich nach 48–72 h ein. Nach 2–4 Wochen werden wieder die Werte vor der Blutung erreicht. Die Konzentration von Totalprotein sinkt nach 4–6 h ab, insbesondere wenn die Patienten nach dem Volumenverlust trinken. Der Nadir wird schon nach 12–24 h erreicht und nach 1–3 Wochen die Konzentration vor der Blutung. Anhand des Totalproteins kann die hämolytische Anämie von der akuten Blutungsanämie in den ersten 24 h differenziert werden. Bei ersterer ist Totalprotein normal und/oder bleibt konstant, bei letzterer erfolgt ein Abfall.

Labordiagnostik: Bei der Blutungsanämie fallen Hb-Konzentration, Erythrozytenzahl und Hkt proportional ab. Eine Retikulozytose ist am 2.–3. Tag messbar und erreicht nach 1–2 Wochen 15 %. Bei vergleichbaren Blutungen kann die Regeneration der internen Blutung schneller erfolgen als die der externen, da Eisen und Proteine konserviert werden.

– Postpartale Blutung /75/: Weltweit macht die postpartale Blutung etwa 8  % der mütterlichen Todesfälle in entwickelten und bis zu 20 % in nicht-entwickelten Regionen der Erde aus. Die postpartale Hämorrhagie ist als ein kumulativer Blutverlust von 1 Liter definiert. Typische Symptome wie Tachykardie und Hypotension treten erst beim Verlust von über 1,5 Litern auf. Der postpartale Blutverlust wird als primär bezeichnet, wenn er innerhalb von 24 Std. nach Entbindung auftritt und sekundär zwischen 24 Std. und bis zu 12 Wochen. Die Ursachen lassen sich durch die 4 T beschreiben (Tone = uterine atony, trauma = lacerations or uterine rupture, tissue = retained placenta or clots und thrombin [clotting factor deficiency]). Fällt das Hämoglobin unter 70–80 g/l werden 450 ml Erythozytenkonzentrat, 1 Einheit Fresh frozen plasma, 2 Einheiten Kryopräzipitat (Faktor VIII, Fibrinogen) und evtl. ein Hochkonzentrat Thrombozyten verabreicht.

Hyporegenerativ normozytäre Anämien: Hyporegenerative, normozytäre Anämien sind gewöhnlich normochrom mit geringen Abweichungen in der Erythrozytenmorphologie. Die Retikulozytenzahl ist gewöhnlich unter 40 × 109/l.

– Anemia of chronic disease (ACD): Die ACD tritt bei Infektion, chronischer Inflammation, chronischer Lebererkrankung, chronischer Nierenerkrankung und malignen Tumoren auf /55/. Auslöser der Anämie ist die durch IL-6 stimulierte Expression von Hepcidin im Rahmen einer Akute-Phase Reaktion. Die Wirkungen sind: Proliferationshemmung der Erythropoese, Verminderung der Eisenverfügbarkeit durch Hemmung des zellulären Eisenexporters Ferroportin in Makrophagen und Enterozyten. Anfangs sind die Erythrozyten normochrom, da die Erythroblasten zwar weniger Eisen über ihre Transferrinrezeptoren (TfR) aufnehmen, aber auch durch die Ferroportinblockade keines abgeben. Insgesamt besteht eine normochrome Anämie mit einem Hb von 100–120 g/l. Die Transferrinsättigung ist < 20 %, Ferritin > 100 μg/l, der sTfR normal, CRP oft > 5 mg/l. Im internistischen Krankengut hat die ACD einen Anteil von 40–70 % an den Anämien. Zu 10–20 % geht die ACD in eine leicht mikrozytäre hypochrome Verlaufsform über, bedingt durch eine Eisen-restriktive Erythropoese (ACD/IRE) mit Ferritinwerten < 100 μg/l. Ursache ist entweder eine Blutung oder eine Hepcidin bedingte längerfristig verminderte intestinale Eisenabsorption (siehe auch Beitrag 7.6 – Hepcidin). Empfindliche Indikatoren für die Erkennung einer IRE bei ACD sind der Hb-Gehalt der Retikulozyten (CHr, Ret-He) < 28 pg und ein Anteil hypochromer Erythrozyten (% HYPO) > 5 % /56/. Die Korrektur des Hb kann durch Behandlung des Grundleidens oder die Therapie mit ESA erfolgen. Die ACD schließt Anämien ein, die durch Niereninsuffizienz, Störungen der Leberfunktion und endokrine Störungen bedingt sind.

– Tumoranämie /57/. Etwa 39 % der Tumorpatienten haben bei der Diagnose eine Anämie und 68 % während der folgenden 6 Monate /58/. Die mittleren Hb-Werte betragen 100–120 g/l, relativ selten fällt der Hb < 80 g/l. Bei Tumorpatienten sind die ACD und die Chemotherapie induzierte Anämie die wesentlichen Ursachen der Anämie, die durch chronischen Blutverlust und Mangel an Nahrungseisen noch verstärkt wird. Tumorpatienten mit Anämie haben ein um 65 % erhöhtes Mortalitätsrisiko /59/ und verursachen eine 4 fache Erhöhung der Behandlungskosten. Von den Patienten mit soliden Tumoren haben diejenigen mit kolorektalem Ca, Bronchial-Ca und Ovarial-Ca die höchste Anämieprävalenz und den höchsten Transfusionsbedarf. Bei Patienten unter Chemotherapie besteht eine direkte Korrelation von Hb-Wert und Lebensqualität. Folgende Faktoren können die Tumoranämie verursachen:

  • Direkt Tumor bedingt, z.B. Blutverlust, Hämolyse, Hypersplenismus, Knochenmarkinfiltration.
  • Indirekter Natur, bedingt durch Chemotherapie, Strahlentherapie oder eine Komplizierung durch die ACD, was besonders der Fall bei soliden metastasierenden Tumoren ist. Oft besteht dann auch eine Erhöhung des CRP. Etwa ein Drittel der Tumorpatienten hat eine CRP-Erhöhung, definiert als Wert über 8 mg/l.

Zum Management von Anämie und Eisentherapie wird empfohlen /61/:

  • Transfusion von Erythrozytenkonzentrat bei Patienten mit Hb-Werten unter 70–80 g/l
  • Intravenöse Eisentherapie bei Ferritinwerten unter 100 μg/L und einer Transferrinsättigung unter 20 % bei Patienten mit Hb-Werten von 80–100 g/l

– Aplastische Anämie /62/: Die aplastische Anämie ist eine Panzytopenie mit nicht funktionierendem Knochenmark. Alle Zellen der Hämatopoese sind erniedrigt. Symptome sind Müdigkeit, Tachykardie, Dyspnoe, Ecchymosen, mukokutane Blutungen und Nasenbluten. Die Inzidenz ist 2–6 Fälle pro 1 Mio. und Jahr. Die Altersverteilung ist biphasisch mit Gipfeln von 15–25 J. sowie ≥ 60 J. Das Knochenmark ist hypozellulär und hämatopoetische Zellen sind durch Fettzellen ersetzt. Ursachen sind: Idiopathisch (70 %), SLE, Sjögren-Syndrom, rheumatoide Arthritis, Myasthenia gravis, Medikamente (Phenytoin, Azathioprin, Isoniazid, Thyreostatika), Parvovirus B19, B-Zell-lymphoproliferative Erkrankungen.

Labordiagnostik: Normozytäre, normochrome Anämie und zwei weitere der im folgenden genannten Zytopenien: ‚Leukopenie ≤ 3,5×109/l (Neutrophile ≤ 0,5×109/l), Thrombozyten < 20×109/l, Retikulozyten < 1 %.

– AIDS: Zytopenien sind selten in frühen Stadien der HIV-Infektion und kommen nur bei klinisch ausgeprägter AIDS-Erkrankung vor.

Labordiagnostik: Mehr als 70 % der Patienten haben eine meist normochrome, normozytäre Anämie. Eine Leukopenie liegt zu 70 %, eine Thrombozytopenie in 40 % der Fälle vor. Die Hb-Konzentration beträgt gewöhnlich 90–100 g/l. Es bestehen Störungen im Eisenstoffwechsel wie bei der ACD mit niedrigem Eisen, hohem Serumferritin und einer erniedrigten Transferrinsättigung /63/.

– DOCK11 Mangel /78/: Der Dedicator of cytokinesis Nr 11 (DOCK11) hat in der Dynamik des Zytoskeletts eine Bedeutung durch die Aktivität des Guaninnukleotid-Austauschfaktors (GEF) der kleinen Rho Guanosintriphosphatasen (GTPasen) und dem Zellteilungszyklus 42 (CD42). Klinisch beinhaltet der DOCK11 Mangel Phänotypen, die mit der CD42 Mutation assoziiert sind, z.B. wiederkehrende Infektionen, Fehlregulation des Immunsystems, normozytäre Anämie, Anomalien und Abnormitäten der Thrombozyten und der neurologischen Entwicklung. Nicht vergleichbar ist der DOCK11 Mangel mit Patienten, die eine CD42-Mutationen haben. Diejenigen mit DOCK11 Mangel haben keine facialen Abnormitäten, keine Neutropenie, keine Monozytopenie oder hämorrhagische Lymphohistiozytose. Die erythroide Hypoplasie der DOCK11 Patienten beruht auf einem Defekt des Knochenmarks und einem Differenzierungsdefekt der DOCK11 CD34+-Nabelschnur-Blutzellen.

DOCK11 mangelnde T-Zellen zeigen eine verminderte transendotheliale Migration in vivo und in vitro, aber auch eine erhöhte Geschwindigkeit unter Begrenzung, die vermuten lässt, dass DOCK11 in die Diapedese und die interstitielle Migration involviert ist. Auch eine Autoinflammation wurde bei mehreren Mangelzuständen von Actin beobachtet und mit einer erhöhten Inflammasom-vermittelten Sekretion von Interleukin-1β und Interleukin 18 in Verbindung gebracht.

Tabelle 15.3-12 Ursachen hämolytischer Anämien

  • Antikörper-vermittelt: Idiopathisch, Medikamente, Infektionen, Isoimmunisierung, Transfusionsreaktion, lymphoproliferative Erkrankung, rheumatische Erkrankung.
  • Mechanisch: Künstliche Herzklappen, Implantate, Vaskulitis (mikroangiopathische Hämolyse), arterio-venöse Fehlbildungen.
  • Störungen der Hämoglobinsynthese oder Hämoglobinstruktur.
  • Erythrozytenenzymdefekte, Erythrozytenmembrandefekte.
  • Verschiedenes: Marschhämoglobinurie, parasitäre Infektionen, Schlangengifte, thermische Schädigung.

Tabelle 15.3-13 Laborbefunde bei Sichelzellanämie, mit freundlicher Genehmigung nach Lit. /39/

Hb-Variante

Hb (g/l)

Hkt

MCV (fl)

Retik. (%)

ISC

Anteile der Hb-Varianten

HbSS

60–100

0,20–0,30

80–90

10–15

4+

80–95 % S, 2–20 % F, 2–4 % A2

HbS/β0-Thal.

60–100

0,20–0,30

60–70

10–15

3+

75–95 % S, 2–20 % F, 3–6 % A2

HbS/β+-Thal.

80–120

0,30–0,36

65–75

3–6

1+

50–85 % S,10–30 % A,2–20 % F, 3 % A2

HbSC

100–120

0,30–0,36

70–80

5–10

1+

50 % S, 50 % C

ISC, irreversible Sichelzellen, mit mikroskopischer Nachweisbarkeit

Tabelle 15.3-14 Klassifikation und Differenzierung der makrozytären Anämien

Folsäure-Mangel, Vitamin B12-Mangel, Antimetaboliten (Folsäure-, Purin-, Pyrimidin-Analoga) in der Tumortherapie /7/: Es resultiert eine verzögerte Purin- und Pyrimidinsynthese, wodurch die DNA-Replikation im Zellkern gestört ist. Jedoch laufen RNA- und Protein (Hb)-Synthese weiter, wodurch charakteristische Veränderungen der Hämatopoese resultieren. Die verminderten Zellteilung führt bei gleichbleibender Zytoplasmabildung zur Bildung größerer Zellen. Typische Veränderungen des Blutbildes sind Panzytopenie, ein MCV ≥ 105 fl, MCH normal oder erhöht, MCHC erniedrigt oder niedrig-normal, Hypersegmentierung polymorphkerniger Granulozyten. Da mit dem Zellvolumen der Hb-Gehalt nicht proportional zunimmt, ist das MCH hoch-normal aber die MCHC niedrig-normal. Deshalb sind makrozytäre Erythrozyten bezugnehmernd des MCH hyperchrom und bezugnehmend des MCHC hypochrom. Den Erythrozyten fehlt die zentrale Aufhellung, weshalb sie einen hyperchromen Eindruck machen. Auf Grund der ineffektiven Erythropoese ist die LDH erhöht. Die Retikulozytenzahl ist vermindert, kann aber bei einer Blutung erhöht sein. Die Kombination von Eisen-, Vitamin B12- oder Folsäuremangel täuscht einen normalen MCV Wert vor, wenn die Kurve der Erythrozytenverteilungsbreite nicht beurteilt wird.

Chronischer Alkoholismus, Lebererkrankung: Beim chronischen Alkoholismus und chronisch aktiven Lebererkrankungen beruht die DNA-Synthesestörung ebenfalls auf einer mangelnden Verfügbarkeit von Folsäure und Vitamin B12.

Kongenitale dyserythropoetische Anämie (CDA) /6465/: Die CDA sind eine Gruppe hereditärer Störungen mit einem Reifungsstillstand der Erythropoese und einer verminderten Retikulozytenzahl. Das Knochenmark ist hyperplastisch. Anhand der Knochenmarkzytologie werden drei CDA Typen unterschieden. CDA I und CDA II sind autosomal rezessive Erkrankungen. Die CDA III ist eine autosomal dominante Erkrankung mit großen vielkernigen Erythroblasten im Knochenmark. Während die CDA I Abnormitäten in der Chromatinstruktur zeigt, haben Patienten mit CDA II eine deutliche Vermehrung von zwei- und mehrkernigen Erythroblasten im Knochenmark.

CDA I: Der Hb-Wert ist 90–110 g/l das MCV 100–120 fl. Es bestehen eine hämolytische Anämie mit inadäquat niedriger Retikulozytenzahl, ein milder Ikterus, Haptoglobin ist niedrig. Das Knochenmark ist hyperzellulär und enthält 30–60 % frühe und späte polychromatische Erythroblasten mit abnormer Größe und Gestalt des Kernes. Die Proerythroblasten und frühen basophilen Erythroblasten sind normal. Typisch sind inkomplett geteilte Zellen mit Chromatinbrücken zwischen zwei Erythroblasten.

CDA II: Die Patienten haben Anämie, Ikterus (90 %), Splenomegalie (70 %) und Hepatomegalie (45 %). Die Anämie ist normozytär mit Anisozytose und Poikilozytose, bei Kindern leichte Erhöhung des MCV, die Retikulozytenzahl ist normal bis leicht erhöht. Das Knochenmark ist hyperzellulär aber normoblastisch und enthält 10–35 % binukleärer Erythroblasten.

Die Diagnose der CDA beruht auf der Untersuchung der Erythroblasten im Knochenmark. Es zeigen sich Chromatinbrücken zwischen den Nukleoli der Erythroblasten und ein schwammiges dem Schweizer Käse ähnelndes Chromatin bei der CDA I, zweikernige Zellen und Retikulumreste bei der CDA II und eine medulläre Hyperplasie mit Präsenz von Riesenerythroblasten mit bis zu 10 Nukleolen bei der CDA III.

Labordiagnostik: Makrozytose, hyporegenerative Anämie mit Verminderung der Retikulozytenzahl, intermittierende Bilirubinämie, Haptoglobinverminderung, LDH Erhöhung, atypische Elektrophorese der Proteine der Erythrozytenmembran.

Tabelle 15.4-1 Formeln zur Bestimmung und Berechnung des Hämatokrits

Berechnung der relativen Zentrifugalkraft (RCF):

RCF (gn) = 0,00001118 × r × N2

n, Schwerkraft (gravity); r, Durchmesser des Rotors in cm; N; Umdrehungszahl in rpm

Berechnung des Hämatokrits (Hkt):

Hkt = Länge der roten Blutzellsäule (mm) Länge der gesamten Blutsäule (mm)

Hämatologie Analyzer bestimmen die Anzahl bestimmter Impulse Im Erythrozytenkanal und dividieren sie durch die Gesamtzahl der Impulse. Die Berechnung erfolgt nach der Gleichung:

Hkt = MCV (fl) × RBC (l) 10 15

Tabelle 15.4-2 Referenzbereiche des Hämatokrits

Erwachsene

Fraktion

Relativ %

  • Kaukasier /2/

0,42 (0,36–0,48)

42 (36–48)

0,46 (0,40–0,53)

46 (40–53)

  • Schwarze /1/

0,38 (0,34–0,43)

38 (34–43)

0,42 (0,34–0,48)

41 (34–48)

  • Athleten /3/

0,41 (0,37–0,45)

41 (37–45)

0,45 (0,40–0,50)

45 (40–50)

Angabe als Fraktion links und Relativprozent rechts. Angegeben sind x ± 2s bzw. der Bereich der 5–95 %-Perzentile bei Schwarzen.

Feten /4/

  • SSW 15

0,28–0,42

(28–42)

  • SSW 16

0,34–0,42

(34–42)

  • SSW 17

0,31–0,43

(31–43)

  • SSW 18–21

0,31–0,45

(31–45)

  • SSW 22–25

0,31–0,47

(31–47)

  • SSW 26–29

0,32–0,50

(32–50)

  • SSW ≥ 30

0,30–0,58

(30–58)

Neugeborene /56/

  • Nabelschnurblut 0,48–0,56 (48–56)
  • Venöses Blut; 2 h nach Entbindung 0,49–0,71 (49–71)
  • Venöses Blut; 6 h nach Entbindung 0,44–0,68 (44–68)

Kinder /78/

  • 2–6 Tg.

0,40–0,70

(40–70)

  • 1–2 Wo.

0,38–0,70

(38–70)

  • 2–3 Wo.

0,38–0,60

(38–60)

  • 3–7 Wo.

0,36–0,46

(36–46)

  • 7–12 Wo.

0,30–0,38

(30–38)

  • 10–12 Mon.

0,35–0,43

(35–43)

  • 4–5 J.

0,32–0,40

(32–40)

  • 6–8 J.

0,32–0,41

(32–41)

  • 10–13 J.

0,34–0,44

(34–44)

  • 14–16 J.

0,35–0,43 s

(35–43)

0,38–0,49

(38–49)

Angaben als Fraktion und in Klammer in Relativprozent. Angegeben sind x ± 2s bzw. die zentrale 95 %-Masse.

Tabelle 15.4-3 Erkrankungen und Zustände mit einem verminderten Hkt

Schwangerschaft (SS): In den ersten beiden Trimestern der SS kommt es zu einer Hydrämie und Hämodilution mit disproportionalem Anstieg des Plasmavolumens. Die Erythrozytenmasse nimmt um 30 % zu, das Plasmavolumen um 50 %. Es resultiert ein relativer Abfall des Hkt um 25–30 % und ein Abfall des Hb um 20–40 g/l. In einer Studie /26/ betrug der Hkt bei Nichtschwangeren 0,34–0,43, bei Schwangeren im 1. Trimenon 0,31–0,41, im 2. Trimenon 0,30–0,38 und im 3. Trimenon 0,28–0,39.

Leistungssportler: Sie können einen verminderten Hkt und einen erniedrigten Hb-Wert haben. Diese als Anämie der Leistungssportler bezeichnete Pseudoanämie beruht auf einer Vermehrung des Plasmavolumens bedingt durch eine physiologische Adaption /26/.

Blutverlust: Unmittelbar nach akutem Blutverlust ist der Hkt bei niedrigem Blutvolumen normal. Nach 12–36 h normalisiert sich die Blutmenge wieder, da Flüssigkeit aus dem interstitiellen und dem intrazellulären Raum nachfließt. Als Folge sinkt der Hkt kontinuierlich und parallel mit dem Hb-Wert ab. Ein Hkt-Abfall von 0,03 entspricht einem Hb-Abfall von 10 g/l. Die einmalige Hkt-Bestimmung erlaubt nur begrenzt die Abschätzung des Volumenverlusts, besser ist die Beurteilung des Verlaufs /27/.

Bei einem Blutverlust mit Absinken des Hkt unter 0,30 ist die Entscheidung zur Transfusion von Erythrozytenkonzentraten, insbesondere bei älteren Patienten und solchen mit Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, zu treffen. Jüngere Patienten mit normalem Herz-Kreislaufsystem tolerieren oft ohne hypoxämische Organschädigung den isovolämischen Abfall des Hkt auf 0,30–0,20, entsprechend einem Hb-Wert von 60–70 g/l. Bei Transfusion eines Erythrozytenkonzentrates mit 300 ml Volumen und einem Erythrozytenanteil von 200 ml ist bei einem 70 kg schweren Erwachsenen mit einem Anstieg des Hkt von 0,03 zu rechnen. Die Anzahl der EK, die transfundiert werden müssen und der Hkt, der nach Gabe einer Anzahl von Erythrozytenkonzentraten erreicht werden kann, ist nach den in Tab. 15.4-4 – Berechnung von Erythrozytenkonzentraten (EK) in Abhängigkeit vom Hkt aufgezeigten Gleichungen kalkulierbar /28/.

Nach Transfusionen oder Infusionen treten, abhängig von der Art des Blutproduktes oder der Infusion, Flüssigkeitsverschiebungen unterschiedlichen Ausmaßes zwischen Intra- und Extrazellulärraum auf. Erst nach 24 h ist ein entsprechender Ausgleich vorhanden und der Hkt erlaubt die Beurteilung der Blutzusammensetzung.

Vermehrung des Plasmavolumens: Zustände mit Vermehrung des Plasmavolumens, z.B. intraoperative Hyperhydratation durch Plasmaexpander oder internistische Erkrankungen, die eine Expansion des Plasmavolumens bewirken, wie z.B. der primäre Hyperaldosteronismus, führen zu einem Abfall des Hkt und einer Anämie. Etwa die Hälfte der Anämien können aufgrund einer Hämodilution anstatt einer Verminderung der Erythrozytenmasse erklärt werden. Eine Anämie durch Hämodilution geht nicht mit einer Erhöhung von Erythropoetin einher, wohl aber eine echte Anämie (Verminderung der Eryrhrozytenmasse) /39/.

Präoperative Anämie: Siehe auch Beitrag 19.2 – Oxidativer Stress. Die Mortalität von Patienten mit nicht kardialer Chirurgie innerhalb 30 Tagen nach Operation wurde in Abhängigkeit vom präoperativen Hkt im Vergleich zu operierten Patienten mit normalem Hkt untersucht. Bei milder Anämie (Hkt Frauen < 0,36 bis > 0,29; Männer < 0,39 bis > 0,29) und moderater bis schwerer Anämie (Hkt ≤ 0,29 für Männer und Frauen) betrug die Odds Ratio für postoperative Mortalität 1,41. Kam ein weiterer Risikofaktor hinzu, war die Odds-Ratio für Morbidität und Mortalität höher als bei Anämie oder einem Risikofaktor allein /29/. Jede perioperative Transfusion, auch nur von einem Erythrozytenkonzentrat erhöht die Morbidität und Mortalität /30/.

Tabelle 15.4-4 Berechnung erforderlicher Erythrozytenkonzentrate (EK) in Abhängigkeit vom aktuellen Hkt /28/

Anzahl der EK (nEK), die bei aktuellem Hkt (Hkta) transfundiert werden müssen, um einen gewünschten Hkt (Hktw) zu erreichen:

nEK = BV × (Hkt w – Hkt a ) 20.000–300 × Hkt w

Zu erwartender Wert des Hkt (%) [HktW] nach Gabe einer Anzahl von EK (nEK):

Hkt w = BV × Hkt a + nEK × 200 × 100 BV + nEK × 300

Erklärung: Ein EK enthält 300 ml Volumen und 200 ml Erythrozyten. Hkta = aktueller Hkt, Angabe des Hkt in %. BV ist das geschätzte normale Blutvolumen einer Person und wird wie folgt berechnet:

BV (ml) = Körpergewicht in kg × 67

BV (ml) = Körpergewicht in kg × 77

Tabelle 15.4-5 Erkrankungen und Zustände mit erhöhtem Hkt

Polycythemia vera (PV) /31/: Die myeloproliferativen Neoplasien (PV, essentielle Thrombozytose und primäre Myelofibrose) sind hämatopoetische Stammzellerkrankungen. Sie haben gemeinsame Mutationen, die physiologische Signalübertragungswege der Hämatopoese von der Zelloberfläche in den Zellkern aktivieren. Zusätzlich besteht ein phänotypisches Mimikry und jeder Typ der myeloproliferativen Erkrankung kann in einen anderen übergehen. Das macht die Diagnostik, die Risikobeurteilung und die Therapie schwierig /32/.

Die PV kann bei allen Menschen unabhängig vom ethnischen Hintergrund vorkommen, ist aber weitaus häufiger bei Kaukasiern als bei Asiaten. Die Inzidenz bei Kaukasiern beträgt 2–10 pro 1 Mio. Bevölkerung. Sie tritt meist im Alter zwischen 50–70 Jahren auf und bei Männern häufiger als bei Frauen. Die häufigsten Symptome sind thromboembolische (tiefe Venenthrombose, Schlaganfall, Herzinfarkt, Budd-Chiari-Syndrom, Mesenterialvenen-Thrombose) und Blutungskomplikationen (Epistaxis, orale mukosale Blutungen, nicht-spezifische Ekchymosen). Hyperviskositäts Syndrom durch Verlangsamung des Blutstromes und Mikrothromben verursachen Hypertonie, Kopfschmerz, Benommenheit, Sehstörungen, Schwindel, Tinnitus, Claudicatio und Erythromyalgie. Juckreiz tritt nach längerer Exposition in warmen Wasser auf durch Histaminfreisetzung aus aktivierten basophilen Granulozyten /31/. Über die Hälfte der Patienten hat eine Splenomegalie, nicht selten ist eine Gichtarthritis. Die WHO-Kriterien der PV zeigt Tab. 15.4-6 – World Health Organization diagnostische Kriterien der Polycythemia vera. Die Pathogenese der PV resultiert aus verschiedenen Mutationen:

  • Etwa 95 % der Patienten mit PV haben die JAK2 V617F-Mutation im Exon 14 des JAK2-Gens. Das von diesem Gen kodierte Enzym, die Januskinase, ist eine im Zytoplasma lokalisierte Tyrosinkinase, die an der Signalübertragung unterschiedlicher Zytokinrezeptoren, auch des EPO Rezeptors, beteiligt ist. Durch die Mutation wird die Aktivität der Januskinase erhöht was zu einer EPO unabhängigen Stimulierung der Erythropoese führt. Die Mutation ist erworben und kann auch bei primärer Thrombozythämie und primärer Myelofibrose nachweisbar sein.
  • Der Rest der Patienten hat Mutationen im Exon 12 des JAK2-Gens (JAK2 F537-K539delinsL, JAK2 H538QK539L, JAK2N542-E543del, JAK2 K539L). Patienten mit Exon-12 Mutationen haben höhere Erythrozytenwerte, aber niedrige Leukozyten- und Thrombozytenwerte als diejenigen mit der JAK2 V617F-Mutation.

Labordiagnostik /19/: Der Verdacht auf eine PV besteht bei einem Hkt über 0,52 bei Männern und über 0,48 bei Frauen und normozytären normochromen Erythrozyten. Differentialdiagnostisch bestimmt werden sollte die Sauerstoffsättigung. Ist letztere normal wird EPO bestimmt und Leukozyten auf die JAK2 V617F-Mutation untersucht. Eine PV liegt vor, wenn eine homozygote Mutation besteht und die Konzentration von EPO erniedrigt ist. Mehr als 40 % der Patienten haben eine Leukozytose über 12 × 109/l bzw. eine neutrophile Granulozytose über 10 × 109/l. Eine Thrombozytose über 400 × 109/l haben über 60 % der Patienten und mehr als 70 % eine Erhöhung von Vitamin B12 über 25 % des oberen Referenzbereichswerts. Die EPO Konzentration ist niedrig oder niedrig-normal. Die Blutkörperchen-Senkungsreaktion ist stark vermindert. Erhöht sein können Bilirubin und Harnsäure. Die Blutungszeit ist normal, die Globaltests der Gerinnung können auf Grund des erhöhten Hkt pathologisch sein, da das Verhältnis Antikoagulanz zu Plasma nicht mehr stimmt.

Primäre Erythrozytose /34/: Die primäre Erythrozytose, auch bekannt als primäre familiäre und kongenitale Polyzythämie (PFCP) beruht auf einer Störung der erythroiden Vorläuferzellen, denn diese zeigen eine Überempfindlichkeit gegenüber Erythropoetin (EPO). Jedoch ist die Erythropoese polyklonal und Patienten mit PFCP haben kein Risiko, dass die Erkrankung in eine Myelofibrose oder Leukämie übergeht /34/.

Der Erythropoetinrezeptor (EPOR) wird von den erythroiden Vorläuferzellen exprimiert. Die Transkription des Gens für EPO wird durch Mechanismen reguliert, die abhängig von Änderungen der Sauerstoffversorgung der Vorläuferzellen sind. Die Bindung von EPO an seinen Rezeptor führt zur Aktivierung des präformierten EPOR-JAK2-Komplexes und einer zum Zellkern gerichteten Signalkaskade. Sie besteht aus Signalüberträgern, Aktivatoren der Transkription (STAT), Phosphatidylinositol-3-Kinase/akt und Mitogen aktvierten Proteinkinasen. Aktivierte STAT bewirken die Homodimerisierung des EPOR in Gegenwart von EPO und die Autophosphorylierung von JAk2 erfolgt. Ist JAk2 aktiviert, werden spezifische Tyrosinreste phosphoryliert und bilden Anheftungsstellen for Adaptermoleküle der Signalübertragung. Siehe Abb. 15.4-2 – Homodimerer Rezeptor nach Bindung von Erythropoetin.

Etwa 20 Keimbahn heterozygote Nonsense und Frameshift Mutationen sind im Exon 8 des Gens von EPOR lokalisiert und als Auslöser der PFCP beschrieben. Alle führen zu einer Verstümmelung des C-terminalen Endes von EPOR. Der C-terminale Teil von EPOR enthält konservierte Tyrosinreste, die als Anheftungsstellen für positive und negative Regulatoren der EPOR Signalgebung dienen. Die EPO-Überempfindlichkeit der erythroiden Vorläuferzellen von PFCP Patienten wird deshalb in der Regel erklärt als ein Fehlen von negativen regulatorischen Domänen, die im C-terminalen Teil liegen.

Die EPO Hypersensitivität, die durch die EPOR-Mutante p.Gln434Profs*11 induziert wird, beruht auf der Präsenz eines veränderten C-terminalen Endes /34/. Letzteres erhöht die Homodimerizierung von EPOR, stabilisiert die Lokalisation an der Zelloberfläche und bewirkt eine Voraktivierung von EPOR und JAK2. Daraus folgt eine Überempfindlichkeit des EPOR für EPO

Labordiagnostik: Erythrozytose mit niedriger Knzentration an EPO. Gene panel sequencing verbessert die Diagnostk von Patienten mit Erythrozytose. Siehe Lit. /38/.

HämoglobinVarianten mit hoher Sauerstoffaffinität /19/: Hoch O2 affine Hämoglobine könne stabil oder instabil sein, und wenn sie O2 -Moleküle nicht rechtzeitig an die Gewebe abgeben, resultiert eine verstärkte EPO Sekretion und eine Erythrozytose. Mutationen in den Genen, die α-Ketten und β-Ketten des Hb kodieren, können zu Hämoglobinen mit hochaffiner Bindung von O2 führen. Die Sauerstoffbindungskurve des hochaffinen Hb ist nach links verschoben, so dass bei niedrigerem Sauerstoffpartialdruck die gleiche Sauerstoffsättigung vorliegt. Die Folge hochaffiner Hämoglobine ist, dass O2 in den peripheren Geweben nur vermindert abgegeben wird. In der Regel besteht in den Kapillaren bei einem Sauerstoffpartialdruck von 20 mmHg eine Sauerstoffsättigung von 35 %. Bei Hb-Varianten mit hoher Sauerstoffaffinität kann diese aber noch 60 % betragen.

Labordiagnostik: Erythrozytose und hohe oder inadäquat zum Hb-Wert hohe EPO Konzentration. Der Sauerstoffpartialdruck, bei dem eine 50 % ige Hb-Sättigung erzielt wird, ist niedrig. Beispiel: Kontrolle 27 mmHg, Patient 16,5 mmHg.

VHL-Genmutation /19/: Bei diesen Patienten liegt eine autosomal rezessiv vererbte Mutatation im Von-Hippel-Lindau (VHL)-Gen vor. Durch die Mutation C598T wird im VHL Protein in Position 200 die Aminosäure Arginin durch Tryptophan ausgetauscht. Das VHL Protein reguliert in den peritubulären Fibroblasten der Niere den Abbau des Hypoxie induzierbaren Faktors 1 (HIF-1), der eine α- und eine β-Untereinheit besitzt. HIF-α spielt eine zentrale Rolle. Ist die O2-Sättigung normal, werden die α-Ketten von HIF-1 durch Bindung des VHL Proteins und Ubiquinierung degradiert und die Synthese von EPO ist normal. Bei Hypoxie assoziiert HIF-1α mit der β-Untereinheit, der Komplex bindet an Hypoxia responsive elements im Genom was zur vermehrten Bildung von EPO führt. Bei homozygoter Mutation im VHL-Gen hat das VHL-Protein eine reduzierte Aktivität, so dass α-Ketten bei normaler O2-Versorgung nicht degradiert werden (Abb. 15.4-3 – Beziehung zwischen Prolyhydroxylase, dem Transkriptionsfaktor HIF2α und dem von Hippel Lindau-Protein bei normaler Sauerstoffsättigung und Hypoxie). Dadurch wird verstärkt EPO gebildet. Die Erkrankung wird auch Chuvash-Erythrozytose genannt.

Labordiagnostik: Der Sauerstoffpartialdruck, bei dem eine 50 % ige Hb-Sättigung erzielt wird, ist niedrig. Inadäquat erhöhte Konzentration von EPO, Nachweis der VHL-Genmutation.

2,3-Diphosphoglyceratkinase Mangel /19/: In den Zellen wird im Verlaufe der Glykolyse 1,3-Diphosphoglycerat (1,3-DPG) zu 3-Phosphoglycerat unter Gewinnung von ATP abgebaut. Im Erythrozyten verläuft etwa 20 % des 1,3-DPG Abbaus über eine Zwischenstufe, das 2,3-DPG, vermittelt durch das Enzym 2,3-Diphosphoglyceratkinase. Siehe Abb. 15.3-2 – O2-Dissoziationskurven in Abhängigkeit von PO2 und dem Gehalt roter Blutzellen an 2,3 DPG. Durch eine Mutation im Gen das die 2,3-Diphosphoglyceratkinase kodiert, ist die Aktivität des Enzyms niedrig oder fehlt. Es wird wenig oder kein 2,3-DPG gebildet, wodurch die O2-Bindung des Hb-Moleküls hoch bleibt (Abb. 15.4-4 – Wirkung des 2,3-Diphosphoglycerats auf die O2-Sättigungskurve). Die Gewebe werden vermindert mit O2 versorgt und kompensatorisch resultiert eine EPO-vermittelte Erythrozytose.

Labordiagnostik: Erythrozytose, Sauerstoffpartialdruck, bei dem eine 50 %ige Hb-Sättigung erzielt wird, ist niedrig. Inadäquat erhöhte EPO-Konzentration, Nachweis der DPG-Genmutation.

Neugeborene: Diese haben sofort nach der Entbindung einen Hkt ≤ 0,56 im Nabelschnurblut und ≤ 0,70 im venösen Blut 2 h später /56/. Höhere Werte weisen auf eine abnorme Flusskinetik (Hyperviskosität) hin. Andere Autoren wählen einen Grenzwert von 0,65. Nach einer Studie /35/ haben nur 47 % der Neugeborenen mit einem Nabelschnur-Hkt über 0,65 eine Hyperviskosität und nur 23 % derjenigen mit Hyperviskosität haben eine Polycythämie. Die 2,3-DPG Konzentration in fetalen Erythrozyten ist niedriger als bei Erwachsenen, was eine Linksverschiebung der O2-Bindungskurve zur Folge hat. Somit kann das HbF den O2 mit hoher Affinität binden und in der Plazenta von den mütterlichen roten Blutzellen übernehmen.

Raucher: Die Raucher-Polycythämie beruht auf einer CO-Intoxikation, die zur Vermehrung der roten Blutzellmasse über eine Hypoxie führt und bei der auf Grund unbekannter Mechanismen zusätzlich das Plasmavolumen vermindert ist /21/. Diese Personen haben oft eine Leukozytose über 10 × 109/l.

Erworbene PolyZythämien: Die erworbenen Erythrozytosen werden in zentral und lokal vermittelte hypoxische Prozesse differenziert. Sie gehen mit einer Erhöhung der EPO Konzentration einher und führen nicht wie die PV zu einer Erhöhung von Thrombozyten und Leukozyten.

– Zentral bedingte Hypoxämie /21/: Es liegt eine Polycythämie, bedingt durch eine mangelnde arterielle Sauerstoffsättigung, vor. Eine Sättigung unter 92 % wird als niedrig angesehen. Ursachen sind der Aufenthalt in großer Höhe (über 3.000 m), chronisch respiratorische Erkrankungen, intrathorakale Rechts-Links-Shunts, Schlafapnoe, CO-Vergiftung, Störung der Zellatmung durch Vergiftung mit Kobalt oder Cyaniden.

– Lokal bedingte hypoxische Vorgänge: Eine mangelnde O2-Versorgung der O2-Sensoren der Nieren durch Störung der renalen Funktion resultiert in einer erhöhten EPO Synthese und Erythrozytose. Das ist der Fall bei Nierenarterienstenose, im Endstadium der chronischen Nierenerkrankung, bei polyzystischer Nierenerkrankung, Hydronephrose und nach Nierentransplantation.

– Posttransplantations-Erythrozytose (PTE): Die PTE ist eine Komplikation der Nierentransplantation, die in einer Inzidenz von 5–17 % beschrieben wird /36/. Mehrere Monate nach Transplantation kommt es zu einem Anstieg des Hkt, der bis über 0,60 geht und Phlebotomien erforderlich macht. In solchen Fällen können thromboembolische Komplikationen auftreten. Oft ist die Erythrozytose transienter Natur. Die Ursache der inadäquat hohen EPO-Sekretion in Relation zum Hkt ist unbekannt.

Autonome EPO-Synthese: Eine Polyzythämie wird paraneoplastisch gefunden beim cerebellaren Hämangioblastom, Meningeom, Nebenschilddrüsenkarzinom, hepatozellulären Karzinom, Nierenzellkarzinom, Phäochromozytom, Leiomyosarkom des Uterus /19/.

ESA-Therapie: Die exogene Zufuhr von Erythropoese stimulierenden Substanzen (ESA) im Sinne des EPO-Doping führt vergleichbar dem Höhentraining zu einer Erythrozytose. Auch das Androgen-Doping führt zu einer Erythrozytose.

ThromboseRisiko: Einige mit erhöhtem Hkt einhergehende Konditionen wie die Polycythämia vera, die kongenitale Erythrozytose, die primäre familiäre und kongenitale Polycythämie oder Erythrozytose oder Mutationen des Rezeptors von Erythropoetin gehen mit thrombotischen Ereignissen einher. Diese Konditionen sind aber mit metabolischen und zellulären Ereignissen assoziiert, die direkt das thrombotische Risiko erhöhen, unabhängig von einem erhöhten Hämatokrit /33/.

Table 15.4-6 WHO diagnostische Kriterien der Polycythemia vera /20/

Marker

Kriterium

A1

Erythrozytenmasse > 25 % des normalen vorhersagbaren Werts, oder Hb > 185 g/L bei Männern und > 165 g/L bei Frauen

A2

Kein Hinweis auf sekundäre Erythrozytose, auch keine familiäre Erythrozytose; keine Hypoxie-bedingte Erhöhung von Erythropoetin (arterieller PO2 < 92 %), keine erhöhte Sauerstoffaffinität von Hb, kein verstümmelter Erythropoetin Rezeptor, keine inadäquate Erythropoetin Produktion durch einen Tumor

A3

Splenomegalie

A4

Andere klonale genetische Abnormalität als Ph Chromosom oder BCR/ABL Fusionsgen in Knochenmarkszellen

A5

Endogene erythroide Koloniebildung in vitro

B1

Thrombocytose > 400 × 109/L

B2

WBC > 12 × 109/L

B3

Im Knochenmark Vermehrung der Zellinien, besonders prominente erythroide and megakaryozytäre Proliferation

B4

Niedriges Erythropoetin im Serum

Eine Polycythemia vera ist diagnostiziert, wenn A1 + A2 und ein

anderes A, oder A1 + A2 und 2 B-Merkmale vorliegen.

Hb, Hämoglobin; Ph, Philadelphia; WBC, weiße Blutzellen

Tabelle 15.5-1 Substanzen, die eine Methemoglobinämia induzieren können /5/

Lokalanästhetika

Nitrite/Nitrate

Analgetika

Antibiotika

Verschiedenes

Benzocain

Lidocain

Procain

Nitrat haltiges Wasser (Säuglinge)

Natriumnitrit

Nitroglycerin

Amylnitrit

Butylnitrit

Isobutylnitrit

Primaquin

Phenazo-pyridin

Phenacetin

Dapson

Sulfanilamid

Sulfathiazol

Anilinfarbstoffe

Chlorate

Nitrobenzole

Aminophenol

Celecoxib (Cox-2 Inhibitoren)

Tabelle 15.5-2 Korrelation klinischer Symptome mit dem MetHb Anteil /7/

MetHb Anteil (%)

Symptomatik

< 15

Gewöhnlich asymptomatisch

15–20

Zyanose, Kopfschmerz, Benommenheit

20–45

Deutliche Zyanose, Übelkeit

45–70

Schwere Zyanose, Erbrechen, Konfusion, Anfälle

> 70

Gewöhnlich Tod

Tabelle 15.5-3 COHb Anteil und klinische Symptomatik /8/

COHb (%)

Klinische Symptomatik

0–10

Keine wesentlichen Beschwerden (Raucher).

10–15

Keine wesentlichen Beschwerden, eventuell Kurzatmigkeit bei körperlicher Anstrengung (starke Raucher).

15–25

In Ruhe meist keine Wirkung, Kurzatmigkeit bei körperlicher Anstrengung, eventuell Schwindel und Kopfschmerz; Erweiterung der Hautkapillaren.

25–35

Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Pulsbeschleunigung, Reizbarkeit, Störung der Urteilsfähigkeit, leichte Ermüdbarkeit, Sehstörungen.

35–45

Wie bei 25–35 %, jedoch verstärkt und dazu Verwirrtheitszustände, Lähmungserscheinungen, Ohnmacht schon bei leichter Anstrengung.

45–55

Starke Einschränkung des Bewusstseins bis Bewusstlosigkeit, Anstieg von Atem- und Pulsfrequenz, Kollaps, Todesgefahr bei längerer Einwirkung.

55–65

Zusätzliche Krämpfe, Atemlähmung.

ab 65

Unmittelbare Todesgefahr.

Tabelle 15.5-4 Hämolyse und freies Hämoglobin im Plasma

Klinische Befunde und Laborbefunde

Extrakorporale Membranoxigenierung (ECMO) /20/:

Die ECMO ist eine das Leben erhaltende Unterstützung von kritisch Kranken. Drei Aspekte sind pathophysiologisch bei einer kurz dauernder Behandlung durch ECMO zu beachten:

  • Erhöhung des Gefäßtonus. Liegt freies Hb vor, so reagiert es mit NO und katalysiert die Umwandlung von NO zu Nitrat. Das ist der Fall, wenn Sauerstoff-haltiges Hämoglobin in einem Eisen-NO Komplex vorliegt oder wenn nicht Sauerstoff-haltiges Hb involviert ist. In beiden Fällen resultiert eine Verminderung an NO. Da NO ein wesentlicher Regulator des Tonus (Vasodilator) der vaskulären glatten Muskulatur ist, bewirkt eine niedrige NO-Konzentration eine Vasokonstriktion. Das erhöht sowohl den systemischen Widerstand der Gefäße, als auch den pulmonalen Gefäßwiderstand /25/.
  • Die verstärkte Aktivierung von Thrombozyten und erhöhte Tendenz der Blutgerinnung. Beim Mangel an NO und Vorliegen von freiem Hb, kommt es zu einer Veränderung der Thrombozytenfunktion aufgrund eines durch NO-Verminderung veränderten Verhaltens des Gefäßendothels. Dadurch ist die Tendenz der Thombozyten zur Aggregation erhöht und die Gerinnung wird aktiviert. Freies Hb erhöht somit den prokoagulatorischen Status bei Erkrankungen mit Hämolyse; das ist z.B. der Fall bei der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie und der Sichelzell-Erkrankung.
  • Auftreten einer renal tubulären Toxizität: Häm enthaltende Proteine sind nephrotoxisch.

Alle pathologischen Veränderungen, die durch zirkulierendes freies Hb verursacht werden, sind mit einer erhöhten Morbidität und wahrscheinlich auch Mortalität assoziiert. Eine schwere Hämolyse kann bei der extrakorporalen Membranoxigenierung auftreten. Ein Gipfel an freiem Hb und ein erhöhter Creatininwert sollen ein akutes Nierenversagen ankündigen. Der starke Anstieg von freiem Hb (> 500 mg/l) in den ersten 24 Stunden nach Beginn der ECMO ist ein unabhängiger Indikator der Mortalität. In einer Studie /26/ hatten Patienten mit einem Wert des freien Hb > 300 mg/l eine 10-fach erhöhte Mortalität, die mit einer Verminderung der Nierenfunktion assoziiert war. Zwei wichtige Faktoren generieren eine Hämolyse und verstärken diese bei der ECMO: Thrombose (Head pump and oxygenator) und exzessiver mechanischer stress der Erythozyten (head pump) /20/.

Das Auftreten einer Hämolyse ist ein normales Ereignis bei der extrakorporalen Membranoxygenierung. Gewöhnlich ist die Hämolyse gering und nur eine tolerable Konzentration an freiem Hb (bis 100 mg/l) tritt auf.

Schwere Sepsis:

In einer Studie /27/ war bei Patienten, die eine schwere Sepsis nicht überlebten, die Konzentration von freiem Hb doppelt so hoch im Vergleich zu denjenigen, die überlebten (57 mg/l vs. 147 mg/l, Harboe Methode). Bei postoperativen Patienten betrug die Konzentration an freiem Hb 45–78 mg/l (ELISA). Die 30 Tage Überlebenszeit war bei Patienten mit hohem freien Hb deutlich niedriger als bei denjenigen mit niedrigeren Werten.

Massive Transfusion und/oder TRansfusion von längerzeitig gelagertem Blut /28/:

Bei massiver Transfusion unterliegt älteres Konservenblut einer verstärkten Hämolyse. Das auftretende freie Hb verursacht eine Schädigung der Gefäße und der Nieren.

Tabelle 15.6-1 Hematokrit Korrektur (RI) und Shift-Korrektur (RPI) /9/

RI (%) = Retikulozytenzahl × Hkt (%) 45 RPI = Retikulozyten (%) × Hkt (%) Tage bei Hkt 45

Tabelle 15.6-2 Erwartete untere Grenzwerte von RPI und Retikulozytenzahl in Abhängigkeit vom Hkt /16/

Hkt

Retikulozyten × 109

RPI

0,35

150

2–3

0,30

250

> 3

< 0,25

> 250

> 4

Table 15.6-3 Referenzbereiche der Retikulozyten

Kinder*

Relativ (%)

Absolut (109/l)

2,6 ± 1,0

72 ± 29

  • Reif Geborene /12/

2,4 ± 1,2

74 ± 26

5,3 ± 2,0

318 ± 50

  • 14 Tg.–1 J. /12/

2,0 ± 0,5

89 ± 23

2,0 ± 0,7

88 ± 20

2,2 ± 0,7

99 ± 28

2,1 ± 0,8

90 ± 27

  • 12 J. bis Erwachsenenalter /12/

2,3 ± 1,2

92 ± 25

Erwachsene /13/* manuell

0,4–2,3

(19–111) × 109/l

Erwachsene /14/**

Zahl (109/l)

  • Abbott CD 4000

30–117

31–115

  • Advia 120

25,9–97,5

36–101,1

  • Coulter LH 750

13,9–98,3

21,7–114,5

  • Horiba ABX, Pentra 12

27–91

39–113

  • Sysmex XE 2100

19,8–80,7

24,8–96,2

* Angabe von x ± s; ** Angabe der Perzentilen 2,5 und 97,5. Die unter Lit. /12/ angegebenen Werte gelten für die Flowzytometrie am FACSCalibur von Becton Dickinson. Da die Referenzbereiche vom Hämatologie-Analyzer abhängig sind, wurden für Erwachsene die Bereiche von 5 bekannten Herstellern angegeben.

Tabelle 15.6-4 Erkrankungen und Zustände mit Retikulozytose /17/

Akute Blutung: Nach einer akuten Blutung sind der Zeitpunkt des Auftretens der Retikulozytose und das Ausmaß von der Höhe des Blutverlustes abhängig. Anstieg am 2.–3. Tag, Retikulozytose von 5–15 %.

Hämolytische Anämie: Akute hämolytische Anämien weisen hohe Retikulozytenzahlen auf, ohne dass klinische Zeichen vorliegen müssen. Retikulozytosen über 50 % werden bei autoimmunhämolytischen Anämien gesehen. Bei effizienter Therapie mit Kortikosteroiden fällt die Retikulozytenzahl in wenigen Tagen. Erworbene, leichte hämolytische Syndrome können mit normalem Hb und einer Retikulozytose von 2–5 % einhergehen.

Angeborene hämolytische Anämien haben, außer dem G6-PDH Mangel, ein verändertes Volumen der Erythrozyten, die Retikulozytenzahl ist leicht erhöht.

Der Pyruvatkinase Mangel, eine autosomal vererbte, chronisch hämolytische Anämie, hat eine große Variabilität des klinischen Schweregrades und eine Retikulozytose bis zu 50 %. Nach Splenektomie kommt es zu einer dauerhaften Retikulozytose, die 50–100 % betragen kann /22/.

Hypersplenismus: Es liegt eine normozytäre, leichte hämolytische Anämie vor. Die Retikulozytenzahl ist leicht erhöht, im Blutausstrich treten in einem Teil der Fälle Polychromasie und Erythroblasten auf.

Behandlung von Mangelanämien: Die Hyperregeneration der Erythropoese bei Behandlung des Eisen-, Folat-, Vitamin B6- und Vitamin B12-Mangels wird innerhalb 1–2 Wochen durch den Anstieg der Retikulozyten angezeigt. Nach 2–4 Wochen wird eine maximale Retikulozytose von 10–20 % erreicht.

Athleten, Erythropoese stimulierende Agentien (ESA) /23/: Top-level Athleten haben eine normale Retikulozytenzahl, aber häufig eine erhöhte immature reticulocyte fraction (IRF), bedingt durch eine Aktivierung der Erythropoese auf Grund einer leichten Hämolyse durch die sportlichen Aktivitäten. 36 h nach einer Bolusinjektion von ESA steigt die IRF an, erreicht nach 3–4 Tagen Maximalwerte und normalisiert nach 7 Tagen. Die Lebenszeit der Retikulozyten in der Zirkulation ist von 1,7 auf 3,4 Tage verlängert. Insgesamt resultiert eine Erhöhung der Retikulozytenzahl um den Faktor 2. Nach wiederholter ESA-Gabe sind Retikulozytenwerte von Tag 7–24 erhöht und bleiben noch weitere 7 Tage nach der letzten ESA-Dosierung erhöht.

Aplasiogene zytostatische Therapie: Der Anstieg der Retikulozytenzahl ist ein früher Surrogatmarker der Erholung der Hämatopoese nach erfolgter Chemotherapie /24/.

Allogene Knochenmark­transplantation: Die Zunahme der Retikulozytenzahl ist ein guter Indikator der Transplantatfunktion und gleichwertig dem Anstieg neutrophiler Granulozyten. Beide nehmen parallel in der Frühphase bei einem funktionierenden Transplantat zu. Bluttransfusionen können bei diesen Patienten zu einem Anstieg der Retikulozytenzahl führen und eine Transplantatfunktion vortäuschen. Erythrozytenkonzentrate haben einen Retikulozytengehalt von im Mittel 49 × 109/l /25/.

Tabelle 15.6-5 RMI and IRF Referenzbereiche

RMI Erwachsene /29/

LFR%

MFR%

HFR%

  • Sysmex 9500

85–97

3–14

< 2,5

  • Advia 120

88–98

2–11

≤ 2,0

IRF Erwachsene /29/

  • Cell DYN 4000: Anteil der Retikulozyten mit LFR, MFR and HFR jeweils 0,14–0,35.

Tabelle 15.6-6 Diagnostische Bedeutung von Retikulozytenzahl und Retikulozyten-Reifungsindex (RMI) /32/

Anämie

Retikulo­zytenzahl

RMI

Aplastische Anämie

Aplastische Krise

↓/N

Intrinsische KM-Hypoplasie

N/↑

Knochenmark-Regeneration

N/↑

Anämie chron. Erkrankungen

↓/N

N

Eisenmangel

↓/N

Thalassämie

N/↑

N/↑

Myelodyspl. Syndrom

↓/N/↑

N/↑

Folat-/Vitamin B12-Mangel

↓/N

Hämolytische Anämie

Blutung

N/↑

Anteil unreifer Retikulozyten an der Retikulozytenzahl:

N, normal, ↓ niedrig, ↑ hoch

Tabelle 15.6-7 Referenzbereiche für Retikulozyten-Hämoglobin (CHr, Ret-He)

Erwachsene

CHr

28–35 pg /37/

Ret-He

28–35 pg /36/

CHCMr

270–330 g/l /34/

RFHb

1,76 ± 0,59 g/l /38/

Neugeborene

CHr

33–38 pg /39/

Kinder

CHr

27,5–33 pg /40/

Tabelle 15.7-1 Normale menschliche Hämoglobine

Hb-Typ

Kettenformel

Vorkommen

Quantitativer Anteil

HbA

α2β2

Kinder > ½ Jahr

Erwachsene

97,0 % s

HbA

α2δ2

Kinder > 1 Jahr

Erwachsene

2,5–3,0 %

HbF

α2γ2

Fetal-/Neonat. Kinder < 1 Jahr

Kinder altersabhängig, Erwachsene bis 0,5 %

Embryonale Hämoglobine

Nach der Geburt normalerweise nicht mehr nachweisbar

Tabelle 15.7-2 Prävalenz der Hämoglobinopathie-Genträger /4/

Land

Genträger

Afrika

5–30 %

Arabische Länder

5–40 %

Regional 60 %

Zentralasien und Indien

10–20 %

Südostasien

5–40 %

Regional 70 %

USA und Zentralamerika

5–20 %

Italien

7–9 %

Griechenland

6–7 %

Türkei

7–10 %

Deutschland, Großbritanien, Spanien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Skandinavien

Gesamtbevölkerung bis 1 %

Immigranten 5 %

Balkanländer

2–5 %

Russland

Selten

Trans-Kaukasusländer

Bis 5 %

Tabelle 15.7-3 Die wichtigsten Hämoglobinopathien in Deutschland

Personen mit Migrationshintergrund

1.

β-Thalassämie-Syndrome

65,8 %

2.

Hämoglobin S

21,2 %

3.

α-Thalassämie-Syndrome

7,8 %

4.

HbE

2,1 %

5.

HbC

1,8 %

6.

Instabile Hb-Anomalien

0,2 %

Bezugsgröße: 35.831 Labordiagnosen

100 %

Tabelle 15.7-4 Standardprogramm zur Diagnostik von Hämoglobinopathien

Hämatologie

Blutbild mit Erythrozytenindices und eventuell Retikulozyten

Klinische Chemie

Eisenstatus: Ferritin, Transferrin-sättigung

Hämolyse-Parameter: Bilirubin, Haptoglobin, LDH

Hämoglobin-analyse

Elektrophorese und/oder HPLC

HbF-Bestimmung, HbF-Zellenfärbung

Hb-Löslichkeitstest, Sichelzell-Test zur HbS-Diagnostik

Molekulargenetik

DNA-Präparation

PCR-Amplifizierung

DNA-Sequenzierung

MLPA-Deletionsdiagnostik

Tabelle 15.7-5 Basisinformation zu den molekulargenetischen Methoden

DNA-Präparation

Ausgangsmaterial

Polymerase-Ketten-Amplifizierung

Technik zur raschen Amplifikation (Vermehrung) spezifischer, unterschiedlich großer DNA-Sequenzen.

DNA-Sequenzierung

Analyse der Nukleotidfolge von DNA-Molekülen oder Fragmenten mit Hilfe von enzymatischen oder chemischen Methoden. Die Durchführung erfolgt mittels Sequenzierautomaten.

MLPA-Deletionsdiagnostik

Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification, molekulargenetische Methode, mit der nach großen genomischen Deletionen oder Duplikationen einzelner Genbereiche oder ganzer Gene gesucht werden kann.

Tabelle 15.7-6 Referenzbereich der Hämoglobine /2, 3/

Reife Neugeborene

Kinder < 1 Jahr

Kinder 1–2 Jahre

Kinder > 2 Jahre und Erwachsene

HbA

17,7 (13,1–22,3)**

15–40**

Alters-abhängig

96,0 (95,0–98,2)

97,5 (97–98,5)

HbA2

0,25 (0,05–0,45)

Alters-abhängig

1,8 (1,5–3,0)

2,5 (1,5–3,2)

HbF

81,7 (77,5–86,9)*

60–85**

Alters-abhängig

1,5 (0,5–2,0)*

0,8 (0,4–1,0)**

0,5 (0,0–0,5)**

Angaben in Prozent. Angabe von Mittelwert (Bereich). Die Referenzbereiche wurden aus Lit. /23/ entnommen. Methoden: Ohne besondere Angaben = Elektrophorese; * Chromatographie; ** Alkalidenaturierung

Tabelle 15.7-7 Grundformen der Hämoglobinopathien

Hämoglobinopathie

Basisdefekt

1. Thalassämie-Syndrome α-, β-, δβ-, γδβ-, γ- und δ-Thalassämien Thalassämische Hämoglobinopathien

Reduzierte oder fehlende Synthese der α-, β-, γ- oder δ-Globinketten

2. Hämoglobinstruktur-Anomalien Strukturdefekte der α- oder β-Globinketten, z.B. HbS, HbC, HbE

Abnorme Struktur der α- oder β-Ketten

3. Kombinations- und Interaktionsformen, z.B. – Hb SC-Krankheit – HbS-β-Thalassämien – HbE-α-Thalassämien

  • Kombination verschiedener Thalassämien untereinander oder mit anomalen Hämoglobinen
  • Kombinationen verschiedener abnormer Hämoglobine untereinander

Tabelle 15.7-8 Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien der α-Thalassämien

Erbstatus/Diagnose

Anordnung der α-Globingene

Rotes Blutbild

Hämoglobin-muster

Leitsymptome

Normalbefund

▲▲/▲▲

αα/αα

Hb normal

MCH normal

Normal

Keine Symptome

Heterozygote α+-Thalassämie (α-Thalassämia minima)

▼▲/▼▼

–α/αα

Hb normal

MCH < 27 pg

Normal

Keine Symptome leichte Blutbildveränderungen

Homozygote α+-Thalassämie (α-Thalassämia minor)

▼▲/▲▼

–α/–α

Hb normal oder ↓

MCH < 26 pg

Normal

Leichte Anämie, deutliche Blutbildveränderungen

Heterozygote α0-Thalassämie (α-Thalassämia minor)

▼▼/▲▲

– –/αα

Hb normal oder ↓

MCH < 24 pg

Normal

Leichte Anämie, deutliche Blutbildveränderungen

Gemischte Heterozygotie (α+0-Thalassämie [HbH-Krankheit])

▼▼/▼▲

– –/–α

Hb 8–10 g/dl

MCH < 22 pg

HbH ≈ 10–20 %

Variable, chronisch-hämolytische Anämie

Homozygote α0-Thalassämie (Hydrops fetalis-Syndrom)

▼▼/▼▼

– –/– –

Hb < 6 g/dl

MCH < 20 pg

Hb Bart’s 80–90 %

Hb Portland ≈ 10–20 %

Lebensbedrohliche fetale Anämie, generalisierte Hydrops

Tabelle 15.7-9 Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien der β-Thalassämien

Erbstatus/Diagnose

Rotes Blutbild

Hämoglobin-Muster

Leitsymptome

Heterozygote β-Thalassämie (β-Thalassämia minor)

β++

β+

β0

Hb 90–150 g/l

Hb 90–130 g/l

MCV 55–75 fl

MCH 19–25 pg

HbA2 > 3,2 %

HbF 0,5–6 %

Milde Anämie ohne Krankheit

Homozygote β-Thalassämie (β-Thalassämia major)

Compound heterozygote β-Thalassämie (β-Thalassämia major)

β++

β00

β+0

Hb < 70 g/l

MCV 50–60 fl

MCH 14–20 pg

HbA2 variabel

HbF 70–90 %

Schwere Krankheit mit dauerhaft Transfusions­bedürftiger Anämie

Milde homozygote oder Compound heterozygote β-Thalassämie (β-Thalassämia intermedia)

β+/β+β+++

β+0

β00

Hb 60–100 g/l

MCV 55–70 fl

MCH 15–23 pg

HbA2 variabel

HbF bis 100 %

Mittelschwere Krankheit, variabler Transfusions­bedarf

Tabelle 15.7-10 Klassifizierung der wichtigsten pathologischen Hämoglobinvarianten

Varianten mit Gefäßverschlüssen und Hämolyse

z.B. HbS, HbC

Varianten mit dem Phänotyp einer Thalassämie

z.B. HbE, Hb Lepore

Instabile Hämoglobine mit Hämolyse

z.B. Hb Köln, Hb Leiden

Varianten mit gestörter Sauerstofftransportfunktion = Familiäre Erythrozytosen

z.B. Hb Ohio

Varianten mit pathologischem Methämoglobin Zyanosen = Familiäre Erythrozytosen

z.B. HbM Iwate

Tabelle 15.7-11 Diagnostische Merkmale der Sichelzell-β-Thalassämien

HbS-β0-Thalassämie

HbS-β+-Thalassämie

Erscheinungsbild

Wie schwere Sichelzellkrankheit

Erscheinungsbild

Abhängig von der β-Globingenrestaktivität = leichte bis schwere Sichelzelkrankheit

Labordiagnostik und Befunde

Hämatologie:

  • Hb 60–100 g/l
  • MCH < 22 pg

Labordiagnostik und Befunde

Hämatologie:

  • Hb 90–120 g/l
  • MCH < 24 pg

Klinische Chemie

Hämolyse-Parameter positiv

Klinische Chemie

Hämolyse-Parameter positiv

Hämoglobinanalyse

  • HbA2 > 3,5 %
  • HbS > 80 %
  • HbF < 20 %
  • HbA 0 %

Hämoglobinanalyse:

  • HbA2 3,5 %
  • HbA 3–30 %
  • HbS 55–75 %
  • HbF ≈ 20 %

Molekulargenetik

Nachweis folgender Mutationen:

1. HbS = β Kodon 6 GAG → GTG heterozygot und

2. β0-thalassämische Mutation heterozygot = Compound Heterozygotie

Molekulargenetik

Nachweis folgender Mutationen:

1. HbS = β Kodon 6 GAG → GTG heterozygot und

2. β+-thalassämische Mutation heterozygot = Compound Heterozygotie

Tabelle 15.7-12 Klinische Klassifizierung der wichtigsten anomalen Hämoglobine

Krankheit

Genotyp

Rotes Blutbild

Hämoglobinmuster

Leitsymptome

Sichelzellkrankheit

HbSS

Hb 60–90 g/l

normochrom

Sichelzellen; positive Hämolyseparameter

HbS 55–90 %

HbA2 > 3,5 %

HbF < 10 – > 20 %

Sichelzellkrisen/ Schmerzkrisen, akute Organsyndrome, chronisch-hämolytische Anämie

HbS-Heterozygotie

HbAS

Normal

HbS 35–40 %

HbA2 ≥ 3,5 %

Keine Krankheits­erscheinungen

Sichelzell-β+-Thalassämie (siehe auch Tab. 15.7-8)

HbSβ+-Thalassämie

Hb 90–120 g/l

Hypochromie

Mikrozytose

HbS > 55 %

HbF > 20 %

HbA2 > 3,5 %

Variable, milde Sichelzellkrankheit

Sichelzell-β0-Thalassämie (siehe auch Tab. 15.7-8)

HbSβ0-Thalassämie

Hb 60–100 g/l

Hypochromie

Mikrozytose

HbS > 80 %

HbF < 20 %

HbA2 > 3,5 %

Schwere Sichelzellkrankheit

HbSC-Krankheit

HbSC

Hb 100–130 g/l

Targetzellen

MCV < 75 fl

HbS 50 %

HbC 50 %

HbF < 5 %

Abgeschwächte Symptome der Sichelzell­krankheit, chronisch-hämolytische Anämie

HbC-Krankheit

HbCC

Hb 100–120 g/l

Targetzellen

MCV < 75 fl

MCHC > 35 g/dl

HbC > 95 %

HbA2 2,5 %

HbF 0,5 %

Schmerzkrisen, Organereignisse, chronisch-hämolytische Anämie

HbC-Heterozygotie

HbAC

Normal

HbC 50 %

HbA 47 %

HbA2 3 %

Keine Krankheitserscheinungen

HbE-Heterozygotie

HbAE

Hb normal oder

gering ↓

Hypochromie

HbE 25–35 %

Leichte, hypochrome Anämie

HbE-Krankheit

HbEE

Hb 100–140 g/l

Ery-Zahl hoch

MCH 20 pg

MCV 65 fl

Targetzellen

HbE > 95 %

HbA2 2,5 %

HbF < 3 %

Leichte Anämie, Hämolysen durch Infektionen/Medikamente

HbE-β+-Thalassämie

HbE-β+-Thalassämie

Hb variabel ↓

Hypochromie,

Mikrozytose

HbE + HbA2 = 25–80 %

HbF 6–50 %

HbA 5–60 %

Variable, intermediäre, hypochrome Anämie

HbE-β0-Thalassämie

HbE-β0-Thalassämie

Hb < 80 g/l

MCV < 60 fl

MCH < 22 pg

HbE bis 85 %

HbA2 < 5 %

HbF 15–25 %

Wie β-Thalassämia major

Hämoglobinopathien bei instabilem Hb

HbX; etwa 150 verschiedene Varianten

HbX/HbA

Hb variabel − deutlich anämisch; Heinzkörper, Hämolyse durch Virusinfekte/Medikamente

HbX 20 %

HbA2 3–4 %

HbF < 5 %

Variable, z.T. transfusionsbedürftige chronisch-hämolytische Anämie

Anomale Hämoglobine mit gestörter O2-Transportfunktion

Verschiedene Varianten

Polyglobulien

Met-Hb-Vermehrung

Je nach Typ der Anomalie unterschiedlich

Angeborene Zyanose bei HbM-Anomalien, angeborene Polyglobulie bei Hb-Anomalien mit ↑ O2-Affinität

Tabelle 15.8-1 Referenzbereich der Erythrozyten-Enzyme

Enzyme /16/

Substratumsatz*

pro g Hb/min

Substratumsatz*

pro 1011 Ery/min

Glykolyse

  • Pyruvatkinase

20,2 ± 2,2

41 ± 10

  • Hexokinase

1,0 ± 0,1

2,3 ± 0,5

  • Glucose­phos­phat­isomerase

44,7 ± 4,8

124 ± 13

  • Triosephosphat-Isomerase

2.180 ± 254

6.055 ± 705

Pentosephosphatzyklus und Glutathionstoffwechsel

  • Glucose-6-phosphatdehydrogenase

11,0 ± 1,6

30,6 ± 4,5

  • 6-Phosphogluconat­dehydrogenase

9,5 ± 1,5

26,2 ± 4,1

  • Gluta­thion­reduktase

4,6 ± 0,8

25,7 ± 3,0

Angabe von x ± s; *Angabe des Substratumsatzes in μmol

Tabelle 15.8-2 Befunde und Enzymcharakteristika der wichtigsten Erythrozyten-Enzymopathien

Erkrankung

Befunde

Enzymcharakteristika

G-6-PD-Mangel

Erscheinungsformen: Akute, unter Umständen lebensbedrohliche hämolytische Krise nach oxidativer Belastung; schwere Anämie Heinz-Körper-Bildung, Korbzellen, ausgestanzte Zellen; Hämoglobin-ämie, -urie; Ikterus neonatorum und Morbus haemolyticus neonatorum.

Heterozygoter, hemizygoter oder homozygoter G-6-PD-Mangelstatus des mediterranen Typs, der afrikanischen oder der asiatischen Varianten. Sehr unterschiedliche Enzymaktivitäten.

Chronische hämolytische Anämie

Homozygoter oder heterozygoter Defektträgerstatus verschiedener G-6-PD-Varianten. Vorkommen hauptsächlich bei der weißen Bevölkerung Nordamerikas und bei Europäern.

PK-Mangel

Variable Symptomatik von leichter, kompensierter, hämolytischer Anämie über mittlere Schweregrade bis zu schwersten Hämolysen mit hochgradiger Anämie. Hepatosplenomegalie, Makrozytose. Pykno-Poikilozytose, relativ wenig Retikulozyten.

Homozygoter Enzymdefektstatus.Stark variierende Restaktivitäten der Enzyme der verschiedenen pathologischen Enzymvarianten. Sonderformen: Doppelte Heterozygotien für zwei Enzymvarianten.

Heterozygoter PK-Mangel

Klinisch und hämatologisch unauffällig, Ausnahme evtl. Neugeborenen-Hyperbilirubinämie

Enzymaktivität heterozygoter Defektträger ca. 50 % der Norm.

Tabelle 15.8-3 Medikamente und Chemikalien, die bei Glukose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel eine Hämolyse erzeugen

Acetanilid

Methylenblau

Naphthalin

Niridazol

Nitrofurantoin

Phenylhydrazin

Pamaquin

Pentaquin

Primaquin

Sulfanilamid

Sulfacetamid

Sulfapyridin

Sulfamethoxazol

Thiazolsulfon

Toluidinblau

Trinitrotoluol

Tabelle 15.10-1 Referenzbereiche für Erythropoetin

Erwachsene /1/*

6–32 U/l

Kinder /4/**

EPO (U/l)

Hämoglobin (g/l)

  • 0–6 Tage

33,0 ± 31,4

156 ± 22

  • 7–50 Tage

11,7 ± 3,6

128 ± 11

  • 51–100 Tage

21,1 ± 5,5

114 ± 10

  • 101–150 Tage

15,1 ± 3,9

112 ± 12

  • 151–200 Tage

17,8 ± 6,3

125 (n = 2)

  • > 201 Tage

23,1 ± 9,7

118 ± 8

* Angabe der zentralen 95 %-Masse. ** Angabe von x ± s. Die Kollektive bei den Kindern (Geburtsgewicht über 2.500 g) umfassen nur 2–13 Probanden.

Tabelle 15.10-2 Erkrankungen und Zustände mit adäquatem Anstieg von EPO

Hypoxie: Bei Gesunden kommt es bei Aufenthalt in einer Atmosphäre mit 11 % O2 nach 2 h zu einem Anstieg von EPO im Serum und nach 8 h zu etwa einer Verdopplung des Ausgangswerts. Bei zweimaligem Aufstieg in eine Höhenlage von 4.300 m und einer dazwischen liegenden Nacht bei 1.200 m resultiert nach 6 h ein gleicher Anstieg von EPO. Jedoch bei mehrmaligem Aufstieg ist der Anstieg geringer /25/. Hypoxische Zustände, verursacht durch schwere zyanotische Herzerkrankungen oder eine Hämoglobinopathie mit einer Mutanten mit hoher Affinität für O2 wie Hb Köln oder Hb York, führen ebenfalls zu einem Anstieg von EPO. Hypoxie führt zu einer Verminderung der Expression von Hepcidin mit konsekutiv erhöhter enteraler Eisenabsorption und vermehrter Eisenfreisetzung aus Makrophagen. Die so erhöhte Eisenkonzentration im Plasma ist die Voraussetzung für eine Steigerung der Erythropoese bei chronischer Hypoxie. Siehe auch Tab. 15.4-5 – Erkrankungen und Zustände mit erhöhtem Hämatokrit.

Chronische Lungenerkrankung: Bei 69 % der Patienten mit chronisch hypoxischen Lungenerkrankungen und sekundärer Polycythämie ist EPO im Serum erhöht /26/.

Schwangerschaft: Die rote Blutzellmasse der Schwangeren fällt im ersten Drittel der Schwangerschaft ab, nimmt im zweiten Trimenon zu und hat ihr größtes Volumen nahe dem Entbindungstermin. Dies beträgt dann etwa 125 % desjenigen der Nicht-Schwangeren. Das Plasmavolumen nimmt auf 150 % zu. Die Konzentration von EPO steigt erst im zweiten Trimenon signifikant an. Im Vergleich zu Nicht-Schwangeren mit Werten des EPO von 16,4 ± 4,1 U/l, sind diese im Trimenon 1, 2, 3 und postpartum jeweils 19,1 ± 6,2, 28,4 ± 15,5, 37,7 ± 24,2 und 35,1 ± 34,7 /27/.

Fetale Anämie: Die EPO Konzentration im fetalen Nabelschnurblut ist gering, beträgt im Mittel 1,6 U/l, nimmt aber von der 37. SSW an kontinuierlich zu. Bei fetaler Anämie reagiert der Fetus etwa ab der SSW 24 mit einem starken Anstieg von EPO. Das ist auch der Fall bei allen anderen Zuständen mit mangelnder O2-Versorgung des Feten /8/. Durch Bestimmung von EPO im Fruchtwasser kann zwischen akuten und chronischen Ursachen des Fruchttodes unterschieden werden. Bei akutem Fruchttod beträgt EPO im Fruchtwasser unter 20 U/l, bei chronischer Ursache 49,9–39,1 U/l /28/.

Autologe Blutspende: Der Verlust einer Hb-Masse von 75 g durch Entnahme von 550 ml Blut wird im Mittel nach 36 Tagen wieder ersetzt. Bei autologer Blutspende für einen Hüftgelenkersatz und Entnahme von 5 Spenden an den Tagen 1, 3, 7, 14, 21 kam es in einer Studie /29/ zu einem Abfall des Hb-Werts von 141 ± 10 g/l auf 110 ± 9 g/l. Nach jeder Phlebotomie resultierte ein Anstieg des EPO mit einem Gipfelwert am 16. Tag von 35,8 ± 15 U/l. Dem Anstieg nach jeder Spende folgte ein Abfall auf ein etwas niedrigeres Plateau. Insgesamt stieg die Konzentration von EPO bis zum 16. Tag Treppen förmig an.

Autologe Retransfusion von Blut /30/: Die Entnahme von 20 % Eigenblut und Ersatz durch Hydroxyäthylstärke erhöht innerhalb eines Tages die Konzentration von EPO 4 fach, um dann exponentiell abzufallen. Die Retikulozytenzahl nimmt 2,4 fach innerhalb einer Woche zu und bleibt für eine weitere Woche erhöht. Der Hb-Wert sinkt für 2 Wochen um 15 % ab. Der lösliche Transferrinrezeptor (sTfR) steigt bis zum Tag 14 um 60 % an. Die Retransfusion von 800 ml Erythrozytenkonzentrat 4 Wochen nach der Blutentnahme erhöht akut den Hb um 8 %, 7 Tage später wird der Ausgangswert vor der Blutentnahme erreicht. Die Konzentration von EPO bleibt unverändert, die Retikulozytenzahl sinkt um 30 %, der sTfR bleibt noch 3 Tage bis zur Retransfusion erhöht und fällt dann ab.

Anämie: Es besteht eine inverse logarithmische Beziehung zwischen dem Hb-Wert bzw. dem Hkt und der Konzentration von EPO bei Anämien mit adäquater EPO-Antwort (Abb. 15.10-2 – Erwarteter Erythropoetin-Konzentrationsbereich in Abhängigkeit vom Hämatokrit/8/.

Aplastische Anämie: Bei Patienten mit einem Hb-Wert von 90 ± 14 g/l (x ± s) liegt die Konzentration von ePO im Mittel bei 408 U/l (Bereich 180–2.700 U/l) /25/.

Eisenmangelanämie, hämolytische Anämie: Bei manifester Eisenmangelanämie und autoimmun-hämolytischer Anämie und einem Hb-Wert von etwa 90 g/l beträgt EPO 50–100 U/l. Gesunde Probanden mit einem Hb-Wert von 130–150 g/l hatten in dieser Studie eine Konzentration des EPO von im Mittel 11–12 U/l /30/.

Sichelzellanämie: Bei den chronisch nicht kompensierten hämolytischen Anämien des Erwachsenen wie der Sichelzellanämie liegen die Werte von EPO niedriger als bei akuten hämolytischen Syndromen. Denn bei diesen Erkrankungen ist die Sauerstoffversorgung der Gewebe durch eine Reduzierung der O2-Affinität zum Häm oder kompensatorische Mechanismen wie Erhöhung des Herzminutenvolumens besser gelöst als bei den akuten hämolytischen Syndromen /32/. Siehe auch Beitrag 15.3.5.8 – Erhöhung der Sauerstoff-Transportkapazität.

β-Thalassämie-Syndrom: Es werden hohe Konzentrationen von EPO gemessen bei der β-Thalassämie/HbE-Erkrankung, die im Vergleich zur β-Thalassämie und zur HbE-Erkrankung eine schwere Anämie verursacht. So wurden in einer Studie /32/ bei Kindern im Alter von 4–10 Jahren folgende mittlere Werte von EPO bestimmt: β-Thalassämie 24 U/l, HbE-Erkrankung 16 U/l, β-Thalassämie/HbE-Erkrankung 372 U/l, gesunde Kontrollen 19 U/l.

Myelodysplastisches Syndrom: Die Konzentrationen von EPO liegen immer über 100 U/l.

Tumoranämie: Bei Kindern mit malignen Tumoren beruht die Anämie nicht auf einer inadäquat niedrigen Produktion von EPO. Das betrifft sowohl solide Tumoren als auch Hämoblastosen. Bei Erwachsenen soll aber eine verminderte Synthese von EPO vorliegen /32/.

Tabelle 15.10-3 Erkrankungen und Zustände mit inadäquat niedrigem Anstieg von EPO

Chronische Nierenerkrankung: Die Nieren sind der wesentliche Ort der Synthese von EPO. Renale Erkrankungen sind mit einer normozytären normochromen Anämie assoziiert, wenn die glomeruläre Filtrationsrate etwa unter 30 [ml × min–1 × (1,73 m2)–1] beträgt. Das ist gewöhnlich der Fall bei einem Creatinin im Serum über 1,5–2,0 mg/dl (133–177 μmol/l). Auf Grund einer Schädigung der für die Synthese von EPO verantwortlichen renalen Zellen kommt es zu keinem adäquaten Anstieg des EPO im Serum bei den Patienten, die auf Grund ihrer Nierenerkrankung eine Anämie entwickeln /25/. Niereninsuffiziente haben eine normale Konzentration an EPO bei Anämie. Diese reicht aber nicht aus, die erythroiden Vorläuferzellen im proliferativen Pool des Knochenmarks so zu stimulieren, dass täglich 2 × 1011 Erythrozyten wie erforderlich in der Zirkulation ersetzt werden. Liegt kein Eisenmangel vor, werden die erythroiden Zellen normal hämoglobinisiert. Der Rückkopplungsmechanismus zwischen O2-Sensor und der Synthese von EPO ist aber bei Niereninsuffizienten noch funktionsfähig. Siehe Abb. 15.10-6 – Regelkreis der Erythropoetinwirkung. So bewirkt eine akute Blutung oder eine akute Hypoxie den Anstieg der Konzentration von EPO. Auch führen virale, Medikamenten-bedingte oder toxische Lebererkrankungen auf Grund der Regeneration der Hepatozyten zu einem temporären Anstieg Konzentration von EPO im Serum /29/. Patienten mit Niereninsuffizienz auf Grund von Zystennieren haben deutlich höhere Hb- und EPO-Werte als andere Patienten mit Hämodialyse. Bei akuter Niereninsuffizienz ist EPO während der anurischen Phase niedrig, normalisiert aber wieder nach Ingangkommen der Nierenfunktion.

Nach Nierentransplantation kommt es bei einem funktionstüchtigen Transplantat zu einer Normalisierung von EPO, wenn ein Hkt von 0,32 überschritten wird. Bei chronischer Abstoßungsreaktion sind die Werte niedrig. In einer Studie /34/ betrugen die Werte von EPO bei stabilem Transplantat 24,0 ± 19,7 U/l, bei akuter Abstoßung 35,6 ± 33,9 U/l und bei chronischer Abstoßung 6,2 ± 3,4 U/l.

Anemia of Chronic Disease (ACD) /35/: Bei der ACD, zu der die Anämien bei Infektionen, chronisch-inflammatorischen Zuständen und die Cancer-Related Anemia (CRA) gezählt werden, soll die systemische Erhöhung proinflammatorischer Zytokine wie Tumornekrosefaktor-α, Interleukin-1 und -6 zu einer Hemmung der Synthese von Messenger-RNA für die Synthese von EPO führen /36/. Auch wird eine Störung der Bindung von EPO an seinen Rezeptor auf den erythroiden Vorläuferzellen vermutet. Insgesamt resultiert eine in Relation zum Ausmaß der Anämie inadäquat niedrige Sekretion von EPO. Der Rückkopplungsmechanismus zwischen O2-Sensor und Synthese von EPO ist aber funktionsfähig.

Multiples Trauma: Die Pathogenese der Anämie bei multipel traumatisierten Patienten beruht auf einer Kombination von gastrointestinalem Blutverlust, renaler und hepatischer Insuffizienz sowie einer verminderten Lebenszeit der Erythrozyten. In Relation zur Anämie liegt bei diesen Patienten eine inadäquat niedrige Konzentration an EPO im Serum bei einer Erhöhung proinflammatorischer Zytokine vor /37/.

anämie Neugeborener: In den ersten Lebenswochen erfahren alle Neugeborenen einen physiologischen Abfall der roten Blutzellmasse mit Entwicklung einer Anämie. Bei gesunden Neugeboren liegt der Nadir des Hb-Werts selten unter 90 g/l in einem Alter von 10–12 Wochen. Dieser Abfall ist früher und stärker bei Frühgeburten, insbesondere denjenigen mit einer Erkrankung. Der Hb-Wert fällt gewöhnlich auf 80 g/l bei denjenigen mit einem Geburtsgewicht von 1–1,5 kg und auf 70 g/l bei einem Geburtsgewicht unter 1,0 kg. Während der Hb-Abfall bei termingerecht Geborenen gut toleriert wird, ist bei den Frühgeburten nicht selten eine Bluttransfusion erforderlich. Ursache der Anämie ist eine verminderte Synthese von EPO. Am Geburtstermin werden 70–75 % des EPO von der Leber gebildet. Die Leber soll aber insensitiver als die Niere auf Anämie und Gewebshypoxie reagieren und besonders bei Frühgeburten, so dass eine inadäquate Stimulation der Erythropoese resultiert /38/.

PFCP: Die primär familiäre und kongenitale Polyzythämie (PFCP), auch als benigne Erythrozytose oder familiäre Erythrozytose bezeichnet, ist relativ selten und wird autosomal dominant vererbt. Sie ist charakterisiert durch: Erhöhung der erythroiden Masse und des Hb-Werts, eine erhöhte Sensitivität der eryrthroiden Vorläuferzellen für EPO und eine verminderte Konzentration von EPO im Serum /39/.

Polycythämia vera (PV): Niedrige Konzentrationen von EPO werden bei PV vor und nach der Behandlung gemessen. Bei der Vorstellung haben Patienten mit einem Hb-Wert über 180 g/l gewöhnlich einen Wert von EPO unter 2,9 U/l. Das kann jedoch auch der Fall bei relativer Polyzythämie sein. Bei dieser scheinbaren Erythrozytose kommt es aber nach einer Phlebotomie mit Absenkung des Hkt zur Normalisierung des EPO oder gar zu einer leichten Erhöhung. Bei der PV bleibt der Wert jedoch niedrig /5/.

Multiples Myelom (MM): Die Anämie ist eine häufige Komplikation beim MM, insbesondere im fortgeschrittenen Stadium. Die Ursache der Anämie ist weniger eine Verdrängung der Erythropoese durch die Infiltration des Marks mit Plasmazellen, sondern beruht auf einer intrinsischen Hypoproliferation der Erythropoese und einer inadäquat niedrigen Synthese von EPO. Diese liegt bei 60 % der Patienten mit multiplen Myelom vor, wenn eine Niereninsuffizienz besteht, kommt aber auch ohne diese vor /40/.

Tabelle 15.10-4 Erkrankungen und Zustände mit überproportionalem Anstieg von EPO

Maligner Tumor: Ektopisches oder direkt vom Tumor gebildestes EPO kann als paraneoplastisches Syndrom eine Polyzythämie auslösen /41/. Das ist der Fall bei 63 % der Nierenzellkarzinome und 23 % der hepatozellulären Karzinome /42/. Auch der Wilms-Tumor, cerebellare Hämangiome und uterine Fibromyome können mit erhöhtem EPO einhergehen. Die Polycythämie braucht klinisch nicht in Erscheinung zu treten auf Grund chronischer Blutungen oder einer Tumor assoziierten Anämie. Bei erfolgreicher Operation geht die erhöhte Bildung von EPO in der Regel zurück, kommt aber wieder bei einem Tumorrezidiv. Die Konzentration von EPO ist jedoch ungeeignet als Indikator einer kompletten chirurgischen Resektion, da es keinen klaren Grenzwert gibt. EPO ist aber zum Monitoring geeignet, ein kontinuierlicher Anstieg ermöglicht ein Rezidiv zu erkennen /41/.

Sekundäre Erythozytose: Sekundäre Erythrozytosen müssen von der Polycythemia vera abgegrenzt werden. Bei den sekundären Erythrozytosen handelt sich um folgende seltene Störungen /5/:

Präsenz einer hochaffinen Hb-Mutation (Hb Köln, Hb York). Mehr als 50 Mutanten des α- und β-Gens des Hb sind beschrieben. Die hochaffinen Mutanten an der α12-Zwischenregion des Hb-Moleküls bewirken auf Grund verstärkter O2-Bindung eine verminderte O2-Abgabe an die Gewebe mit kompensatorischer Erhöhung des EPO und der erythroiden Masse. Siehe Abb. 15.3-3 – Struktur und Funktion von Hämoglobin.

Hereditäre Methämoglobinämie. O2 bindet reversibel an Fe2+ des Desoxyhämoglobins, jedoch nicht an Methämoglobin (Fe3+). Außerdem erhöht Fe3+-Häm in einigen Untereinheiten des Hb-Tetramers die O2-Affinität des Fe2+-Häms. Als Folge wird die O2-Dissoziationskurve nach links verschoben und weniger O2 an die Gewebe abgegeben. Das führt zur kompensatorischen Erhöhung der Synthese von EPO und der erythroiden Masse. Siehe Abb. 15.3-2 – O2-Dissoziationskurve.

Hereditärer 2,3-DPG Mangel auf Grund eines Defektes der 2,3-Diphosphoglycerat-Mutase (2,3-DPGM). Es besteht eine erhöhte Affinität von O2 zum Hb mit der Folge, dass weniger O2 an die peripheren Gewebe abgegeben wird. Kompensatorisch ist EPO erhöht und die erythroide Masse vermehrt.

Tabelle 15.10-5 Laboruntersuchungen zur Beurteilung der Erythropoese bei Therapie mit ESA

Blutbild (BB): Das BB dient der Beurteilung des Ausmaßes der Anämie und ihrer Klassifizierung. Befunde, bei denen eine Therapie mit ESA erwogen werden kann, sind eine normozytäre normochrome Anämie bei einem Hb von 110–80 g/l, eine Thrombozytenzahl > 100 × 109/l einer Konzentrationvon EPO < 100 U/l bzw. eine O/P-Ratio unter 1,2 und keine Leukozytose.

Monitoring: Der Anstieg des Hb ist ein Kriterium der Proliferation und Hb-Bildung der Erythropoese und somit ein Indikator des Erfolgs einer Therapie.

Chronische Niereninsuffizienz /20/: Der Hb-Wert sollte zu Beginn einer Therapie sowie bei Steigerung oder Reduzierung der ESA Dosis alle 1–2 Wochen bis zum Erreichen eines stabilen Werts bestimmt werden. Zielsetzung ist die Steigerung des Hb-Werts um 10–20 g/l und Monat. Wird nach Beginn der Therapie oder Steigerung der ESA Dosis innerhalb von 2–4 Wochen keine Zunahme von 7 g/l erreicht, sollte die Dosis an ESA um 50 % gesteigert werden. Nimmt der Hb-Wert nach Therapiebeginn oder nach Steigerung der Dosis um über 25 g/l pro Monat zu, oder überschreitet der Hb-Anstieg den Zielwert, sollte die wöchentliche Dosis von ESA um 25–50 % reduziert werden. Wird kein Anstieg von 10 g/l und Monat erreicht, liegt eine inadäquate Antwort vor. Der wichtigste Grund dafür ist ein funktioneller oder absoluter Eisenmangel.

Tumorpatienten /12/: Unter adäquater Therapie mit ESA wird ein Hb-Anstieg von 10–20 g in 6–8 Wochen erwartet. Patienten, die diese Vorgabe nicht erreichen, sind Non-Responder. Ursachen sind vorwiegend ein funktioneller bzw. absoluter Eisenmangel oder die Progression des Tumors.

Retikulozytenzahl, Retikulozyten-Hb: Retikulozyten werden 18–36 h vor ihrer Reifung zum Erythrozyten aus dem Knochenmark freigesetzt. Sie vermitteln einen Einblick über den funktionellen Status des Knochenmarks (hypo-, normo- oder hyperregenerative Erythropoese). Der CHr bzw. Ret-He geben die Information, ob normochrome oder hypochrome rote Blutzellen gebildet werden.

Monitoring: In der frühen Phase der ESA stimulierten Erythropoese (Tag 1–5) kommt es zu einer Retikulozytose, die eher die Freisetzung unreifer Retikulozyten aus dem Mark, als eine Zunahme der Erythropoese reflektiert. Eine Zunahme der Retikulozytenzahl von > 40 × 109/l nach 4 Wochen Therapie indiziert eine positive Response der Erythropoese /10/. Entwickelt sich unter Therapie mit ESA ein funktioneller Eisenmangel nehmen CHr bzw. Ret-He innerhalb von 10 Tagen nach Beginn der Therapie ab.

Löslicher TransferrinRezeptor (sTfR): Die Konzentration des sTfR im Serum ist unter Therapie mit ESA vorwiegend ein Indikator der Proliferation der Erythropoese weniger des funktionellen Eisenmangels. Eine Aktivierung der Proliferation führt zu einem Anstieg der Konzentration des sTfR /42/.

Basale Untersuchung: Der wichtigste therapeutische Effekt von ESA ist die Vermehrung der Erythropoese. Liegt kein Eisenmangel vor, besteht eine positive Korrelation zwischen Erythropoese und Konzentration des sTfR. Der basale Wert des sTfR ist deshalb ein Indikator zur Beurteilung der Masse der Erythropoese vor Beginn der Therapie mit ESA. Erhöhte Werte weisen auf eine hyperproliferative Erythropoese, also Zunahme des Erythrons hin. Keine Erhöhung gegenüber dem Basalwert spricht für eine mangelnde Response auf ESA.

Monitoring: Ein Anstieg des sTfR von > 20 % innerhalb von 4 Wochen ist ein Indikator des Ansprechens, oft erfolgt der Anstieg schon innerhalb von 10 Tagen nach Therapiebeginn.

Erythropoetin (EPO): Die Bestimmung der endogenen Bildungvon EPO sollte zur Beurteilung der Proliferation der Erythropoese als basale Untersuchung vor einer geplanten Therapie mit ESA bei allen Patienten, mit Ausnahme der renalen Anämie, durchgeführt werden. Die Werte von EPO bei anämischen Patienten können nicht einfach mit dem Referenzbereich Gesunder verglichen werden. Wichtig ist der Bezug auf den Hb-Wert oder den Hkt und die Ermittlung des erwarteten (Predicted = P) Werts anhand einer Bezugskurve (Abb. 15.10-2 – Beziehung zwischen Hkt und EPO-Konzentration). Beim individuellen Patienten wird dann der gemessene (Observed = O) Wert durch Bildung der O/P-Ratio in Beziehung zum Erwartungswert gesetzt. Der 95 % Vertrauensbereich für die O/P-Ratio ist 0,8–1,2 /10/. Werte darunter sprechen für eine inadäquat niedrige endogene Bildung von EPO und ein wahrscheinlich gutes Ansprechen auf ESA. Beim myelodysplastischen Syndrom ist die O/P-Ratio hoch und die Response auf ESA gering.

Ferritin: Ferritin ist ein Marker der Speichereisen Reserve. Unter Therapie mit ESA kommt es zu einem Abfall des Ferritins im Vergleich zum Basalwert. Der Ferritinwert reflektiert unter Therapie mit ESA die Versorgung des bis 3 fach zunehmenden Funktionseisen-Kompartiments mit Eisen. Viele Patienten haben in Relation zur Reserve an Speichereisen inadäquat hohe Ferritinwerte, da Ferritin als Folge einer Akute-Phase Reaktion vermehrt synthetisiert oder bei Schädigung des Hepatozyten freigesetzt wird. Solche Bedingungen sind z.B. Infektion, chronische Entzündung, hepatozellulärer Schaden, maligner Tumor, Hyperthyreose, Alkoholismus, Einnahme oraler Kontrazeptiva. Damit sich unter Therapie mit ESA keine EPO Resistenz auf Grund eines Eisenmangels ausbildet, muss Ferritin immer ausreichend hoch sein.

Basale Untersuchung: Bei Patienten mit Niereninsuffizienz muss vor Beginn der Therapie mit ESA die Ferritinkonzentration > 100 μg/l, optimal 200–500 μg/l betragen /20/.

Monitoring: Bei Hämodialyse Patienten unter Therapie mit ESA haben in den USA 50 % der Patienten Ferritinwerte > 800 μg/l, in Europa liegt der Wert um 500 μg/l. In der Routinetherapie sollte sich Ferritin in einem Bereich von 200–500 μg/l bewegen. Zur Verhinderung der Eisenüberladung sind Werte > 500 μg/l zu vermeiden /43/. Zu Beginn der Therapie mit ESA sollte Ferritin alle 3 Monate kontrolliert werden bei Patienten, die eine intravenöse Eisentherapie erhalten und bei denjenigen ohne alle 4–6 Wochen.

TransferrinSättigung (TfS): Die TfS ist ein Indikator des Funktionseisens, aber nur anwendbar, wenn keine Akute-Phase Reaktion (APR) vorliegt, da Transferrin ein negatives Akute-Phase Protein ist und die TfS während einer APR niedrig ist. Das ist der Fall ab einer Konzentration von CRP > 5 mg/l.

Basale Untersuchung: Um eine genügende Eisenversorgung der Erythropoese zu gewährleisten soll TfS vor ESA Therapie> 20 % sein, besser 30–40 % sein und unter Therapie mit ESA etwa 30 %.

Monitoring: Eine TfS < 20 % signalisiert Eisenbedarf. Um kontinuierliche Werte > 20 % aufrecht zu erhalten, ist das therapeutische Ziel der Eisensubstitution ein Wert der TfS von 30–40 % bei chronisch Nierenkranken /20/. Kontrollintervalle wie bei Ferritin.

% HYPO: Der Anteil hypochromer Erythrozyten (% HYPO) ist eine wertvolle Messgrösse zur Beurteilung des Eisenbedarfs der Erythropoese sowie deren Antwort auf ESA-Stimulation und die intravenöse Gabe von Eisen /20/. Die % HYPO sind ein von der APR unabhängiger Indikator des Eisenbedarfs.

Basale Untersuchung: Die % HYPO sollten unter 10, optimal unter 2,5 sein als Indikator einer guten Eisenversorgung vor ESA-Therapie.

Monitoring: Ein % HYPO > 10 weist auf den Eisenbedarf der Erythropoese hin. Bei einer Infektion oder chronischen Entzündung kann das Ferritin normal und die TfS nicht verwertbar sein. In dieser Situation weist ein % HYPO-Wert > 10 auf eine Funktionseisen-Mangel hin. Signifikante Anstiege treten aber erst 3 Wochen nach Eintritt des Funktionseisen-Mangels auf. Kontrollintervalle wie bei Ferritin.

Retikulozyten-Hb: Der Hb Gehalt des Retikulozyten (CHr, Ret-He) ist ein Real-time Indikator des Eisenbedarfs der Erythropoese und von der APR unabhängig.

Basale Untersuchung: Ein CHr oder Ret-He ≥ 28 pg schließen eine Eisen-restriktive Erythropoese aus. Mit Beginn einer Therapie mit ESA sollte auch Eisen intravenös substituiert werden /44/.

Monitoring: Bei Patienten einer Therapie mit ESA zeigt nach etwa 5 Tagen ein Abfall des CHr, Ret-He unter 28 pg oder ein relativer Abfall von 2 pg bei Werten ≥  28 pg einen Mangel an Funktionseisen an. Ursache kann die Überstimulation der Erythropoese in Relation zum Speichereisen sein. Ein Anstieg des CHr, Ret-He oder ein gleichbleibender normaler CHr, Ret-He unter der Kombination von ESA und intravenöser Eisentherapie weisen auf die ausreichende Versorgung mit Eisen hin. Bei Dialysepatienten sind CHr und Ret-He bessere Indikatoren der Antwort auf eine Eisentherapie als Ferritin, die TfS und die % HYPO /44/. Kontrollintervalle wie bei Ferritin.

C-reaktives Protein (CRP): Das CRP ist ein Indikator der Akute-Phase Reaktion (APR). Die APR bewirkt eine Hepcidin induzierte Eisenverteilungsstörung und hemmt durch eine inflammatorische Blockade eine adäquate Proliferation der Erythropoese /45/.

Basale Untersuchung: Neben dem Eisenmangel ist die APR die wichtigste Ursache einer Resistenz gegenüber ESA. Ist der CRP Wert > 20 mg/l bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz, muss mit einer Erhöhung der Dosis an ESA um 30–70 % gerechnet werden /45/.

Monitoring: Die Bestimmung des CRP ist erforderlich, wenn die erwartete Response auf die Therapie mit ESA ausbleibt. Es ist dann geboten, die Dosis zu erhöhen. Bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und ESA Behandlung bedeutet das eine Steigerung der Dosierung um das 1,5–3 fache /20/.

Eisen-Plot /46/: Zur Identifizierung von Patienten, die einer Therapie mit ESA bedürfen, wurde zur Früherfassung von Respondern, zum Monitoring unter Therapie und zur Erkennung der Balance zwischen Dosierung von ESA und Eisenbedarf der Eisen-Plot (siehe Abb. 15.6-5 – Diagnostisches Diagramm zur Beurteilung, Monitoring und Therapie des Eisenstatus) evaluiert. Von 286 Patienten wurden nach dem Plot /47/:

  • 204 mit Anemia of chronic disease, genügendem Speichereisen und einem CHr ≥ 28 pg allein mit ESA behandelt und zeigten einen Hb-Anstieg ≥ 10 g/l zu 56 %.
  • 22 mit ACD und einer Eisen-restriktiven Erythropoese (CHr < 28 pg) mit ESA und intravenöser Eisengabe therapiert. Alle hatten einen Hb-Anstieg > 10 g/l.
  • 60 mit leeren Eisenspeichern (gemessen als erhöhter Ferritinindex) und einem CHr < 28 pg nur mit Eisen, vorwiegend oral behandelt. Ein Hb-Anstieg wurde bei 73 % der Patienten gemessen.

Die Studie /47/ zeigt, dass der Eisen-Plot ein effektives Konzept zur Differentialdiagnostik und Therapie der Anämie bei Tumorpatienten unter Zytostatikatherapie ist.

Tabelle 15.10-6 Erythropoese stimulierende Agentien

Recombinantes humanes Erythropoetin (rHuEPO): Es handelt sich um künstliche Äquivalente des endogenen EPO. Sie haben die Fähigkeit die Erythropoese zu stimulieren und bewirken eine effektive Korrektur der Anämie bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und beim myelodysplastischen Syndrom. RHuEPO ist ein Erstgenerations Epoetin. Die Gabe von EPO hat Vorteile (weniger Blutkonserven, verbesserte Lebensqualität) und Nachteile (vermehrte Thrombose arterio-venöser Fisteln, Schlaganfall und bei Krebserkrankung erhöhte Mortalität).

Epoetin alpha: Es handelt sich um ein humanes EPO, das in einer Zellkultur unter Anwendung der rDNA Technologie produziert wird. Epoetin alpha wird in Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen) gebildet und hat die Aminosäuresequenz von humanem EPO. Die Halbwertszeit von Epoetin alpha ist kurz (8 Std. intravenös und 19–24 Std. subkutan). Die Verabreichung erfolgt 2–3 mal wöchentlich. Epoetin alpha ist ein Erstgenerations-Erythropoetin.

Epoetin Beta: Es handelt sich um ein effektives humanes EPO, das die Anforderung an Bluttransfusionen deutlich reduziert. Epoetin beta fördert nicht das Tumorwachstum. Epoetin beta ist ein Erstgenerations-Erythropoetin.

Darbopoetin alpha: Es handelt sich um ein humanes EPO, das in einer Zellkultur unter Anwendung der rDNA Technologie produziert wird. Darbopoetin alpha wird in Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen) gebildet und hat die Aminosäuresequenz von humanem EPO. Darbopoetin hat eine normale Aminosäuresequenz, ist aber länger als EPO aufgrund eines größeren Kohlenhydratanteils. Seine Affinität zum EPO-Rezeptor ist 4,3-fach höher als rHuEPO Seine Halbwertszeit ist 3–4 mal länger als von Epoetin alpha oder Epoetin beta . Es wird empfohlen Darbopoetin alpha einmalig alle 2 Wochen zu verabreichen. Darbopoetin alpha ist ein Zweitgenerations-Erythropoetin.

Epoetin Delta: Es handelt sich um ein rHuEPO, das in einer humanen Zelllinie unter Verwendung der rDNA Technologie hergestellt wird. Die Aminosäuresequenz ist ähnlich dem endogenen humanen EPO. Im Vergleich zu den anderen ESA hat es einen geringeren Anteil nicht-humaner Kohlenhydratreste (N-glycolylneuraminsäure). Epoetin delta ist ein Drittgenerations-Erythropoetin.

Continuous Erythropoetin Receptor Agonists (CERA): CERA werden produziert durch Anfügen einer größeren Menge des wasserlöslichen Polyethylenglycol an Epoetin beta. Es handelt sich um einen Agonisten des Erythropoetinrezeptors der eine 50–100-fach niedrigere Affinität zum Rezeptor hat als Epoetin beta. CERA-Gabe führt zu einer größeren erythropoetischen Antwort als Epoetin beta. CERA muss niedriger dosiert werden als Epoetin beta und hat eine längere Halbwertszeit. Ein Erhalt der Konzentration von Hämoglobin im Bereich von 10,8 g/dl wurde bei Hämodialysepatienten mit zweiwöchentlicher Gabe von CERA erreicht, dabei kam es zu keiner Änderung die Konzentration von Ferritin und Hepcidin /50/.

Andere Nicht-EPO Substanzklassen zur Therapie der Anämie: Hierzu zählen der Hypoxia-inducible factor (HIF) prolyl hydroxylase inhibitor (Vadadustat), der effektiv die Hämoglobinkonzentration bei Dialysepatienten und Patienten mit Nierenerkrankungen anderer Ursachen erhöht.

HypoxiA Inducible Factor (HIF) Prolyl Hydrolase (PHI) Inhibitor: Diese Faktoren (z.B. Dapradustat) sind eine neue Klasse von Substanzen, die HIF stabilisieren und damit auch die endogene Bildung von Erythropoetin (EPO). Somit erhöht der Faktor die Hämoglobin (Hb)-Konzentration bei chronischer Niereninsuffizienz (CKD). HIFPHIs sind so effektiv wie die ESAs in der Erhöhung des Hb. Bei Patienten mit CKD unter Dialysetherapie war Daprodustat vergleichbar den ESAs wirksam. Das betraf den Anstieg der Hb-Konzentation in Relation zum Ausgangswert und die kardiovaskulären Bedingungen /49/.

Tabelle 15.11-1 Referenzbereich der Thrombozytenzahl

Thrombozytenzahl Erwachsene (109/l) Geräte-abhängig /8/

  • Abbott CD 4000

168–405

150–346

  • Advia 120

203–445

166–389

  • Coulter LH 750

166–387

137–327

  • Horiba ABX Pentra 12

179–443

168–355

  • Sysmex XE-2100

176–391

146–328

Angabe der zentralen 95 %-Masse

Frühgeburten, Neugeborene, Kleinkinder: Werte wie Erwachsene /9/. Schulkinder: Werte wie Erwachsene /10/

Mean Platelet Volume (MPV), Angabe in fl /11/

  • Abbott CD 4000

6,9–10,6

  • Advia 120

6,4–9,7

  • Coulter Gen S

7,6–10,7

  • Horiba ABX Pentra 12

6,8–10,0

  • Sysmex SE-9500

9,4–12,9

Die Werte entsprechen der Perzentilen 2,5 und 97,5.

Tabelle 15.11-2 Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Thrombozytose /12/

Kriterium

Thrombozytose

Primär

Sekundär

Alter (Jahre)

Häufig > 20, oft > 40

Alle Lebensalter

Komplikationen

Thrombose, Blutung

Sehr selten

Splenomegalie

Oft

Selten

Thrombozytenzahl

Meist ≥ 1.000 × 109/l

Häufig < 1.000 × 109/l

Dauer

> 2 Jahre

Tage bis Wochen

Thrombozyten

  • Funktion

Gestört

Normal

  • Morphologie

Groß, dysmorph

Groß, normal

Ursache

Genetischer Defekt

Reaktiv

Tabelle 15.11-3 Differenzierung der Ursache der Thrombozytopenie /15/

Untersuchung

Vermehrte Zerstörung von Thrombozyten

Verminderte Bildung von Thrombozyten

MPV

PDW

Erhöht

Verbreitert

Normal

Normal

Thrombozyten-Lebenszeit

Vermindert

Normal

Thrombozyten-assoziiertes IgG

Nachweisbar

Nicht bzw. nur gering nachweisbar

Blutungszeit

Gewöhnlich normal

Verlängert

Andere Blutzellen

Gewöhnlich normal

Oft normal

Megakaryozyten

Normal/vermehrt

Vermindert

Andere Zelllinien im Knochenmark

Normal

Oft vermindert oder abnormal

Tabelle 15.11-4 Medikamenten-assoziierte Autoimmun-Thrombozytopenie /16/

Abciximab

Acetaminophen

Acetazolamid

Allopurinol

Aminoglutethimid

Amiodaron

Amrinon

Aspirin

Carbamazepin

Carbenicillin

Cefotiam

Cefalexin

Cefalotin

Cefamandol

Chinin

Chinidin

Chlordiazepoxid

Chlorpheniramin

Chlorthalidon

Chlorthiazid

Cimetidin

Cocain

Codein

Danazol

Desipramin

Diazepam

Diclofenac

Difunisal

Digitoxin

Digoxin

Diltiazem

Eptifitabid

Erythromycin

Fenoprofen

Furosemid

Gentamicin

Goldsalze

Heparin

Hydrochlorothiazid

Hydroxychloroquin

Imipramin

Interferon

Isoniazid

Ketoprofen

Levamisol

Lidocain

Meperidin

Meprobamat

Methicillin

Methyldopa

Minoxidil

Morphin

Naproxen

Nitrofurantoin

Nomifensin

p-Aminosalicylsäure

Penicillamin

Penicillin

Pentamidin

Phenylbutazon

Phenytoin

Piperacillin

Piroxicam

Procainamid

Prochlorperazin

Prothetazin

Ranitidin

Rifampicin

Spironolacton

Sulfasalazin

Sulfonylharnstoffe

Tetracyclin

Thioguanin

Tirofabin

Ticlopidin

Trimethoprim/Sulfa Valpoinsäure

Vancomycin

Tabelle 15.11-5 Empfehlung zur Transfusion von Thrombozyten /17/

Operative Eingriffe

Grenzwert*

Hämatologie, Onkologie

Grenzwert*

Geringes Blutungsrisiko

10

Keine Blutungskomplikation

5

Große Operation

50

Solide Tumoren

10

Kardiochirurgie

20

Leukämie

10

Neurochirurgie

70–100

Chemotherapie

10

Epiduralanästhesie

80

Tumor und Thrombopenie (Prophylaxe)

20

Spinalanästhesie

50

Nekrot. Tumor

50

Diagnost. Eingriffe

Verschiedenes

Lumbalpunktion

10

Leberinsuffizienz

10

Leberpunktion

10

Leberversagen

20

Gelenkpunktion

20

Zentraler Venenkatheder

20

Zahnbehandlung

20

Große Operation bei Zahnarzt

50

Transfusionspflichtige Blutung

100

Gastrointestinale Endoskopie

20

Verlustkoagulopathie (Prophylaxe)

100

Bronchoskopie

20

Frühgeborene

50

Biopsie, transbronchial

50

Neugeborene

Kranke Neugeb.

30

50

Angiographie

20

Grenzwert in 109/l unterhalb dessen eine Transfusion von Thrombozyten erfolgen sollte.

Tabelle 15.11-6 Erkrankungen und Zustände mit primärer Thrombozytose

Myeloproliferative Erkrankungen /23/: Die myeloproliferativen Erkrankungen Polycythemia vera (PV), essentielle Thrombozythämie (ET) und die primäre Myelofibrose (MF) sind klonale Erkrankungen einer pluripotenten hämatopoetischen Stammzelle. Das führt zu einer nicht regulierten Erhöhung von Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten allein oder in Kombination.

Klinisch besteht in unterschiedlicher Häufigkeit die Tendenz zur arteriellen oder venösen Thrombose, Knochenmarkfibrose, Splenomegalie oder Transformation zur akuten Leukämie. Hämorrhagische und thrombotische Komplikationen sind bei den myeloproliferativen Erkrankungen ET, PV, MF und chronisch myeloische Leukämie (CML) häufig.

Ein Grund für die Gemeinsamkeiten von PV, ET und MF ist eine aktivierende Mutation (V617F) im Gen JAK2 (Januskinase 2), das die Tyrosinkinase kodiert. JAK2 ist ein Mitglied der Familie der Januskinasen. Diese Enzyme phosphorylieren im hämatopoetischen System Tyrosinreste an Rezeptoren (Erythropoetin, Thrombopoetin und GM-CSF) nach Bindung des Liganden und sorgen somit für die Übertragung von Signalen auf den Zellkern (siehe Abb. 15.4-2 – Homodimerer Rezeptor nach Bindung von Erythropoetin). JAK2 ist in der Regel aktiviert, wenn die Liganden (z.B. Erythropoetin) an ihre korrespondierenden Rezeptoren binden. Bei den myeloproliferativen Syndromen bewirkt eine Punktmutation den Austausch von Phenylalanin durch Valin (V617F) in der regulatorischen Domäne und somit erfolgt eine Daueraktivierung der Signalübertragung, ohne dass ein Ligand an den Rezeptor gebunden ist. Die aktivierten Kinasen stimulieren die Zellproliferation und sind resistenter gegen Apoptose. Somit haben Zellen mit Expression einer mutanten JAK 2 einen Wachstums- und Überlebensvorteil gegenüber den normalen Zellen.

Die Folge der V617F-Mutation ist, dass die Bildung von Thrombozyten bei ET und PV um das 2–15fache gesteigert ist und bei MF um das 2–8 fache. Obwohl aus der vermehrten Bildung von Thrombozyten eine erhöhte Thrombozytenzahl im Blut resultiert, besteht keine direkte Beziehung zwischen Megakaryopoese und der peripheren Thrombozytenzahl. Das beruht auf der vergrößerten Milz und der verminderten Lebenszeit der Thrombozyten bei den myeloproliferativen Erkrankungen. Besonders auffällig ist, dass bei der MF die Milz sehr groß und die Lebenszeit der Thrombozyten stark verkürzt ist. Die Thrombozytenzahlen (109/l) sind im Mittel bei PV 660, bei ET 910, bei CML 610 und bei MF 290.

Labordiagnostik: Der Nachweis der JAK2 V617F Mutation bestätigt die klinische Vermutung eines myeloproliferativen Syndroms. Da aber die Mutation bei der PV, ET und MF vorkommt ist eine Differenzierung durch molekularbiologische Bestimmung nicht möglich. Da die Mutation aber bei nahezu allen Patienten mit PV vorhanden ist, sollte bei Nachweis der Mutation primär an eine PV gedacht werden und die Präsenz einer Erythrozytose als ein wesentliches Kriterien zur Diagnostik gewählt werden. Die Inzidenz der ET hat zugenommen, seit die JAK2 V617F Mutation bestimmbar ist /24/.

– Essentielle Thrombozythämie (ET) /25/: Die ET hat eine Inzidenz von 2,5 auf 1 Mio. in der Bevölkerung. Sie ist die indolenteste Form der myeloproliferativen Erkrankungen und charakterisiert durch eine alleinige Erhöhung der Thrombozytenzahl. Die Altersverteilung ist zweigipflig mit einem Gipfel im Alter von 60 J., der Frauen und Männer gleichfalls betrifft und einem schwächeren Gipfel im beginnenden Erwachsenenalter; hier sind vorwiegend Frauen betroffen. Die ET wird durch Mutationen in den Genen JAK2 V617F oder MPL verursacht und selten durch einzelne Nukleotidvarianten der Keimbahn. Die Diagnose erfolgt nach den positiven Kriterien und Ausschlusskriterien der WHO /26/. Die ET kann sich als arterielle Thrombose mit Erhöhung der Latatdehydrogenase (LDH) präsentieren.

Laborbefunde bei der ET:

  • Thrombozytenzahl ≥ 600 × 109/l
  • Knochenmark mit überwiegender Proliferation der Megakaryopoese und deutlich erhöhter Zahl großer reifer Megakaryozyten.

Ausschlusskriterien:

  • Kein Nachweis einer Polycythämia vera (normale Masse roter Blutzellen oder Hb unter 185 g/l bei Männern und unter 165 g/l bei Frauen, nachweisbares Eisen im Knochenmark, normales Serumferritin oder normales MCV).
  • Kein Nachweis einer CML (Fehlen des Philadelphia Chromosoms oder des BCR/ABL-Fusionsgens).
  • Kein Nachweis einer chronischen idiopathischen Myelofibrose.
  • Kein Nachweis eines myelodysplastischen Syndroms; keine del(5q)-, t(3;3)(q21;q26.1)-, inv(3;3)(q21;q26.1)-Anomalie und keine signifikante granulozytäre Dysplasie, wenige, wenn überhaupt, vereinzelte Mikromegakaryozyten.
  • Kein Nachweis einer sekundären (reaktiven) Thrombozytose.
  • Megakaryozyten Morphologie 80 %.
  • Splenomegalie (Ultraschall oder CT) 26 %.
  • Abnormale Funktion der Thrombozyten 83 %

Der klinische Verlauf der ET ist wie derjenige der PV durch eine erhöhte Inzidenz von Thrombosen, der Progredienz zur Myelofibrose und zur akuten myeloischen Leukämie charakterisiert. Die Leukozytenzahl bei Diagnosestellung der Erkrankungen ist ein Risikofaktor für schwerwiegende Thrombosen, insbesondere das akute Koronarsyndrom. So hatten ET-Patienten mit der Mutation JAK2 V617F bei einer Leukozytenzahl unter 8,0 × 109/l eine Hazard Ratio für schwere Thrombosen von 1,5, diejenigen mit über 11,0 × 109/l aber von 2,0. Thrombosen treten bei ET-Patienten verstärkt bei Thrombozytosen ≥ 1.000 × 109/l auf. Die Prognose ist aber allein abhängig von der Leukozytenzahl und besser, wenn die basale Leukozytenzahl unter 11 × 109/l ist.

So waren die Raten vaskulärer Ereignisse (Angaben in 109/l) /27/:

  • Leukozyten unter 11, Thrombozyten über 1.000; Rate 1,59.
  • Leukozyten unter 11, Thrombozyten unter 1.000; Rate 2,26.
  • Leukozyten über 11, Thrombozyten über 1.000; Rate 2,88.
  • Leukozyten über 11, Thrombozyten unter 1.000; Rate 2,95.

Responsekriterien nach Therapie der ET /28/:

  • Komplette Response: Thrombozytenzahl ≤ 400 × 109/l, Leukozyten ≤ 10 × 109/l, keine Krankheits bezogenen Symptome, keine vergrößerte Milz. Reduktion der molekularen Abnormalität auf einen nicht detektierbaren Level.
  • Teilresponse: Thrombozytenzahl ≤ 600 × 109/l oder Abfall um mehr als 50 % gegenüber dem Basalwert, Leukozyten ≤ 10 × 109/l, keine Krankheits bezogenen Symptome. Reduktion der molekularen Abnormalität um mehr als 50 %.

Laborbefunde /29/: 1) Thrombozytenzahl ≥ 600 × 109/l, 2) Hämatokrit unter 0,40, 3) Speichereisen im Knochenmark anfärbbar oder normaler MCV-Wert, 4) Kein Philadelphia-Chromosom oder bcr/abl-Gen-Arrangement, 5) Fibrose des Knochenmarks a) abwesend oder b) weniger als ein Drittel und ohne deutliche Splenomegalie bzw. Leukoerythroblastose im Blutausstrich. 6) Kein Hinweis (morphologisch, zytogenetisch) auf ein MDS. 7) Keine Ursache für eine Thrombozytenzahl unter 600 × 109/l =4%, (600–999) × 109/l = 59 %, (1.000–1.499) × 109/l = 29 %, über 1.500 × 109/l = 8 %. Bei Thrombozytenzahlen (> 1.000–1.500) × 109/l besteht eine erhöhte Blutungsgefahr, da ein v. Willebrand-Syndrom durch die Verminderung hochmolekularer Multimeren des vWF erworben wird. Eine weitere Blutungsgefahr ist Aspirineinnahme von über 300 mg täglich /31/.

  • Leukozytose über 10 × 109/l = 32 %.
  • Knochenmarkpunktat; erhöhte Zellularität 17 %, Megakaryozytenzahl erhöht 79 %, abnorme Morphologie der Megagakaryozyten 80 %.
  • Splenomegalie (Ultraschall oder CT) 26 %.
  • Abnorme Plättchenfunktion 83 %.

– Polycythämia vera (PV) /23/: Die PV präsentiert sich mit einer Erythrozytose, oft mikrozytär, Leukozytose und Thrombozytose. Sie liegt auch vor, wenn nur die Kombination mit Erythrozytose und Leukozytose oder Erythrozytose und Thrombozytose bei Präsenz einer Splenomegalie besteht. Aber 7–20 % der PV-Patienten haben keine Thrombozytose und bis zu 17 % haben nur eine Erythrozytose. Die Bestimmung der JAK2 V617F Mutation, sie ist bei etwa 92 % der Patienten nachweisbar, ist deshalb ein diagnostisch wichtiges Kriterium. Siehe weiterführend Tab. 15.4-3 – Erkrankungen und Zustände mit einem verminderten Hkt.

– Familiäre essentielle Thrombozythämie (FET) /32/: Die FET ist eine seltene myeloproliferative Erkrankung, die durch eine autonom aktivierte Megakaryopoese charakterisiert ist und mit einer exzessiven Produktion von Thrombozyten einhergeht. Das Gen c-MPL das den Thrombopoetin Rezeptor kodiert und sein Ligand Thrombopoetin (TPO) regulieren die Proliferation und Differenzierung von Megakaryozyten. Die FET beruht auf einer aktivierenden Punktmutation im Gen des TPO Rezeptors. Diese führt dazu, dass in der transmembranen Domäne in Position 505 Asparagin durch Serin ausgetauscht wird (Ser505Asn).

– Hereditäre Thrombozythämie /33/: Die hereditäre Thrombozythämie ist eine autosomal dominante Erkrankung mit den klinischen Merkmalen der sporadischen ET. Sie ist charakterisiert durch eine Proliferation der Megakaryopoese und Überproduktion von Thrombozyten. Mutationen im Gen TPHO, das die TPO kodiert, führen zur erhöhten Translation der mRNA von TPHO, wodurch es zur verstärkten Synthese von TPO und vermehrten Bildung von Thrombozyten kommt.

Tabelle 15.11-7 Erkrankungen und Zustände mit sekundärer Thrombozytose

Sekundäre Thrombozytose: Bei Erwachsenen sind die häufigsten Ursachen von Thrombozytosen über 500 × 109/l /34/: Infektionen 21,9 %, reaktiver Natur (z.B. akute Blutung) 19,4 %, Gewebeschädigung 17,9 %, chronisch entzündliche Erkrankungen 13,1 %, maligne Tumoren 5,9 %, multiple Faktoren 6,1 %.

Bei Kindern bis zu 16 Jahren ergaben sich folgende Ätiologien: Infektionen 30,6 %, hämolytische Anämie 19,3 %, Gewebeschädigung 15,2 %, reaktive Thrombozytose 14,8 %, chronischen Entzündungen 4,1 %, Nierenerkrankungen 4,1 %, maligne Erkrankungen 2 % /35/.

Bei entzündlichen Erkrankungen resultiert die Erhöhung der Thrombozyten aus einer verstärkten Synthese von TPO in der Leber, die durch IL-6 stimuliert wird.

– Körperliche Anstrengung: Bei starker Anstrengung nach etwa 15 minütiger Anstieg um 50 % des Ausgangswerts, Abfall auf Ausgangswert nach etwa 30 min. Das ist z.B. auch der Fall bei der Entbindung.

– Operativer Eingriff: Bei großen operativen Eingriffen Abfall der Thrombozytenzahl während des Eingriffs, Normalisierung innerhalb von 2–6 Tagen, dann in den nächsten Tagen Anstieg um 35–150 % mit Gipfelwerten zwischen der postoperativen Woche 1 und 2 /36/.

Thrombozytosen können auch nach kardio-pulmonaler Bypass-Operation und der Korrektur von Frakturen auftreten.

– Akute Infektion: Sind die häufigste Ursache von Thrombozytosen. Im Vordergrund stehen eitrige Infektionen des Respirations-, des Gastrointestinal- und Urogenitaltrakts, hepatobiliäre Infektionen sowie Meningitiden, Sepsis und pyogene Abszesse /3435/.

Bei Kindern weist eine Thrombozytose über 700 × 109/l bevorzugt auf eine Infektion hin /37/.

– Chronische Infektion: Im Vordergrund stehen bei Erwachsenen rheumatoide Arthritiden, entzündliche Darmerkrankungen, die Tuberkulose und Autoimmunerkrankungen, hier insbesondere das Kawasaki-Syndrom.

Bei Kindern sind rheumatoide Arthritis, rheumatisches Fieber, Schönlein-Henoch Purpura und ebenfalls das Kawasaki-Syndrom zu nennen /3435/.

– Reaktive Thrombozytose: Akute Blutung, Eisenmangelanämie, Hypoxämie (anämisch, pulmonal, kardial) sind die häufigsten Ursachen bei Erwachsenen und Kindern /3435/.

– Hämolytische Anämie: Diese ist bei Kindern eine häufig diagnostizierte Ursache der Thrombozytose. Die Mehrzahl der Kinder hat eine Sichelzellanämie oder ein Thalassämie Syndrom /12/. Bei Erwachsenen ist die hämolytische Anämie für die Ätiogenese der Thrombozytose weniger bedeutsam als bei Kindern.

– Nierenerkrankung: Etwa 5 % der Erwachsenen mit Thrombozytose haben eine akute oder chronische Nierenerkrankung oder ein nephrotisches Syndrom /12/. Bei Kindern ist die Häufigkeit der Ätiogenese ähnlich /13/.

– Maligner Tumor: Bei malignen Erkrankungen kommen Thrombozytosen häufiger bei Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphomen vor als bei soliden Tumoren /12/. Bei Patienten mit soliden Tumoren im fortgeschrittenen Stadium und mit Metastasierung haben 30–60 % eine Thrombozytose, Thrombopathie oder thromboembolische Ereignisse /38/.

– Splenektomie: Die Postsplenektomie-Thrombozytose ist kein Risikofaktor für Thrombosen.

Tabelle 15.11-8 Thrombozytopenien unterschiedlicher Genese

Pseudo­thrombo­zytopenie: Bei der Pseudothrombozytopenie werden fälschlich zu wenig Thrombozyten mit Hämatologie Analyzern bestimmt. Die Abklärung erfolgt durch die Beurteilung eines Blutausstriches. Ursachen der Pseudothrombozytopenie sind:

  • Aggregat- bzw. Agglutinatbildung der Thrombozyten, z.B. EDTA-induzierte Thrombozytopenie.
  • Präsenz von Riesenplättchen, hereditär bedingt oder erworben.
  • Das Satelliten-Phänomen. Thrombozyten lagern sich im EDTA-Blut an die Oberfläche segmentkerniger Granulozyten und werden nicht mitgezählt.
  • Kälteagglutinine, die EDTA-unabhängig eine Thrombozytenagglutination herbeiführen können.

Die EDTA-induzierte Thrombozytopenie tritt mit einer Häufigkeit von etwa 0,1 % auf und beruht wahrscheinlich auf der Freilegung von Glykoproteinen der Thrombozytenmembran durch EDTA. Die Glykoproteine reagieren mit heterophilen Antikörpern unter Bildung von Agglutinaten. Erfolgt die Thrombozytenbestimmung gleich nach der Blutentnahme, wird gewöhnlich keine oder nur eine geringe Thrombozytopenie beobachtet. Sie tritt erst durch längeres Stehen des Blutes auf.

Zur Verminderung der Fehldiagnose Thrombozytopenie wird zur Verifizierung einer EDTA-induzierten Thrombozytopenie jeweils die Messung von EDTA-, Citrat- und Heparinblut empfohlen sowie die mikroskopische Untersuchung auf Agglutinate.

Schwangerschaft /39/: Die Thrombozytenzahl nimmt während der Schwangerschaft bei allen Frauen, beginnend ab dem ersten Trimester, ab. Bei Frauen mit einer Thrombozytenzahl unter 100 × 109/l muss eine andere Ursache der Thrombozytopenie in Erwägung gezogen werden. Siehe Tab. 15.11-9 – Thrombozytopenien in der Schwangerschaft. Nach einer Studie /39/ haben zum Zeitpunkt der Entbindung 9,9 % der nicht-komplizierten Schwangerschaften eine Thrombozytenzahl unter 150 × 109/l. Während des Verlaufs der nicht komplizierten Schwangerschaft und Entbindung hatten nur 1 % der Frauen eine Thrombozytenzahl unter 100 × 109/l. Thrombozytenzahlen unter 150 × 109/l zum Zeitpunkt der Entbindung waren häufiger bei Frauen mir Schwangerschafts assoziierten Komplikationen (11,9 % gegenüber 9,9 %).

Neonatale Thrombo­zytopenie: Neugeborene mit schweren Thrombozytopenien können Blutungen erleiden, die zum Tode oder schweren lebenslangen Defekten führen. In einer Studie /40/, bei der das Nabelschnurblut von über 15.000 Neugeborenen und deren Müttern untersucht wurde, hatten 19 Neugeborene (0,12 %) eine Thrombozytenzahl < 50 × 109/l. Von 756 Müttern mit inzidenteller Thrombozytopenie, 1.414 mit Bluthochdruck und 46 mit idiopathischer thrombozytopenischer Purpura (ITP) hatten jeweils 1, 5 und 4 Neugeborene Thrombozytopenien von (20–50) × 109/l. Sechs Neugeborene hatten Werte < 20 × 109/l, alles waren Kinder, für die das Risiko einer Neonatalen Allo-Immun-Thrombozytopenie (NAIT) bestand. Die Studie zeigt, dass schwere Thrombozytopenien bei Neugeborenen von Müttern mit inzidenteller Thrombozytopenie, Hypertonie und ITP selten sind, tritt eine Thrombozytopenie auf, ist sie häufig mit einer FNAIT verknüpft.

Fetale und neonatale Alloimmune Thrombo­zytopenie (FNAIT) /41/: Die FNAIT resultiert aus einer Alloimmunisierung gegen vom Vater ererbte Thrombozytenmerkmale. Die Mutter, die dieses Merkmal nicht besitzt, bildet dagegen IgG-Antikörper. Diese passieren die Plazenta und beladen die kindlichen Thrombozyten ab der 14. SSW, die dann vorzeitig aus dem Blut entfernt werden. Inzidenz 1 auf 800–1.000 Geburten. 24 Human platelet specific alloantigens (HPA) sind bekannt. Bei Kaukasiern liegt zu 80 % anti-HPA-1a vor. Der Antikörper ist gegen den polymorphischen Leu/Pro Rest des Glykoproteins IIIa auf der Thrombozytenmembran gerichtet. Anti-HPA-5b ist mit 15 % der zweithäufigste Antikörper. Etwa 10 % der HPA-1a negativen Frauen, die mit einem HPA-1a positiven Kind schwanger waren, haben Antikörper.

Hinweise auf eine mögliche FNAIT ergibt die Anamnese, wenn Schwestern oder nahe Verwandte Kinder mit einer Thrombozytopenie geboren haben und die Bestimmung der Antikörperkonzentration gegen HPA. Die Mütter haben eine normale Thrombozytenzahl. Die Alloimmunisierung ist assoziiert mit dem HLA-DRB3*0101 Allel, das 90 % der immunisierten Frauen haben.

Klinik: Die FNAIT ist die häufigste Ursache der schweren Thrombozytopenie, macht 3 % aller fetalen und neonatalen Thrombozytopenien aus und 27 % der schweren Fälle (definiert als eine Thrombozytenzahl < 50 × 109/l). Die Klinik ist different, von vereinzelten Petechien bis zur intrakraniellen Blutung (ICH), die in 7–26 % der Fälle erfolgt. Die ICH findet zu 80 % intrauterin statt und zu 42 % vor der SSW 32. Bei Neugeborenen mit Blutungszeichen und Thrombozyten < 30 × 109/l ist die Thrombozytentransfusion indiziert. Die häufigsten anderen Ursachen einer FNAIT sind Infektionen und die autoimmune Thrombozytopenie.

Labor: Bestimmt wird bei der Mutter der HPA-Antikörpertiter, z.B. in der 22. und/oder 34. SSW unter Anwendung des MAIPA-Technik (siehe Beitrag 17.4 – Alloimmunthrombozytopenie) und beim Neugeborenen die Thrombozytenzahl. Es besteht eine Assoziation zwischen der Schwere der Thrombozytopenie und der Antikörperkonzentration. In einer Studie /42/ betrug bei einem Anti-HPA-1a-Grenzwert > 3,0 IU/ml für die schwere FNAIT (Thrombozytenzahl < 50 × 109/l) die diagnostische Sensitivität 93 % bei einer Spezifität von 63 %. Der positive prädiktive Wert war 54 % der negative 95 %. Von den 338 Neugeborenen mit NAIT hatten 105 Thrombozytenwerte < 50 × 109/l und 233 Werte darüber. Die Normalisierung der Thrombozytenzahl erfolgte innerhalb von 4 Wochen, oft sogar nach 7–10 Tagen. Die Bestimmung der Thrombozytenmekmale bei der Mutter ergab den Genotyp HPA-1A1/1A2, das Baby und der Vater waren positiv für das Antigen HPA-1A1.

Operativer Eingriff: Thrombozytenzahlen > 50 × 109/l erfordern präoperativ keine Substitution von Thrombozyten, da die selten auftretenden Blutungskomplikationen intraoperativ behandelt werden können. Bei Zahlen von (50–80) × 109/l können operative Eingriffe, bei denen Blutungen leicht zu erkennen oder leicht zu stillen sind, durchgeführt werden. Bei Operationen in Körperhöhlen (Schädel, Thorax, Abdomen), bei denen Blutungen erst spät erkannt werden, ist die prä-, intra- und postoperative Anhebung der Thrombozyten auf über 80 × 109/l erforderlich /43/.

Postoperative Thrombo­zytopenie: Postoperative Thrombozytopenien werden besonders nach kardiovaskulären Operationen, nach Operation von Aneurysmen oder peripherem Gefäßersatz sowie nach orthopädischen Eingriffen, z.B. Hüftgelenksersatz, gesehen /44/. So wird auf chirurgischen Intensivstationen während des Aufenthalts mindestens einmal eine Thrombozytopenie unter 100 × 109/l bei 20–40 % der Patienten und eine Thrombozytopenie unter 50 × 109/l bei 10–20 % gesehen /45/.

Milde bis mäßige Thrombozytopenien treten nach Transfusion größerer Mengen Blut auf. So führt z.B. der komplette Ersatz von Erythrozyten durch z.B. 11 Erythrozytenkonzentrate bei einem 75 kg schweren Patienten zu einer Verminderung der Thrombozyten von 250 × 109/l auf 80 × 109/l. Blutungen treten jedoch allgemeinen postoperativ erst dann auf, wenn die Thrombozytenzahl auf unter 60 × 109/l abfällt und zusätzlich noch ein Mangel an Gerinnungsfaktoren auftritt, z.B. durch einen Vitamin K-Mangel, eine verminderte Leberfunktion oder Plasmaverdünnung /44/.

Bedeutungsvoll kann eine Thrombozytopenie auch werden, sobald bei einer postoperativen Thromboseprophylaxe mit Heparin in Folge des fehlenden Plättchenfaktors 4 das Heparin nicht genügend schnell neutralisiert wird und es zu einer Kumulation der Heparinkonzentration im Blut mit daraus resultierender Blutung kommt.

Eine postoperative Thrombozytenzahl unter 60 × 109/l ist verdächtig auf Sepsis, auch wenn kein Fieber vorliegt, auf eine DIC oder eine Heparin-assoziierte Thrombozytopenie /44/.

Bei Gabe von Thrombozytenkonzentraten und bestehender gemischter Population aus eigenen und Fremdthrombozyten im zirkulierenden Blut, ist der Therapieeffekt maximal 4 Tage. Der eigentliche Substitutionseffekt von Fremdthrombozyten aus Thrombozytenkonzentraten beträgt nur 1 Tag.

Sepsis /45/: Bei Sepsispatienten nimmt die Thrombozytenzahl in den ersten 4 Tagen nach Aufnahme auf die Intensivstation ab. Die Inzidenz beträgt 35–44 % für eine Thrombozytenzahl unter 150 × 109/l, 20–25 % für unter 100 × 109/l und 12–15 % für unter 50 × 109/l.

Posttrans­fusionelle Purpura (PTP): Bei der PTP handelt es sich um eine verzögerte Reaktion auf Transfusion. 5–10 Tage nach einer Thrombozytentransfusion oder von Thrombozyten haltigen Erythrozytenkonzentraten treten schwere Blutungen, bedingt durch eine massive Thrombozytopenie auf. Die Ursache beruht auf einer oft viele Jahre zurückliegenden Immunisierung gegen ein thrombozytäres Alloantigen, meist HPA-1A. Die Antikörper wurden während der Schwangerschaft oder nach einer Thrombozytentransfusion gebildet. Eine erneute Antigenexposition führt zur Immunreaktion mit Elimination der Thrombozyten. Dabei werden nicht nur die unverträglichen Thrombozyten geschädigt, sondern auch die autologen Plättchen als Innocent bystanders in die Reaktion mit einbezogen /46/.

Klinik: Mit einer Woche Verzögerung nach der Transfusion tritt eine massive hämorrhagische Diathese auf. Betroffen sind vor allem Frauen.

Labordiagnostik: Die Thrombozytopenie kann unter 10 × 109/l betragen, nach 3–75 Tagen wieder Anstieg auf über 100 × 109/l.

Immunthrombo­zytopenien (ITP): Die ITP wird hervorgerufen durch IgG-Antikörper, die zur Zerstörung der Thrombozyten führt und deren Produktion hemmt. Das wesentliche klinische Symptom ist die Blutung, die mit dem Ausmaß der Thrombozytopenie korreliert. Die ITP kann primärer oder sekundärer Natur sein. Eine internationale Arbeitsgruppe /47/ hat die Terminologie und Definitionen der ITP standardisiert:

  • Primäre ITP: Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung mit isolierter Thrombozytopenie (unter 100 × 109/l ) in der Abwesenheit anderer Ursachen, die mit einer Thrombozytopenie assoziiert sein können. Die primäre ITP ist eine Ausschlussdiagnose, denn bisher sind keine robusten Labor- oder klinischen Kriterien verfügbar. Das Problem der primären ITP ist das Blutungsrisiko.
  • Sekundäre ITP: Alle Formen der immun vermittelten Thrombozytopenie, außer der primären.
  • Neu diagnostizierte ITP: Liegt zeitlich innerhalb von 3 Monaten nach der Diagnose.
  • Persistierende ITP: Liegt zeitlich innerhalb von 3–12 Monaten nach der Diagnose. Sie schließt Patienten ohne Spontanremission oder ohne komplette therapeutische Remission ein.
  • Chronische ITP: Besteht schon länger als 1 Jahr.
  • Schwere ITP: Patient kommt mit neu aufgetretener Blutung oder blutet wieder nach Therapie.

Die primären ITPs machen etwa 80 %, die sekundären etwa 20 % aus, wenn die Medikamenten-bedingte ITPs unberücksichtigt bleiben /48/.

– Primäre ITP: Autoantikörper gegen Thrombozytenantigene sind die Ursache. Bei einigen Patienten sind diese gegen ein singuläres Glykoprotein gerichtet bei anderen gegen mehrere. Bei den Antigenen handelt es sich um auf der Thrombozytenmembran gelegene Glykoproteine, z.B. GP IIb/IIIa, GP Ia/IIa, GP I/IX. Sicher gestellt werden muss beim Nachweis von Antikörpern gegen diese Proteine, dass es sich um Autoantikörper handelt und nicht um Alloantikörper wie die häufigen HLA-Klasse-I-Antikörper. Siehe weiterführend Beitrag 17.2 – Autoimmunthrombozytopenie.

– Sekundäre ITPs /48/: Den verschiedenen Formen der sekundären ITPs liegen unterschiedliche immunologische Voraussetzungen zu Grunde.

– Akute Immunthrombozytopenie des Kindesalters: Etwa zwei Drittel der Kinder mit ITP haben eine vorausgehende fiebrige Erkrankung. Es wird angenommen, dass die Thrombozyten virale Antigene exprimieren oder Immunkomplexe binden, gegen die virale Antikörper gebildet werden. Es kommt dann zur Kreuzreaktion mit den Thrombozytenantigenen. Auch soll die Thrombozytopenie auf einer Infektion der Makrophagen mit konsekutiver Hämophagozytose und verstärkter Clearance der Megakaryozyten beruhen. Etwa 80 % der Thrombozytopenien normalisieren innerhalb von 6–12 Monaten.

– Masern-Mumps-Röteln-Vakzine (MMR): Eine akute ITP kann nach Impfung gegen verschiedene Viren wie MMR auftreten, aber auch gegen Pneumokken, Hämophilus influenzae, Hepatitis B und Varizella zoster. Nach der Impfung mit MMR-Vakzine ist die Prävalenz der ITP 6 fach höher. Die Thrombozytopenie ist oft schwer, entwickelt sich innerhalb von 72 Tagen und normalisiert nach 2 Monaten.

– Helicobacter pylori (HP): Es besteht eine Assoziation zwischen HP-Infektion und ITP. Die Pathogenese beruht auf einem Molekularen mimikry, wobei HP-induzierte Antikörper mit thrombozytären Antigenen kreuzreagieren. Eine veränderte mukosale Permeabilität und/oder bakterielle Eradikation durch die Behandlung mit Protonenpumpenhemmer und Antibiotika soll bei Patienten mit HP-Antikörpern die Immunreaktion gegen Thrombozyten in Gang setzen. Die Thrombozyten werden aktiviert durch die Bindung von HP-Antikörpern an FcγIIa der Thrombozyten oder durch eine Interaktion von HP-Antikörper-gebundenen von Willebrand-Faktor und dem Thrombozytenprotein GPIb. Eine Thrombozytopenie wird berichtet unter bakterieller Eradikation zu 0–7 % in den USA und 100 % in Japan. Patienten mit ITP und einer Thrombozytenzahl über 30 × 109/l sollten beobachtet, diejenigen mit Werten darunter mit Kortikosteroiden behandelt werden /49/.

– Zytomegalie (CMV): Die CMV-Infektion verursacht eine schwere kongenitale ITP und ein verzögertes Ingangkommen der Thrombopoese bei Knochenmarkstransplantation. Auch immunsupprimierte und immunkompetente Personen können eine ITP-ähnliche Symptomatik bei CMV-Infektion erleiden.

– Varizella zoster (VZV): Eine VZV-ITP entwickelt sich bei 5 % der Kinder mit akuter Varizella zoster-Infektion innerhalb von 5 Tagen nach Ausbruch des Exanthems. Die spontane Remission erfolgt bei den nicht fulminanten Fällen innerhalb von 2 Wochen. In seltenen Fällen entwickelt sich die ITP erst mehrere Wochen nach Ausbruch des Exanthems.

– Hepatitis C: Etwa 20 % der Patienten mit ITP haben HCV-Antikörper. Das HCV strukturelle Protein E2 soll durch die Bindung an CD81 polyklonale B-Zellen aktivieren und zu einer B-Zellaktivierung führen. Es kommt zur Bildung von Antikörpern gegen Glykoproteine der Thrombozyten. Die Thrombozytenzahlen betragen unter 50 × 109/l.

– HIV-Infektion: Thrombozytenzahlen unter 150 × 109/l werden bei 5–30 % der HIV-Patienten berichtet. Die 1-Jahresinzidenz der ITP-HIV mit einer Thrombozytenzahl unter 50 × 109/l betrug bei der Untersuchung von 36.515 Patienten 3,7 %. Die Ursachen der ITP-HIV sind multifaktoriell.

– Chronisch lymphatische Leukämie (CLL): Die ITP-CLL entwickelt sich bei 1–5 % der CLL-Patienten und hat in etwa ein Zehntel der Inzidenz der autoimmunhämolytischen Anämie. Im Mittel bildet sich die ITP 13 Monate nach Diagnostik der CLL aus, kann dieser aber auch vorausgehen und sich zu jedem Zeitpunkt entwickeln.

– M. Hodgkin: Beim M. Hodgkin beträgt die Prävalenz der ITP 0,2–1 %.

– Large granular lymphocyte leukemia (LGL): Es handelt sich um eine klonale Proliferation von CD8+T-Zellen. Anämie, Neutropenie und eine leichte Thrombozytopenie sind bei diesen Patienten häufig. Eine schwere ITP wird bei 1 % der Patienten gesehen.

– Common variable immunodeficiency (CVID): Mehr als 10 % der CVID Patienten entwickelt eine ITP mit einer Thrombozytenzahl von 20 × 109/l. Die Pathogenese der Antikörperbildung ist unbekannt.

– Autoimmunes lymphoproliferatives Syndrom (ALPS): Das ALPS ist eine hereditäre Erkrankung, die durch eine defekte Apoptose von T- und B-Zellen charakterisiert ist. Es besteht eine benigne Hepatosplenomegalie und Lymphadenopathie. Etwa 20 % der Patienten entwickeln eine ITP.

– Evans Syndrom: Beim Evans Syndrom besteht eine Koinzidenz von ITP und autoimmunhämolytischer Anämie (AHA), bedingt durch Wärmeantikörper, meistens gerichtet gegen das Rh-System. Etwa 50 % der Patienten haben eine Neutropenie und 10 % eine Panzytopenie. Die ITP kann der AHA Jahre vorausgehen manches Mal aber auch folgen.

– Antiphospholipid-Syndrom (APS): Viele Patienten mit APS haben eine Thrombozytopenie. Wird diese diagnostiziert, stellt sich die Frage, ob die Thrombozytopenie durch Antikörper oder durch eine Aktivierung der Gerinnung bedingt ist. Bei der ITP werden Antikörper gegen Glykoproteine der Thrombozyten nachgewiesen und die Titer korrelieren besser mit dem Ausmaß der Thrombozytopenie als die Phospholipidantikörper. Die Thrombozytopenie ist mild bis moderat. Schwere Thrombozytopenien korrelieren mit dem Risiko einer Thrombose. Die Thrombozytenwerte sollten auf (40–50) × 109/l gehalten werden.

– Systemischer Lupus erythematodes (SLE): Die Thrombozytopenie beim SLE ist generell nicht schwer und wird bei einem Drittel der Patienten diagnostiziert. Umgekehrt haben 2–5 % der ITP-Patienten einen SLE. Die Thrombozytopenie entwickelt sich im Verlaufe der Erkrankung. Die Pathogenese der ITP beim SLE ist vielfältig, da Autoantikörper gegen Glykoproteine der Thrombozyten, gegen DNA, Phospholipide und Phospholipid-bindende Proteine, CD40-Ligand sowie Thrombopoetin und seinen Rezeptor vorliegen können.

– Posttransplantations-ITP: Eine ITP kann sich nach Transplantation des Knochenmarks und Transplantation anderer Organe ausbilden. Das kann schon nach 1 Tag oder erst nach 1 Jahr erfolgen. Der Verlauf kann fatal sein, aber auch eine Remission ist möglich.

Medikamenten induzierte Thrombozytopenie (MIT): Medikamente können eine Immunantwort induzieren, die zum Abbau von Thrombozyten führt. Substanzen die mit dieser unerwünschten Nebenwirkung in Verbindung stehen sind in Tab. 15.11-4 – Medikamenten assoziierte Thrombozytopenie aufgeführt. Die Diagnose einer MIT ist schwierig bei Patienten die mehrere Medikamente einnehmen. Etwa 1 von 100.000 Patienten mit Medikamenteneinnahme entwickelt eine Immunthrombozytopenie /50/. Eine Schwierigkeit besteht in der differentialdiagnostischen Abgrenzung, da sich Immunthrombozytopenien auch im Rahmen von Erkrankungen entwickeln, und bei schwer kranken Patienten auch ohne die Einwirkung von Medikamenten Thrombozytopenien häufig sind.

Bei den Medikamenten bedingten Immunthrombozytopenien liegen oft Antikörper gegen eines oder beide Glykoproteine GPIb und GPIIb/IIIa vor. Die Thrombozytenzahl kann unter 10 × 109/l betragen, Petechien oder eine Purpura sind häufig. Die meisten haben Hautblutungen, 10 % gastrointestinale und urogenitale Hämorrhagien und 2 % intrakranielle Blutungen. Gewöhnlich tritt der Thrombozytensturz in der ersten Woche nach Einnahme des Medikamentes auf, nach Absetzen kommt es innerhalb von 2 Wochen zum Anstieg /16/.

Glykoprotein IIb/IIIa Rezeptor-Antagonisten: Thrombozytopenien unter 100 × 109/l bzw. unter 50 × 109/l treten unter Medikation auf /51/:

  • Bei Abcicimab zu 2,5–6 % bzw. 0,4–1,6 %, nach Absetzen und Reexposition kommt es zu Thrombozytopenien unter 20 × 109/l.
  • Bei Eptifibatid zu 1,2–6,8 % bzw. 0,2 %, nach Absetzen kann es schon 2 h nach Reexposition zu einer Thrombozytopenie um unter 20 × 109/l kommen.
  • Bei Tirofiban zu 1,1–1,9 %, bzw. 0,2–0,5 %.

Etwa 1/3 der schweren Thrombozytopenien nach Abcicimab sind Pseudothrombozytopenien.

Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) – Siehe weiterführend Beitrag 17.5 – Heparin-induzierte Thrombozytopenie: Die HIT ist eine zur Thrombose führende Medikamentenreaktion, die durch Thrombozyten aktivierende Antikörper hervorgerufen wird. Diese reagieren mit Komplexen, bestehend aus Plättchenfaktor 4 (PF4) gebundenen Heparin. Bei den meisten Patienten liegen IgG-Antikörper vor, die an PF4-Heparin-Komplexe auf der Thrombozytenoberfläche binden und die Fc-Rezeptoren der Thrombozyten kreuzvernetzen, wodurch die Thrombozyten aktiviert werden. Als Folge resultiert eine prokoagulatorische Antwort mit dem erhöhten Risiko einer arteriellen oder venösen Thrombose. Im Vergleich zu seropositiven Kontrollen entwickeln HIT-Patienten schon vor Ausbildung einer Thrombozytopenie eine signifikant höhere Anti-PF4-Heparin-IgG Konzentration /52/. Die Bildung von Anti-PF4-Heparin-IgG erfolgt nicht wie eine typische primäre Immunreaktion. Der kritische Zeitraum einer Immunantwort liegt 5–14 Tage nach Applikation von Heparin /53/.

Maligner Tumor: Thrombozytopenien sind häufig bei Patienten mit soliden Tumoren und malignen hämatologischen Erkrankungen /54/. Sie können bedingt sein durch:

  • Eine Verdrängung der Megakaryopoese im Knochenmark, was z.B. bei metastasierenden soliden Tumoren, Leukämie, multiplem Myelom und fortgeschrittenem Lymphom der Fall sein kann.
  • Einen Tumor assoziierten Hypersplenismus mit Sequestration von Thrombozyten oder Metastasierung in die Milz, was aber weniger häufig ist.
  • Tumor assoziierte disseminierte intravasale Gerinnung, z.B. bei Promyelozytenleukämie, mucinösem Adenokarzinom der Prostata, Pankreaskarzinom mit Freisetzung von Enzymen, die zu einer Aktivierung der Gerinnung führen.
  • Chemo- oder Strahlentherapie. Sie ist die häufigste Ursache der Tumor bedingten Thrombozytopenie, da weltweit täglich etwa 300.000 Patienten Chemotherapiekurse durchlaufen, die zu einer Thrombozytopenie führen. 1–3 Wochen nach Suppression der Thrombozytenzahl kommt es zu einem Wiederanstieg. Nach Gabe von Mitomycin C oder Nitrosoharnstoffen kann eine längerfristige Thrombozytopenie auftreten.

Von Willebrand Erkrankung – Plättchen Typ. Der Plättchen Typ der von Willebrand Erkrankung ist eine angeborene Erkrankung der Thrombozyten, die durch Gain-of-function variants in GP1BA bedingt und charakterisiert ist durch Thrombozytopenie und große Thrombozyten. Es besteht eine Kombination von pathogenen Mechanismen. Diese sind die verminderte Bildung von Thrombozyten durch die Megakaryozyten, die ektopische Freisetzung der Thrombozyten aus dem Knochenmark und die verstärkte Clearance der Komplexe aus Thrombozyten und von Willebrand Faktor /55/.

Tabelle 15.11-9 Thrombozytopenien in der Schwangerschaft

Incidentelle Thrombo­zytopenie: Die incidentelle Thrombozytopenie wird erst zum Zeitpunkt der Entbindung diagnostiziert, betrifft etwa 5 % der Schwangeren, macht 75 % der Thrombozytopenien in der Schwangerschaft aus und geht mit Thrombozytenzahlen über 100 × 109/l einher. Nach der Entbindung normalisiert die Plättchenzahl wieder. Sie kann bei weiteren Schwangerschaften wieder auftreten. Der Knochenmarkbefund ist normal. Die Hämostase ist nicht beeinträchtigt. Die incidentelle Thrombozytopenie ist eine Ausschlussdiagnostik /56/.

Präeklampsie: Bei ansonsten normaler Schwangerschaft entwickelt sich eine Thrombozytopenie gemeinsam mit einer Schwangerschafts-assoziierten Hypertonie (Präeklampsie). Präeklampsie und Thrombozytopenie werden bei 1–2 % der Schwangerschaften gesehen und 50 % der Fälle mit Präeklampsie haben in der Schwangerschaft eine Thrombozytopenie. 13–15 % der Thrombozytopenien in der Schwangerschaft sind durch eine Präeklampsie bedingt. Die Plättchenzahlen liegen über 75 × 109/l. Innerhalb von 72 h nach Entbindung kommt es zu einem Thrombozytenanstieg /56/. Weitere pathologische Laborbefunde sind die Erhöhung der LDH und der Nachweis von Fragmentozyten im Blutausstrich. Fragmentozyten werden auch bei der mikroangiopathischen Thrombozytopenie nachgewiesen.

Immunthrombo­zytopenie: Sie hat eine Inzidenz von 1–2/10.000 Schwangerschaften und macht 1–2 % der Schwangerschafts-assoziierten Thrombozytopenien aus. Der gemeinsame Beginn von ITP und Schwangerschaft ist nicht ungewöhnlich. Die Thrombozytenzahlen liegen gewöhnlich unter 50 × 109/l, eine Plättchenzahl über 30 × 109/l ist selten mit einer Blutung assoziiert. Schnittentbindungen werden ohne Blutungskomplikationen bei Thrombozytenzahlen über 70 × 109/l toleriert /57/.

HELLP-Syndrom: Dieses Syndrom umfasst eine mikroangiopathische hämolytische Anämie mit Ödemen, Bluthochdruck und Proteinurie.

Labordiagnostik: Schistozyten im Blutausstrich, Thrombozytopenie unter 100 × 109/l, in schweren Fällen unter 50 × 109/l, Erhöhung von Bilirubin, LDH und AST. Da viele Patienten mit HELLP-Syndrom eine Hypertonie und Proteinurie haben ist die klinische Überlappung mit der Präeklampsie gegeben. 4–12 % der Patienten mit Präeklampsie haben auch die diagnostischen Kriterien des HELLP-Syndroms /58/.

HIV-Infektion: Die Thrombozytopenie ist häufig bei der HIV-Infektion, auch schon zu Beginn. In einer Studie /59/ hatten von 26 HIV positiven Schwangeren 18 eine Thrombozytopenie und 12 Werte der Thrombozyten unter 50 × 109/l. Bei 13 Schnittentbindungen gab es postoperativ 4 Blutungskomplikationen.

Tabelle 15.12-1 Referenzbereiche der Leukozyten (Angaben in 109/l)

Alter

Total

Segmentkernige

Eosinophile

Basophile

Lymphozyten

Monozyten

Fetus /3/

3,4 ± 0,9

0,2 ± 0,1

0,08 ± 0,1

0,02 ± 0,02

2,6 ± 0,7

0,2 ± 0,1

Nabelschnur­blut /4/

6,2–17,7

Kaiserschnitt

7,3–48,0

Spontangeburt

4,2–40,3

Kaiserschnitt, Notfall

Kinder /5, 6/

  • 1–14 Tg.

6,5–15,0

2,0–10,0

0–0,8

3,0–7,5

0–3,0

20–60 %

0–8 %

0–2,5

18–55 %

2–20

  • 15–180 Tg.

6,5–15,0

1,5–6,5

0–0,5

2,0–8,0

0–3,0

15–60 %

0–5 %

0–1,2 %

18–65 %

5–20 %

  • 0,5–< 2 J.

6,5–15,0

2,0–9,0

0–0,3

1,6–7,0

0,4–2,0

20–70 %

0–4 %

0–1,1 %

18–60 %

5–15 %

  • 2–< 6 J.

5,0–12,0

2,0–8,0

0–0,3

1,5–4,5

0,3–1,2

30–75 %

0–4 %

0–1,0 %

13–55 %

4–10 %

  • 6–< 12 J.

4,5–11,0

2,0–7,5

0–0,4

1,2–3,6

0,3–0,9

40–75 %

0–5 %

0–1,0 %

13–50 %

4–10 %

  • 12–< 18 J.

4,5–10,5

2,0–7,5

0–0,3

1,0–3,2

0,4–1,3

40–75 %

0–5 %

0–1,0 %

13–45 %

4–8 %

Erwachsene /7/

+

+

  • Abbott CD 4000

4,0–11,2

2,0–7,7

0,03–0,45

0,007–0,09

1,2–3,6

0,23–0,82

3,9–10,1

1,7–7,0

1,1–3,2

0,25–0,94

  • Advia 120

4,0–11,2

2,1–7,7

0,03–0,47

0,02–0,11

1,2–3,5

0,20–0,65

3,8–10,3

1,8–7,0

1,1–3,1

0,24–0,73

  • Coulter LH 750

4,0–11,2

2,2–7,5

0,04–0,40

0,00–0,10

1,1–3,5

0,26–0,81

3,9–10,9

2,0–6,7

1,2–3,0

0,29–0,86

  • Horiba Pentra12

4,0–11,5

2,2–7,9

0,06–0,78

0,02–0,27

1,1–3,5

0,22–0,93

3,9–10,3

1,8–6,7

1,1–3,1

0,25–0,90

  • Sysmex XE-2100

3,9–10,4

1,9–7,3

0,03–0,44

0,01–0,08

1,2–3,6

0,25–0,85

3,7–9,9

1,8–6,2

1,1–3,2

0,25–0,85

  • Relativ % /8/

40–75

0,5–7

0,2–1,5

17–47

4–12

Die Werte für Feten der SSW 20–27 sind als x ± s angegeben. Die Werte für Kinder wurden aus drei Studien gemittelt, da die Schwankungen erheblich sind. In den drei Studien sind die 2,5- und 97,5 Perzentilen angegeben. Die Werte für Kinder wurden mit folgenden Hämatologie Analyzern ermittelt: Bayer H3, Bayer Advia 120, Coulter STKS. Für Erwachsene sind die 2,5- und 97,5-Perzentilen angegeben bei den Absolutwerten.

Tabelle 15.12-2 Kinetik der neutrophil granulozytären Zellreihe /10/

Vorläuferzellen

  • Mittlere Verweilzeit im mitotischen Pool (Myeloblast bis Myelozyt)

7–9 Tage

  • Mittlere Verweilzeit im postmitotischen und Speicherpool (Metamyelozyt bis PMN)

3–7 Tage

Polymorphkerniger neutrophiler Granulozyt (PMN)

  • Mittlere Halbwertszeit in der Zirkulation

6 h

  • Neutrophilenzahl im Körperpool*

4,6 × 1011

  • Zirkulierender Pool im Gefäßystem*

2,2 × 1010

  • Randpool des Gefäßsystems*

2,3 × 1010

  • Täglicher Turnover*

1,0 × 1011

* Bezogen auf ein Körpergewicht von 70 kg

Tabelle 15.12-3 Kriterien der neonatalen Sepsis

Manroe-Kriterien /9/

Zwei oder mehr Kriterien müssen erfüllt sein.

  • I/T Neutrophilenverhältnis über 0,16
  • Neutrophilenzahl unter 7,5 × 109/l oder über 14,5 × 109/l
  • Unreife Neutrophile über 1,4 × 109/l

Rodwell-Kriterien /14/

Drei oder mehr Kriterien müssen erfüllt sein.

Manroe-Kriterien, plus:

  • I/M-Verhältnis ≥ 0,30
  • Leukozytenzahl ≤ 5,0 × 109/l oder über 25 × 109/l
  • Degenerative Veränderungen der Neutrophilen
  • Thrombozytenzahl ≤ 150 × 109/l

I, unreife Granulozyten; T,Gesamt-Granulozyten; M, reife Granulozyten

Tabelle 15.12-4 Erkrankungen und Zustände mit Neutrophilie /10/

Stress – Seelisch und körperlich: Eine Neutrophilie wird durch die Ausschüttung von Katecholaminen stimuliert, da PMN des marginalen Pools in den Zentralstrom eintreten. Das Kapillarbett der Lunge ist der Hauptort des marginalen Pools. Es nimmt auch die Zahl der Lymphozyten und Monozyten zu. Es werden Leukozytenzahlen von 20 × 109/l erreicht. Die Leukozytose bei akuten Infektionen und nach Glukokortikoidgabe zeigt keinen Anstieg von Lymphozyten und Monozyten. Nach einem Marathonlauf nehmen die Leukozytenzahl um 230 %, die PMN um 330 % und die Zahl der unreifen Granulozyten um 150 % /34/.

Raucher: Die Leukozytenzahl liegt bei Rauchern im Mittel um 10 % höher als bei Nichtrauchern. Schon bei einer Zahl von 4–5 Zigaretten täglich beginnt der Anstieg. Starke Raucher können Werte bis 15 × 109/l haben. Nahezu alle Subpopulatinen der Leukozyten sind gleichmäßig erhöht /35/.

Schwangere /36/: Die Leukozytenzahl nimmt in der Schwangerschaft zu, vorwiegend durch Anstieg der polymorphkernigen Granulozyten (PMN). So hatten Frauen folgende PMN Werte in 109/l: Nicht-Schwangere 3,70 ± 1,43, Schwangere 1. Trimester 6,46 ± 1,64, Schwangere 2. Trimester 7,70 ± 1,67, Schwangere 3. Trimester 7,37 ± 1,76.

Neugeborene: Die Leukozytenzahlen betragen (5–30) × 109/l. Werte darüber oder darunter weisen auf eine bakterielle Infektion hin. Hinweisend ist auch die I/T-Ratio. Eine Ratio unreifer (I,immatur) Leukozyten zu totalen Leukozyten (T, total) ≥ 0,5 am ersten und > 0,2 ab dem zweiten Lebenstag.

Infektionen – Bakterien: Bakterielle Infektionen verursachen eine Neutrophilie. Vermehrt sind vorwiegend PMN, aber auch stabkernige und jugendliche Granulozyten. Letztere treten nur bei starkem Stimulus auf. Bakterielle Infektionen verursachen Neutrophilien von (15–25) × 109/l, seltener bis > 50 × 109/l. Linksverschiebung und toxische Granulation sind häufig. Bei Sepsis, besonders bedingt durch gram-negative Bakterien, kann es zur Ausbildung einer Neutropenie kommen. Akute Infektionen, die mit einer Milzschwellung einhergehen wie Typhus abdominalis führen, wenn überhaupt, nur initial zu einer leichten Neutrophilie.

Leukämoide Reaktion: Sie tritt bei schweren systemischen Infektionen auf, z.B. Sepsis, Miliartuberkulose, aber auch bei schweren Hämolysen. Die Leukozytose ist > 25 × 109/l. Es treten Zellen aus dem mitotischen Kompartiment wie Myelozyten, Promyelozyten und Myeloblasten in das Blut über. Im Unterschied zur chronisch myeloischen Leukämie sind alle Vorstufen der Granulopoese vorhanden und es besteht kein Hiatus leukämicus.

– Pilz-, Parasiten-, Virusinfektion: Diese Infektionen bewirken nur eine Leukozytose bis 20 × 109/l, eine Neutrophilie ist oft nur in der Frühphase vorhanden. Virusinfektionen gehen häufig mit einer Neutropenie einher.

Chronisch-entzündliche Erkrankung: Es kann zu einer Steigerung der neutrophilen Granulopoese bis zum 3 fachen des oberen Wert des Referenzbereichs kommen, z.B. bei rheumatoider Arthritis, rheumatischem Fieber, Bronchitis, Kolitis, Dermatitis, Pyelonephritis kommen /10/.

Metabolische Erkrankung: Coma diabeticum, Coma urämicum, Coma hepaticum, akuter Gichtanfall, Eklampsie, akute Thyreotoxikose bewirken eine endogen toxische Neutrophilie.

M. Cushing : Glukokortikoid Rezeptoren werden von Leukozyten exprimiert und spielen eine Rolle bei der Zelladhäsion und der Freisetzung aus dem Knochenmark. Etwa 40 % der Patienten haben eine Leukozytose von im Mittel (10,5 ± 2,6)× 109/l. und fallen bei Behandlung auf Werte von (8,4 ± 2,6)× 109/l. Die Anzahl der Neutrophilen war (7,6 ± 2,6) × 109/l vorher und nach Therapie (5,3 ± 1,7) × 109/l /37/.

Koronare Herzerkrankung (KHK) /38/: Die Leukozytose ist ein unabhängiger Risikofaktor der KHK. Auch Reinfarktstudien zeigen, dass die Höhe des basalen Leukozytenwerts mit der Reinfarkthäufigkeit korreliert. Bei Patienten mit Angina pectoris oder Herzinfarkt ist die Mortalität höher bei einer Zahl der Leukozyten über 10 × 109/l ist.

Intoxikation: Kortikosteroide, Blei, Quecksilber, Benzol und Kohlenmonoxyd bewirken eine exogen oder endogen bedingte Neutrophilie. Anstieg der PMN kurz nach oder wenige Stunden nach Exposition.

Akuter Blutverlust: Posthämorrhagische Neutrophilie. Unterschiedlicher Anstieg der PMN bis 25 × 109/l am 3.–5. Tag. Häufig gleichzeitig Thrombozytose. Größeren Operationen verursachen ähnliche Befunde.

Maligner Tumor: Die Neutrophilie wird bei vielen gastrointestinalen Tumoren und Lungentumoren, insbesondere mit Metastasierung in Leber und Lunge, angetroffen. Sie wird entweder durch die entzündliche Reaktion beim Untergang von Tumorgewebe verursacht oder ist dadurch bedingt, dass ein Teil der malignen Tumoren Granulopoese aktivierende Kolonie stimulierende Faktoren (G-CSF) bilden.

Chronisch myeloische Leukämie: Proliferative Leukozytose. Vermehrung der Leukozyten auf 20 × 109/l bis > 50 × 109/l mit Linksverschiebung (Blasten, anteilig < 20 %), Vermehrung der Eosinophilen und Basophilen. Fakultative Thrombozytose. Nachweis des Philadelphia-Chromosoms bei 90 % der Patienten, Splenomegalie.

Myelofibrose: Proliferative Leukozytose mit Leukozyten bis 50 × 109/l mit pathologischer Linksverschiebung (Auftreten von Blasten) bei extramedullärer Blutbildung. Unterschiedlich ausgeprägte Lebenszeitverkürzung der Erythrozyten und Thrombozyten. ANP Index niedrig normal bis erhöht /10/.

Polycythämia vera: Proliferative Neutrophilie von im Mittel 20 × 109/l auf Grund verstärkter Granulopoese. Der ANP Index ist fakultativ erhöht. Charakteristisch ist eine Erythrozytose und Thrombozytose /10/.

Splenektomierte Patienten: Nach einer Studie /39/ haben 42,5 % der Patienten Leukozytenzahlen > 10 × 109/l und 9 % über 13,5 × 109/l. Es liegt eine überproportionale Vermehrung der PMN vor. 46 % der Patienten haben eine Thrombozytenzahl über 350 × 109/l bei normaler Thrombozytenverteilung.

Tabelle 15.12-5 Medikamente, die eine Neutropenie verursachen können

Analgetika und Antiphlogistika

  • Indometacin
  • Goldsalze
  • Pentazocin
  • Acetaminophen
  • Phenazetin
  • Aminopyrin
  • Butazon
  • Valproinsäure

Antimalaria-Mittel

  • Chloroquin
  • Pyrimethamin
  • Dapson

Antibiotika

  • Cephalosporin
  • Clindamycin
  • Gentamicin
  • Isoniazid
  • Metronidazol
  • Nitrofurantoin
  • PAS
  • Penicillin
  • Rifampicin
  • Streptomycin
  • Sulfonamid
  • Tetrazyklin
  • Vancomycin

Antikonvulsiva

  • Carbamazepin
  • Ethosuximid
  • Phenytoin
  • Valproinsäure

Antidepressiva

  • Amitriptylin
  • Desipramin
  • Doxepin
  • Imipramin

H2-Blocker

  • Cimetidin
  • Ranitidin

Kardiovaskuläre Medikamente

  • Ajmalin
  • Alprenolol
  • Captopril
  • Chinidin
  • Disopyramid
  • Flecainid
  • Hydralazin
  • α-Methyldopa
  • Oxprenolol
  • Procainamid
  • Propafenon
  • Propranolol
  • Tocainid

Antidiabetika

  • Chlorpropamid
  • Tolbutamid

Diuretika

  • Azetazolamid
  • Chlortalidon
  • Chlorthiazid
  • Etacrynsäure
  • Hydrochlorothiazid
  • Spironolacton

Andere

  • Allopurinol
  • Levamisol
  • Penicillamin

Thyreostatika

  • Carbimazol
  • Methimazol

Hypnotika, Sedativa

  • Benzodiazepine
  • Chlorpromazin
  • Clozapin
  • Chlordiazepoxid
  • Meprobamat

Andere

  • Pindolol
  • Ticlopidin
  • Interferon-α
  • Ribaverin

Tabelle 15.12-6 Kongenitale Neutropenien

Schwere kongenitale Neutropenie (SCN) /40/: Die SCN wurde zuerst in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Kostmann entdeckt und deshalb auch als Kostmann Syndrom bezeichnet. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Erkrankungen mit schweren lebensbedrohenden bakteriellen Infektionen schon im frühen Lebensalter. Zusätzlich zur verminderten Zahl an Granulozyten haben ein Teil dieser Patienten ein Spektrum qualitativer Veränderungen wie eine defekte Produktion bakterizider Proteine oder eine defekte Aktivierung der Granulozyten. Ein wesentliches Merkmal vieler Formen der SCN ist auch der Reifungsstopp auf der Ebene des Übergangs vom Myeloblasten zum Promyelozyten. Die Zellen zeigen atypische Nucleoli und eine Vakuolisierung des Zytoplasmas. Über 95 % der Patienten reagieren auf rHuGCSF mit einem Granulozytenanstieg auf über 1 × 109/l.

Folgende Formen des SCN werden unterschieden:

Kostmann Form. Es handelt sich um eine autosomal rezessive SCN. Es liegen funktionell inaktive Mutationen im Gen HAX1 vor. Das Gen kodiert das gleichnamige vorwiegend mitochondriale Protein, dessen Aufgabe es ist die Apoptose von Zellen zu verhindern.

Mutationen im Gen ELANE/ELA2, das die Serinprotease Neutrophile Elastase kodiert, führt zur Fehllokalisation und intrazellulären Anhäufung eines nicht gefalteten Proteins und verursacht einen Stress des endoplasmatischen Retikulums. Das verhindert das Überleben und die Differenzierung der granulozytären Vorläuferzellen. Es resultiert ein Stillstand der Zellreifung mit schwerer kongenitaler Neutropenie und der Folge von bakteriellen Infektionen kurz nach der Geburt. Mehr als als 100 autosomal dominante gain-of-function mutations, die sich über 5 Exone verteilen sind bekannt. In Zentraleuropa und Nordamerika beruhen 50 % der kongenitalen Neutropenien auf einer Mutation im ELANE/ELA2. Eine Knochenmarktransplantation, die tägliche Gabe von granulocyte stimulating factor oder die CRISPR-Cas vermittelte Einführung von frameshift Mutationen in das 2. Exon von ELANE in hematopoetische Stammzellen des Patienten sind mögliche kurative Therapien /71/.

Autosomal dominant vererbte Mutation im Gen GFI-1. Das GFI-1 ist ein Transcriptionsfaktor und ein Zinkfingermolekül mit transkriptionaler Repressor- und Splicefunktion. GFI1 reguliert die Differenzierung hämatopoetischer und nIcht-hämatopoetischer Zellen. Es besteht neben der Granulozytopenie eine Monozytose, eine Lymphopenie und eine Störung der Lymphozytenfunktion.

X-chromosomal rezessiv vererbte Mutationen in WAS-Genen. Die Gene kodieren das Wiskott-Aldrich Protein. Es bestehen zusätzlich eine Monozytopenie, T-Lymphozyten Aktivierung und eine schwere Hypoplasie der Myelopoese im Knochenmark, die resistent gegenüber einer GCSF-Behandlung ist.

Mutation im Gen G6PC. Das Gen kodiert die katalytische Einheit 3 der Glucose-6-Phosphatase. Es resultiert eine vorzeitige Apoptose der neutrophilen Granulozyten. Außerdem haben die Patienten noch konstitutionelle Probleme wie kardiale Defekte und urogenitale Fehlentwicklungen /41/.

Autosomal dominant vererbte Mutation im Gen CSF3R. Das Gen kodiert den G-CSF-Rezeptor.

Shwachman-Diamond-Syndrom: Defekt im Gen SBDS. Autosomal rezessive Erkrankung mit Enzymmangel des Gastrointestinaltraktes und Skelettanomalien.

Barth-Syndrom: Defekt im Gen Taz1. X-gebundene Erkrankung mit Störung im Lipidmetabolismus, Kardiomyopathie und Muskelschwäche.

WHIM-Syndrom: Defekt im Gen CXCR4. Autosomal dominante Erkrankung mit Warzenbildung, Hypogammaglobulinämie und rezidivierenden bakteriellen Infekten.

Chediak-Higashi-Syndrom: Defekt im Gen LYST (CHS1). Autosomal rezessive systemische Erkrankung mit Hypopigmentierung, verlängerter Blutungszeit und peripherer Neuropathie.

Klinik: Insgesamt handelt es sich um seltene Erkrankungen, oft mit schwerer bakterieller Infektion und Fieber von den ersten Lebensmonaten an. Etwa 20 % der Kinder haben ab dem 1. Lj. eine Splenomegalie, bis zum 10. Lj. etwa 40 %. Durch Behandlung mit rHuGCSF kann die Neutrophilenzahl auf über 1 × 109/l gehalten und die klinische Symptomatik wesentlich vermindert werden. Die wichtigste Differentialdiagnose bei Kindern im Alter von 1–3 J. sind Autoantikörper, die eine Zerstörung der PMN verursachen können. Diese Kinder leiden jedoch nicht an schweren Infektionen.

Labordiagnostik: Oft schwere Neutropenie, meist < 0,2 × 109/l. Monozyten 3–5 fach erhöht, milde Anämie, Thrombozyten leicht erhöht, IgG leicht erhöht. Im Knochenmark Präsenz von Myeloblasten und Promyelozyten, jedoch starke Verminderung von Myelozyten, Jugendlichen, Stabkernigen und PMN. Die Eosinophilen und Monozyten im Mark sind erhöht, die anderen Zelllinien normal.

Zyklische Neutropenie: Genetische molekulare und zelluläre Studien haben gezeigt, dass es sich bei der autosomal dominanten zyklischen Neutropenie und der sporadisch auftretenden Form um Mutationen im Gen ELA2 handelt, das die neutrophile Elastase kodiert. Dieses Enzym wird in den Granula der Vorläuferzellen gebildet. Es wird ein atypisches Enzym gebildet, das eine Apoptose der granulozytären Vorläuferzellen bewirkt, was zu einer effektiven oszillatorischen Zellproduktion führt /42/.

Klinik: Der Verdacht stellt sich bei Kindern im 1. Lj. mit rekurrentem Fieber, Pharyngitis, Mundulcera, Lymphadenopathie oder einer rekurrierenden Zellulitis ein. Wenige Fälle bei Erwachsenen zeigen eine etwa gleiche Symptomatik, oft mit schmerzhafter zervikaler Lymphadenopathie. Nicht selten kommen diese Patienten mit akuter Peritonitis, Ileus oder septischem Schock.

Labordiagnostik: Typisch treten Oszillationen der PMN und Monozyten alle 21 Tage auf, d.h. alle 21 Tage fallen die PMN auf < 0,2 × 109/l für 3–5 Tage und erreichen 10–15 Tage später einen Gipfel mit subnormalen Werten von etwa 2,0 × 109/l. Ein Teil der Patienten zeigt Oszillationen bei den Thrombozyten und Retikulozyten, andere zusätzlich bei Lymphozyten und Eosinophilen.

Glykogen Speicherkrankheit: Die Glykogen Speicherkrankheit (Glycogen Storage Disease, GSD) ist eine seltene autosomal rezessive Erkrankungen, die zu einer erhöhten Konzentration von Glykogen oder einer abnormen Glykogenstruktur führt. Auf Grund des zugrunde liegenden Defektes wird die GSD in 10 Typen eingeteilt. Die GSD1b beruht auf einem Mangel der Glucose-6-phosphat-Translokase. Dieses Enzym transportiert Glucose-6-phosphat in das endoplasmatische Retikulum, wo die Umwandlung von Glucose-6-phosphat in Glucose und Phosphat stattfindet. Ein Mangel dieses Enzyms verursacht eine mangelnde Glucosebildung aus Glukoneogenese und Glykogenolyse. Der exakte Mechanismus, warum es bei diesen Patienten zur Neutropenie kommt, ist unbekannt /43/.

Klinik und Labor: Hepatomegalie, Krämpfe, Koma, Hypoglykämie, Hyperlactatämie, Azidose, Hyperurikämie, Hyperlipidämie. Siehe auch Tab. 5.6-6 – Hereditäre metabolische Azidosen mit Lactaterhöhung und Tab. 3.3-2 – Hypoglykämiesyndrome in der Kindheit.

Primäre Immundefekt Syndrome: Die primären Immundefekt Syndrome sind eine heterogene Gruppe von mehr als 75 Erkrankungen, von denen einige mit einer Neutropenie einhergehen /44/. Siehe auch Tab. 21.2-5 – Primäre Immundefizienz überwiegend T-zellulär: Klinik und Labordiagnostik.

X-linked Agammaglobulinämie (XLA): Ein Teil dieser Patienten hat eine deutliche Neutropenie und ist gefährdet, eine Pilzinfektion oder eine Infektion mit Pneumocystis carinii zu erleiden.

Hyper-IgM-Syndrom: Nach einem Report der Europäischen Gesellschaft für Immundefekte haben 68 % der Patienten mit Hyper-IgM-Syndrom eine Neutropenie. Diese ist zu 45 % chronisch und in einigen Fällen zyklisch.

Common Variable Immunodeficiency (CVID): Die Neutropenie ist evtl. autoimmuner Natur.

IgA-Mangel: Die Neutropenie beruht wahrscheinlich auf autoimmuner Basis.

Cartilage-Hair Hypoplasia: Schwere bis moderate Neutropenie mit Zellzahlen von (0,1–2,0) × 109/l.

Retikuläre Dysgenesie: Sie ist die schwerste Variante des SCID mit einem frühen Differnzierungsstopp der granulozytären Zelllinie und schwerer Lymphopenie. Moderate bis schwere Neutropenie.

Tabelle 15.12-7 Sekundäre Neutropenien

Frühgeburt: Etwa 50 % der Neugeborenen mit einem Gewicht unter 2 kg haben eine Neutropenie unter 1,5 × 109/l. Bei einigen Neugeborenen von Müttern mit Präeklampsie kann die Neutropenie schwer sein und mit einer gram-negativen Infektion einhergehen. Vermutet wird, dass eine regulative Proliferationsstörung der myeloischen Reihe mit Verminderung des postmitotischen Pools vorliegt /45/.

Neutropenie – Chronisch idiopathische: Es handelt sich um erworbene selektive Neutropenien unbekannter Ätiologie, die bei allen Altersgruppen auftreten und eine Dauer von über 3 Monaten haben. Ein Teil der Patienten sind symptomatisch, andere haben einen Verlauf mit relativ wenigen Infektionen. Typisch ist eine Neutrophilenzahl von (1,5–0,5) × 109/l, in schweren Fällen unter 0,5 × 109/l. Die anderen Zellen des Blutbildes sind normal. Auch das Knochenmark ist oft normal oder zeigt eine Verminderung postmitotischer Granulozyten. Langzeitstudien zeigen, dass die chronisch idiopathische Neutropenie nicht in eine Leukämie, ein myelodysplastisches Syndrom oder eine aplastische Anämie übergeht /46/.

– Alloimmune neonatale Neutropenie (AINN): Die AINN wird durch Alloantikörper der Klasse IgG verursacht, gerichtet gegen Alloantigene der PMN. Sie werden von der Mutter gegen die PMN des Kindes gebildet, passieren die Plazenta und sind im mütterlichen Blut und dem Nabelschnurblut nachweisbar /47/. Das neutropenische Neugeborene kann in der Neonatalperiode Infektionen entwickeln. Die AINN ist selten, in 1.016 Seren von Neugeborenen wurden in 4 anti-neutrophile Antikörper nachgewiesen, aber keines der Neugeborenen hatte eine AINN /48/.

Labordiagnostik: Im Nabelschnurblut selektive Neutropenie, oft mit kompensatorischer Monozytose und Eosinophilie. Nachweis von Alloantikörpern, z.B. anti-HNA-1a, anti-HNA-1b, anti-HNA-2a, anti-HNA-3a, anti-pan-FcRγIIIb(ND1).

Autoimmune Neutropenie (AIN): Die AIN ist eine chronische Neutropenie, bei der Autoantikörper gegen PMN nachgewiesen werden. Die AIN ist eine relativ benigne, nicht familiäre Erkrankung. Sie wird vorwiegend bei Kindern < 2 J nachgewiesen. Die AIN beginnt 1–15 Monate nach der Geburt mit rekurrierenden Infektionen des Oropharynx und der Haut und endet spontan nach 7–73 Monaten /49/. Die Leukozytenzahl kann normal sein trotz einer Neutropenie < 0,25 × 109/l. Die AIN des Erwachsenen ist selten.

Labordiagnostik: Die Diagnostik erfolgt durch den Nachweis von Autoantikörpern im Neutrophilen-Agglutinations Test, dem neutrophilen Immunfluoreszenz Test oder dem Monoclonal Antibody Immobilization of Neutrophil Antigens (MAINA) Test /47/.

Autoimmunerkrankungen: Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis (RA), das Felty-Syndrom, die Large granular lymphocyte (LGL) leukemia und der systemische Lupus erythematodes (SLE) können mit einer chronischen Neutropenie einhergehen /50/.

Felty Syndrom: Dieses Syndrom ist durch Arthritis, Splenomegalie und Neutropenie definiert. Patienten, die ein Felty Syndrom entwickeln, haben oft eine schon lange bestehende RA mit Knoten, Ulcera, Splenomegalie und eine Hyperpigmentierung der unteren Extremitäten. Es kann im weiteren Verlauf eine Vaskulitis, Neuropathie, pulmonale Fibrose und Hepatomegalie entstehen.

Labordiagnostik: Neutropenie < 1,5 × 109/l, milde Anämie, Thrombozytopenie und Lymphopenie, Rheumafaktorkonzentration hoch, Hypergammaglobulinämie, antinukleäre Antikörper positiv /28/.

LGL-Leukämie: Bei den LGL handelt es sich mikroskopisch um große Lymphozyten mit groben eosinophilen Einschlüssen. LGL können CD8+T-Zellen oder Natural Killer (NK)-Zellen sein. Ein Teil der RA-Patienten hat eine klonale Vermehrung von CD8+ LGL und eine Neutropenie. Nahezu alle Patienten mit Felty Syndrom und die RA-Patienten mit LGL-Leukämie sind HLA-DR4-positiv, was einen einheitlichen Krankheitsprozess nahe legt /50/.

SLE: Die Neutropenie ist beim SLE häufig, obwohl Infektionen auf Grund einer schweren Neutropenie selten sind. In einer Studie /51/ hatten 47 % eine Neutropenie, 13 % eine hämolytische Anämie, 20 % eine Lymphopenie und 27 % eine Thrombozytopenie. Ursache der Neutropenie waren PMN reaktive IgG, eine verstärkte Apoptose und eine intrinsische Hypoproliferation der Myelopoese /50/.

Medikamenten bedingte Neutropenie: Die Störung der Granulopoese kann das mitotische Kompartiment oder die pluripotente Stammzelle betreffen; es kann auch eine Immun-vermittelte Neutropenie bestehen /52/. Eine Auswahl von Medikamenten, die eine Neutropenie verursachen können, zeigt Tab. 15.12-5 – Medikamente, die eine Neutropenie verursachen können.

– Isolierte Neutropenie: Der granulozytäre Speicher hält einen Vorrat an PMN von 5 Tagen. Bei Störung des mitotischen Kompartiments und einer Halbwertszeit des Granulozyten von 6 h kommt es innerhalb von 5 Tagen zu einem kontinuierlichen Granulozytenabfall. Wird die toxische Substanz abgesetzt, resultiert eine Erholung innerhalb von 36–72 h. Es besteht eine Suppression des mitotischen Kompartiments.

– Aplastische Anämie: Es resultiert eine Suppression der Reifung aller hämatopoetischen Zelllinien, ein Zustand, der Aplasie genannt wird. Bei der akuten aplastischen Anämie kommt es in den ersten 2–3 Wochen nach Einnahme des Medikamentes zur Neutropenie und Thrombozytopenie (petechiale und/oder ekchymöse Blutung). Da die Lebenszeit der Erythrozyten länger ist, besteht eine Anämie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es besteht eine Suppression der pluripotenten Stammzellen.

Bei der chronischen aplastischen Anämie ist die Hämatopoese vermindert, es werden aber Zahlen von Thrombozyten und Leukozyten aufrecht erhalten, die eine Blutung und Sepsis verhindern. Das klinische Bild wird von der schweren hyporegenerativen Anämie geprägt.

– Immun-Neutropenie: Immun-vermittelte Neutropenie: Das Medikament oder ein Metabolit verändert die Antigenität der Leukozytenmembran, indem es sich als Hapten anlagert. Die Sensibilisierung kann nach einmaliger Gabe oder erst nach längerfristiger Einnahme erfolgen. Die Pathogenese soll auf einer Antikörper oder Zell-vermittelten Immunantwort beruhen. Eventuell wird auch die Immunregulation durch die Bildung von Autoantikörpern beeinflusst /52/. Es kann zu einer raschen Neutropenie innerhalb von Stunden kommen, sie kann sich aber auch langsam entwickeln. Die Neutrophilenzahl kann sich auf niedrigem Level stabilisieren oder sich auch wieder normalisieren.

Chemotherapie: Die Chemotherapie induzierte Suppression der Granulopoese hängt von der zytotoxischen Substanz ab. Es kommt erst zu einem Abfall der PMN, wenn der granulozytäre Speicher leer ist und die Reifung vom CFU-GM zum Myeloblasten stoppt. Nach Chemotherapie wird eine verkürzte Halbwertszeit der PMN und eine ineffektive Granulopoese gewöhnlich nicht gesehen /53/.

Zytotoxische Substanzen, die z.B. in der M-Phase wirken, wie Vinblastin, Cytarabin oder Methotrexat, führen zu einer schnellen Neutropenie und Thrombozytopenie mit einem raschen Wiederanstieg. Erst die längerfristige Infusion dieser Phasen spezifischen Zytostatika bewirkt eine permanente Neutropenie. Nicht-Phasen spezifische, aber im mitotischen Pool wirkenden Zytostatika wie die Anthrazykline und Dactinomycin, zeigen einen Beginn der Neutropenie wie die Phasen spezifischen Zytostatika, die Neutropenie dauert aber länger. Nicht im mitotischen Pool wirkende Zytostatika wie Busulfan verursachen einen stärker verzögerten Nadir und Wiederanstieg.

Nach Chemotherapie, wird Granulocyte-Colony Stimulating Factor (G-CSF) wie Filgastrin, Lenogastrin, und pegyliertes Filgastrin verabreicht, damit es rasch zu einem Anstieg der neutrophilen Granulozyten kommt. Die European Organisation for Research and Treatment of Cancer, die American Society of Clinical Oncology und Andere haben Evidence-based Leitlinien zur praktischen Anwendung von G-CSF erarbeitet. Nach einer Untersuchung werden diese aber falsch verstanden oder nicht beachtet, z.B. bei 90 % der Patienten mit Bronchialkarzinom /58/.

– Methotrexat (MTX) Bei chronischer rheumatoider Arthritis wird MTX als Basistherapeutikum mit wöchentlichen Dosierungen von 7,5–25 mg gegeben. In einigen Fällen kommt es zur aplastischen Anämie mit einer Leukozytenzahl von (0,2–2,6) × 109/l, Thrombozytenzahl von (3–63) × 109/l und einem Hb-Wert von 49–121 g/l /54/.

Metamizol: Metamizol wird in der Initialtherapie der Hyperthyreose angewendet. Dabei kann eine Agranulozytose mit fatalen Folgen auftreten. Bei der Behandlung mit Metamizol in der Dosierung von 30 mg täglich traten in 1,6 % der Fälle eine Neutropenie oder Agranulozytose auf, bei Dosierung von 15 mg nur zu 0,47 %, ohne Einschränkung der therapeutischen Wirkung /55/. Die meisten Patienten entwickelten die Neutropenie oder Agranulozytose innerhalb der ersten 3 Monate nach Beginn der Therapie. Zu den Nicht-Chemotherapie Medikamenten induzierten Neutropenien siehe Lit. /55/.

Akute febrile Infektionen /56/: Akute febrile Infektionen Erwachsener können mit einer Leukopenie und Thrombozytopenie einhergehen So hatten bei Diarrhoe durch C. jejuni 30 % der Patienten eine Leukozytenzahl < 4 × 109/l, 25 % Thrombozyten < 130 × 109/l und einer (5 %) beides. Siehe auch Tab. 15.12-8 – Akute fieberhafter Infektionen mit Leukopenie und/oder Thrombozytopenie.

Myelodysplastisches Syndrom (MDS): Obligat sind: Leukozyten < 4 × 109/l, Thrombozyten < 100 × 109/l, Hb < 120 g/l. Retikulozyten oft vermindert, LDH erhöht, Ferritin erhöht. Evtl. im Knochenmark Mutationsanalysen zur Diagnosesicherung tet2, runx1, asxl1, sf3b1, srsf2, tp53, u2af1, dnmt3a, zrsr2, ezh2, nras, kras.

Akute Leukämien (AL): AL sind maligne Erkrankungen, die ihren Ursprung in einer myelomonozytären Vorläuferzelle (AML), in einer lymphatischen Vorläuferzelle (ALL) oder Stammzelle haben. Charakteristische Laborbefunde bei diesen Patienten sind Neutropenie, Anämie und Thrombozytopenie.

Leberzirrhose: Anämie, Leukopenie und Thrombozytopenie sind häufig bei chronischen Erkrankungen, der Leber, insbesondere bei Leberzirrhose. Vermutete Mechanismen sind Hypersplenismus, Hämolyse und humorale Hemmung von hämatopoetischen Vorläuferzellen.

Megaloblastäre Anämie: Schwere Folat- und Vitamin B12-Mangelanämien gehen mit einer Neutropenie und Panzytopenie auf Grund der Synthesestörung der DNA einher. Das Mark ist hyperzellulär und es besteht eine Reifungsdissoziation der hämatopoetischen Zelllinien. Die Hämatopoese ist ineffektiv, da ein erheblicher Teil der Zellen nicht reift und der Apoptose anheim fällt.

Tabelle 15.12-8 Akute fieberhafter Infektionen mit Leukopenie und/oder Thrombozytopenie /5657/

Bakterielle Infektionen

Virale Infektionen

Starke Sepsis, besonders Gram-negative Erreger

Herpes Viren: EBV, CMV, HHV6, VZV, HSV

Toxisches Schock Syndrom (Staphylokokken, Streptokokken)

Masen, Röteln

Typhoides Fieber (S. typhi, S. paratyphi)

Hepatitis A und B

HIV und AIDS

Shigella enteritis, Campylobacter jejuni Infektionen

Parvovirus B 19

Dengue Virusinfektion

Rickettsia Infektionen (Spotted fever, Typhus)

Schwere akute Atemwegsinfektion durch Coronavirus

Ehrlichiose, Anaplasmose

Influenzaviren

Coxiella burneti Infektion

Unspez. Virusinfektion

Bartonella Infektion (Katzenkratzkrankheit)

Nach Schutzimpfungen gegen Virusinfektionen

Brucellose, Leptospirose, Tularämie

Borrelia burgdorferi Infektion

Parasitosen

Rückfallfieber (Borrelia sp.)

Toxoplasmose

Tuberkulose (M. tuberculosis)

Malaria

Mycoplasma pneumoniae Infektion

Viszerale Leishmaniose

Tabelle 15.12-9 Erkrankungen und Zustände mit Lymphopenie

Kongenitale Immundefizienz: Verschiedene Formen der Severe combined immunodeficiency (SCID), der Ataxia teleangiectasia, der Malnutrition und des Zinkmangels können mit einer Lymphopenie unterschiedlichen Ausmaßes einhergehen. Die Bildung der Lymphozyten ist entweder durch einen Mangel an Stammzellen nicht angelegt oder anderweitig gestört /20/.

HIV-Infektion: Es erfolgt die selektive Zerstörung von CD4+T-Zellen mit Umkehrung der CD4+/CD8+-Ratio /58/.

Chemotherapie: Chemotherapie kann zu einer starken Lymphopenie führen. Alkylierende Substanzen haben eine recht unterschiedliche Wirkung /20/. So bewirkt Cyclophosphamid schon bei leichten bis niedrigen Dosen eine starke Lymphopenie. Die Lymphopenie kann noch Jahre nach Therapieende andauern. CD4+T-Zellen sind stärker betroffen als anderen T-Zellen. Eine Verminderung der CD4+T-Zellen unter 0,2 × 109/l sollte nicht erfolgen wegen der auftretenden schweren Defekte in der Infektabwehr.

Strahlentherapie: Die tägliche Bestrahlung mit geringer Strahlendosis wirkt stärker zerstörend auf die Lymphozyten als größere Dosierungen zweimal wöchentlich /20/.

Systemischer Lupus erythematodes (SLE): Nicht nur beim SLE, sondern auch bei der Mixed connective tissue disease (MCTD) und der Dermatomyositis kommt es zur Lymphopenie. Beim SLE werden anti-lymphozytäre Antikörper nachgewiesen, die über eine Komplement vermittelte Lyse zur Lymphopenie führen. Der Antikörpertiter korreliert mit dem Ausmaß der Lymphopenie /20/.

Tuberkulose: Lymphozytopenien mit besonders starker Verminderung von CD4+T-Zellen treten auf. Bei erfolgreicher Therapie erfolgt die Normalisierung.

Influenzavirus Infektion: Nach überstandener Infektion bildet sich typischerweise eine Lymphopenie aus /57/.

Bakteriämie /59/: Die Lymphopenie und die Ratio der Zellzahlen neutrophile Granulozyten/Lymphozyten (NLCR) sind bei Patienten der Intensivstation ein Prädiktor für Bakteriämie. Häufig sind die Lymphozytenzahlen unter 1,0 × 109/l und der NLCR über 10. So hatte bei Patienten mit positiver Blutkultur:

  • Das CRP, bei einem Grenzwert von 50 mg/l, einen positiven prädiktiven Wert von 54,3 % und eine negativen von 59,6 %.
  • Die Lymphozytenzahl, bei einem Grenzwert von unter 1,0 × 109/l, einen positiven prädiktiven Wert von 63,6 % und eine negativen von 59,6 %.
  • Der NLCR, bei einem Grenzwert von größer 10, einen positiven prädiktiven Wert von 67,6 % und eine negativen von 73,4 %.

Verschiedenes: Lymphopenien können auftreten bei Sarkoidose, Urämie, M. Cushing, Kortikosteroid-Behandlung, entzündlicher Darmerkrankung, nach Schlangenbiss, nach Verbrennungen, Anästhesie, Operationen, kardiopulmonaler Bypass-Operation. Ursachen sind teilweise Störungen der Rezirkulation der Lymphozyten, weniger eine Verminderung der Gesamtlymphozytenzahl des Organismus /20/.

Tabelle 15.12-10 Erkrankungen und Zustände mit Monozytose /61/

Infektionen /60/: Eine Monozytose wird gefunden bei:

  • Chronischen Infektion wie Tonsillitis, dentaler Infektion, Leberabszess, Endokarditis, Tuberkulose, Candidiasis.
  • Akuten bakteriellen Infektionen in der Überwindungsphase, z.B. in der 2. Krankheitswoche bei der Pneumonie mit Pneumokokken.

Autoimmun­erkrankungen: Milde Monozytosen können mit geringer Prävalenz auftreten bei Autoimmunvaskulitis, rheumatoider Arthritis, Myositis, Arteriitis temporalis.

Hämatologische System­erkrankungen:

  • Myelodysplastisches Syndrom; etwa ein Drittel der Patienten hat eine Monozytose.
  • Chronisch myeloische Leukämie; ein erhöhter Anteil von Monozyten kann vorliegen, ist er erheblich, so besteht eine myelo-monozytäre Leukämie oder eine Monozytenleukämie.
  • Ein Teil der Erkrankungen mit chronischer Neutropenie geht mit einer Monozytose einher.
  • Medikamenten-induzierte Neutropenie; transiente Erhöhungen kommen in der akuten Phase vor, charakteristisch sind aber die Erhöhungen in der Erholungsphase, z.B. nach Chemotherapie Zyklus.
  • M. Hodgkin; ein Viertel der Fälle hat eine Monozytose, es besteht aber keine Korrelation zur Prognose.
  • Histiozytose, multiples Myelom.
  • Nicht-hämatologische solide Tumoren sollen unabhängig von der Metastasierung in bis zu 70 % der Fälle mit einer Monozytose einhergehen .

Verschiedene Ursachen: Glukokortikoid-Therapie, Splenektomie, Vergiftung, Hand-Schüller-Christian Erkrankung, Niemann-Pick’sche Erkrankung, M. Gaucher.

Tabelle 15.12-11 Differentialdiagnostik der Eosinophilie

Parasitosen /62/: Nach einem Tropenaufenthalt sollten bei Vorliegen einer Eosinophilie immer Wurmerkrankungen in Betracht gezogen werden. Bei der Infektion mit Darmwürmern treten in der Regel niedrige Eosinophilien auf (unter 1,5 × 109/l), bei der Infektion mit Gewebswürmern schwere Eosinophilien (über 1,5 × 109/l). Der positive prädiktive Wert der Eosinophilie zur Diagnostik von Helminthosen soll in der Größenordnung von 10 % liegen.

Gewebsinvasive Parasitosen umfassen Infektionen mit Strongyloides, Trichinella, Toxocara, Echinokokkus, Zystizerkus und Schistosoma. Der Verdacht auf eine Parasiteninfektion besteht, wenn der Patient aus einer Region stammt, in der bestimmte Parasiten endemisch sind oder wenn er von einer Reise aus einer solchen Region zurückkehrt. Normalerweise verursachen Parasitosen moderate Eosinophilien mit einer Zellzahl von (1–5) × 109/l. Bei der Infektion mit Toxocara species, die der Mensch gewöhnlich von Hund und Katze erwirbt, kann es bei visceraler Larva migrans zu einer Eosinophilie bis zu 50 × 109/l kommen /63/.

Tropische Eosinophilie: Diese Erkrankung ist eine Variante menschlicher Filarieninfektionen, die aus einer Hypersensitivitätsreaktion gegen Substanzen resultiert, die von den Mikrofilarien Wucheria bancrofti und Brugia malayi freigesetzt werden. Endemische Regionen sind die Küstenlandstriche von Indien, Pakistan, Sri Lanka, Burma, Thailand, Malaysia, Philippinen, südlichem China, Korea, und Zentralafrika. Die Eosinophilenzahl ist über 3 × 109/l, und kann in hyperakuten Fällen (30–50) × 109/l betragen. Im Serum ist das Gesamt-IgE erhöht und Filarien spezifische IgG- und IgE-Antikörper sind nachweisbar /64/.

Allergien: Allergische Erkrankungen, die in Betracht gezogen werden müssen, sind Asthma bronchiale, allergische Rhinitis, atopische Dermatitis, Urtikaria und das angioneurotische Ödem. Auch allergische Reaktionen gegen Aspirin, Sulfonamide, Allopurinol und L-Tryptophan können eine Eosinophilie bewirken. Die Eosinophilenzahl beträgt gewöhnlich (0,5–1) × 109/l.

Asthma /65/: Bei Asthma des Erwachsenen macht die eosinophile Form nur etwa 5 % aus. Patienten mit Asthma und Eosinophilie haben einen stärkeren Umbau der Atemwege und mehr Auswurf als diejenigen ohne. Letztere haben eine stärkere Obstruktion der Atemwege. Bei Patienten mit Eosinophilie besteht eine signifikante Korrelation zwischen der Eosinophilenzahl und der Schwere der klinischen Beschwerden bzw. der Beeinträchtigung der respiratorischen Funktion. Auch in der Bronchiallavage besteht eine Erhöhung der Eosinophilen und des ECP /66/.

Eosinophilen Pneumonie (EP) /67/: Die EP umfasst ein breites Spektrum von pulmonalen Erkrankungen, die mit einer Bluteosinophilie von über 1 × 109/l einhergehen oder bei denen der Anteil von Eosinophilen in der brochoalveolären Lavage über 25 % ist. Bei Patienten in der frühen Phase der idiopathischen akuten EP oder bei denjenigen die Kortikosteroide einnehmen kann die Bluteosinophilie fehlen. Die Genese ist unbekannt, insbesondere Medikamente und Parasitosen werden vermutet. Jedoch bleibt die chronische EP in den meisten Fällen idiopathisch. Die klinischen Symptome reichen von asymptomatischen Lungeninfiltraten bis zum Respiratory distress syndrome. Extrathorakale Symptome sind verdächtig auf ein Churg-Strauss Syndrom oder ein hypereosinophiles Syndrom, auf das eine kardiale Symptomatik hinweist.

Hypereosino­philes Syndrom (HES) /68/: Zum hypereosinophilen Syndrom gehört eine Gruppe von Erkrankungen, die durch eine Hypereosinophilie von über 1,5 × 109/l charakterisiert ist und nicht bedingt ist durch Parasitosen, Medikamenten-allergische oder andere allergische Reaktionen. Direkt betroffen ist ein Zielorgan wie die Lungen oder andere Zielgewebe. Gut charakterisierte Ursachen des HES sind:

  • Das klonale HES, beruhend auf Stammzellmutationen, bedingt durch eine kryptische interstitielle Deletion von Chromosom 4q12, die zu einer Fusion der Gene FIP1L1 und PDGFRA zum Fusionsgen FIP1L1-PDGFRA führt.
  • Die polyklonale Überproduktion von Eosinophilen durch konstante Überproduktion von IL-5 auf Grund aktivierter T-Zellsubpopulationen von ungewöhnlichem Phänotyp und/oder klonalen T-Zell-Rezeptor Rearrangement-Mustern.
  • Unbekannte molekulare Mechanismen, die zu abnormen T-Zell-Phänotypen führen wie CD3CD4+, CD3+CD4CD8 oder CD3+CD4+CD7.

Eosinophilie assoziierte Muskelerkrankungen: Verschiedene Pathologien der Skelettmuskulatur sind mit einer Blut- oder Gewebseosinophilie assoziiert. Dazu gehören das Tryptophan-assoziierte Myalgie Syndrom, das toxische Ölsyndrom, die Muskelbeteiligung bei Parasitosen, die Churg-Strauss Vaskulitis, hämatologische, nicht hämatologische Malignome und idiopathische Myositiden. Meist ist auch die Haut beteiligt in Form von Ausschlag, Indurationen und Angioödemen. In eine Studie /69/ wurden 7 eosinophile Myopathien (ohne Parasitose) publiziert, die Eosinophilenzahl im Blut betrug (132–1.464) × 109/l.

NNR-Insuffizienz: Die primäre oder sekundäre Nebennierenrinden-Insuffizienz gehen mit einer Eosinophilie einher. Die Zellzahl ist gewöhnlich (0,5–1) × 109/l. Verdächtig sind Patienten mit Hyperpigmentierung, Müdigkeit, Hypotension, Anorexie, Übelkeit, Bauchschmerz. Weitere labordiagnostische Abklärung durch die Bestimmung von Cortisol und/oder ACTH.

Maligner Tumor: Etwa 0,5 % der malignen Tumoren gehen mit einer Eosinophilie einher. Beschrieben sind Eosinophilien bei folgenden Karzinomen: Bronchus, Mamma, Zervix, Ovar, Leber, Pankreas, Schilddrüse, M. Hodgkin, T-Zell-Lymphom, multiples Myelom /70/.

Idiopathische Hypereosinophilie (IHES): Beim Konzept der IHES sind empirische diagnostische Kriterien festgelegt. Sie umfassen /26/:

  • Eine Eosinophilie von mindestens 1,5 × 109/l länger als 6 Monate.
  • Keine feststellbare Ätiologie der Hypereosinophilie trotz intensiver Diagnostik.
  • Vorliegen von Funktionsstörungen oder Schädigungen von Organen durch die idiopathische Hypereosinophilie.

Vorwiegend betroffene Organe sind Haut, Herz und das Zentralnervensystem. Wichtig ist primär die Untersuchung auf Vorliegen einer myeloproliferativen Variante der HES (mHES) oder einer lymphozytischen Varianten (iHES). So weisen die kutane Manifestation, assoziiert mit einem Hyper-IgE-Syndrom und/oder einer polyklonalen Gammopathie auf eine iHES hin. Demgegenüber sind eine Splenomegalie, Herzbefall, erhöhtes Vitamin B12, Anämie und/oder Thrombozytopenie eher auf eine mHES hinweisend.

Medikamentenreaktion mit EOsinophilie und Systemischen Symptomen: Eine superfizielle Dermatitis mit einer Eosinophilenzahl von 3028/μl, lymphozytärer Infiltration, AST von 989 U/L und ALT von 162 U/l war hervorgerufen durch die Behandlung mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol /74/.

Drug rash With eosinophilia and systemic Symptoms (Dress): Ein Medikamenten-bedingter Hautausschlag mit Eosinophilie und systemischen Symptomen kann eine seltene, fatale, idiosynkratische Medikamentenreaktion mit superfizieller Dermatitis, einer Eosinophilie und eine systemische Reaktion auslösen /74/. Die Behandlung eines Patienten mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol verursachte eine Eosinophilie von 3028/μl, eine lymphozytäre Infiltration, eine AST von 989 U/L und ALT von 162 U/l /75/.

Tabelle 15.13-1 Artefakte und morphologische Veränderungen der Leukozyten im Blutausstrich

Veränderung

Beurteilung

Granulozyten

Morphologische Veränderungen der Granulozyten haben häufig einen diagnostischen Wert.

  • Drumstick

Ein Drumstick ist für das weibliche Geschlecht charakteristisch (Abb. 15.13-3 – Morphologische Veränderungen der Granulozyten).

  • Hypersegmentierte Kerne

Polymorphkernige Granulozyten mit mehr als 5 Kernsegmenten zeigen eine Hypersegmentierung an. In Verbindung mit Riesenstabkernigen sind sie für eine megaloblastäre Reifungsstörung (Mangel an Vitamin B12, Folat) typisch. Hypersegmentierte Granulozyten werden häufig auch in Punktaten aus Körperhöhlen gefunden, in denen die Granulozyten von der Zirkulation abgeschnitten sind.

  • Toxische Granulation
  • Döhle-Körperchen
  • Zytopl. Vakuolisierung

Toxische Granulation, Döhle-Körperchen und Vakuolisierung des Zytoplasmas von Granulozyten sind toxische, unspezifische Manifestationen von Infektionen /11/.

Toxische Granulation: Hervortreten von vermehrten dunkleren Granula im Zytoplasma der neutrophilen Granulozyten. Sie treten nach Infektionen auf. Toxische Granulation wird zwar bei zwei Drittel der Sepsispatienten gefunden, hat aber für Infektionen nur eine geringe Spezifität.

Döhle-Körperchen: Bei den blass-blauen, in der Peripherie des Zytoplasmas gelegenen Einschlusskörperchen handelt es sich um Aggregate des endoplasmatischen Retikulums. Sie werden bei Infektionen gesehen, auch in Kombination mit toxischer Granulierung. Etwa ein Drittel der Patienten mit Sepsis haben Döhle-Körperchen. Auch in der Schwangerschaft und postpartal treten sie auf.

Toxische Vakuolisierung: Bei bakterieller Sepsis tritt in etwa 90 % der Fälle eine toxische Vakuolisierung des Zytoplasmas von polymorphkernigen Granulozyten auf. Die Vakuolen sind groß, milchig, es handelt sich um mehrere, oft ist die gesamte Zellgestalt verzogen. Beachtet werden muss eine artifizielle Vakuolisierung, die auftritt, wenn alte EDTA-Blutproben ausgestrichen werden. Diese Vakuolen sind gewöhnlich kleiner, regulärer und verziehen nicht die Zellstruktur.

  • Pelger-Huet-Anomalie /12/

Die Pelger-Huet Anomalie ist eine angeborene Besonderheit neutrophiler Granulozyten. Sie weisen nicht mehr als zwei Kernsegmente auf, die eine exzessive Verklumpung des Chromatins zeigen. 30 % der Zellen haben einen bandförmigen Kern (Erdnuss-Kern) oder Brillen-förmigen Kern. Die Prävalenz beträgt etwa 1 : 6.000. Die Zellen haben eine normale Funktion und normale Lebenszeit. Die Pelger-Anomalie ist hereditär bedingt und nicht Geschlechts-gebunden. Die Unterscheidung von der Infektions-bedingten Linksverschiebung ist erkennbar anhand der homologen Zellmorphologie beim Pelger im Unterschied zum polymorphen Bild der stabförmigen Granulozyten.

Die erworbene Form der Pelger-Huet-Anomalie (Pseudo-Pelger) wird bei Polycythämia vera, myeloischer Leukämie, Osteomyelofibrose, M. Hodgkin und multiplen Myelom gefunden und kann erstmalig nach Knochenmarktransplantation auftreten. Auch wird sie gefunden beim 17p-Syndrom, dem Verlust des kurzen Armes des Chromosoms 17. Unter Therapie mit Taxane /7/ und Ibuprofen /12/ kommt es zum vorübergehenden Auftreten eines Pseudo-Pelgers. Der Pseudo-Pelger grenzt sich von der angeborenen Pelger-Huet-Anomalie dadurch ab, dass beim Pseudo-Pelger:

  • Nur ein gewisser Prozentsatz der Granulozyten die charakteristischen Veränderungen zeigt.
  • Möglicherweise eine Neutropenie und eine Verminderung der neutrophilen Granula vorliegt.
  • Keine Pelger-Formen der Monozyten vorliegen, was der Fall bei der hereditären Form ist.
  • Chediak-Higashi-Syndrom

Bei dieser Abnormität kommt es zur Fusion von plasmatischen neutrophilen Granula zu Riesengranula. Ein Pseudo-Chediak-Higashi-Syndrom kommt bei der akuten myeloischen Leukämie und dem myelodysplastischen Syndrom vor /8/.

  • Howell-Jolly Körperchenähnliche Inklusionen

Howell-Jolly Körperchen ähnliche Inklusionen im Zytoplasma von neutrophilen Granulozyten sind Kernfragmente, die denen in Erythrozyten gleichen. Sie treten auf bei HIV-Infektion und müssen von anderen ungewöhnlichen Inklusionen unterschieden werden wie sie bei Infektionen gesehen werden oder bei hereditären Erkrankungen wie dem Chediak-Higashi-Syndrom vorkommen /14/.

  • Leukozyten-Agglutination

Gut erkennbare Agglutinate aus Granulozyten, die eine Pseudoleukopenie bewirken, können verursacht sein durch /8/:

  • EDTA und nicht nur neutrophile, sondern auch eosinophile und basophile Granulozyten und auch Lymphozyten betreffen.
  • Kälteagglutinine. Die Agglutination kann durch Inkubation der Probe bei 37 °C beseitigt werden.

Lymphozyten /15/

Primär erfolgt bei der Differenzierung der Lymphozyten die Unterscheidung in "typischer" und "atypischer" Lymphozyt. Typisch bedeutet, es handelt sich um einen morphologisch unauffälligen Lymphozyten (Zelldurchmesser etwa 10 μm, Kerndurchmesser etwa 7 μm, heterogenes scholliges Kernchromatin, Zytoplasma hell-basophil mit glatter Begrenzung). Large granular lymphocytes (LGL) haben eine azurophile Granulation und gelten als typisch bis zu einem Anteil von 10 %. Alle Lymphozyten, außer den typischen, sowie LGL über 10 % werden als atypisch bezeichnet. Die Einteilung der atypischen Lymphozyten erfolgt in die Kategorien "atypisch, vermutlich reaktiv" oder "atypisch, vermutlich neoplastisch". Lymphozyten, die nicht einzuordnen sind werden als "diverse" bezeichnet. Für sie folgt eine kommentierende Beschreibung wie z.B. Haarzellen.

Diagnostik von Leukämien und Lymphomen

Die Rolle des Blutausstrichs in der Diagnostik von Leukämien und Lymphomen besteht darin, eine Vermutungsdiagnose zu erstellen als Grundlage für die Immunphänotypisierung. Beispiele:

  • Auerstäbchen (fusionierte Granula) weisen bei akuten Leukämien auf eine myeloischen Form hin.
  • Bilobäre leukämische Zellen mit staubfeinen Granula und mit Büschen (Faggots) oder Bündeln feiner Auerstäbchen sind auf eine akute Promyelozytenleukämie hinweisend. Das Gleiche gilt für abnorme Promyelozyten, die von groben azurophilen Granula übersät sind (hypergranuläre Form).
  • Haar ähnliche Ausläufer des Zytoplasmas von Lymphozyten. Sie weisen bei grenzwertiger Leukopenie, Thrombozytopenie, Granulozytopenie und Anämie auf eine Haarzellleukämie hin.
  • Große basophile vakuolisierte Lymphomzellen sind auf ein Burkitt-Lymphom hinweisend.
  • Philadelphia (Ph)-Chromosom: Das Ph-Chromosom ist in etwa 90 % der Fälle mit der chronisch myeloischen Leukämie assoziiert und bei der akuten lymphoblastischen Leukämie ist es in 20–25 % der Fälle präsent /24/. Das Ph-Chromosom ist im gefärbten Knochenmarkausstrich mikroskopisch nicht sichtbar. Bei dem Ph-Chromosom handelt es sich um eine neue Zusammenführung des Gens ABL1 des Chromosoms 9 und des Gens BCR des Chromosoms 22. ABL1 (v-abl; Abelson murine leukemia viral oncogen homolog 1), normalerweise auf Chromosom 9 gelegen, ist transloziert an das BCR (breakpoint cluster region) Gen des Chromosoms 22 unter Bildung des Fusionsgens BCR-ABL1. Das normalerweise auf Chromosom 9 gelegene Protoonkogen ABL1 kodiert eine zytoplasmatische und auch im Zellkern gelegene Tyrosinkinase. Diese ist involviert in die Differenzierung, Teilung und Adhäsion der Zelle. Die t (9,22) Translokation führt zur Fusion des ABL1 Gens und und des BCR Gens auf Chromosom 22. Das Fusionsgen kodiert die normalerweise nicht-regulierte plasmatische Tyrosinkinase und ermöglicht den Zellen der myeloischen Reihe zu proliferieren, ohne dass regulierende Zytokine einen Einfluss haben. Patienten mit CML, die mit Tyrosinkinase-Inhibitoren wie Imatinib behandelt werden, haben eine Lebenserwartung vergleichbar der Normalbevölkerung /25/.

Tabelle 15.13-2 Artefakte und morphologische Veränderungen der roten Blutzellen im Blutausstrich

Veränderung

Beurteilung

Anisochromie

Es bestehen Unterschiede in der Farbintensität der roten Blutzellen. Diese sind abhängig von der Hämoglobin Konzentration der roten Blutzellen. Unterschieden werden hypochrome von normochromen Erythrozyten. Die hypochrome Anisozytose ist für den Eisenmangel typisch. Hyperchrome rote Blutzellen gibt es nicht, da die Hämoglobin Konzentration des Erythrozyten nicht größer als 360 g/l sein kann. Im Blutausstrich intensiver angefärbt und somit hyperchrom erscheinen aber Zellen, die sich abrunden wie der Sphärozyt oder ovale Makrozyten bei DNA-Synthesestörung /1/.

Polychromasie

Polychromatische rote Blutzellen sind leicht bläulich angefärbt. Es handelt sich vorwiegend um Retikulozyten. Die polychromatischen Erythrozyten sind aber kein Maßstab der Retikulozytenzahl, da späte Stadien der Retikulozyten nur noch wenig RNA enthalten und sich deshalb nicht polychromatisch anfärben /1/.

Anisozytose

Variation in der Größe der roten Blutzellen. Es handelt sich um ein grobes qualitatives Maß zur Beschreibung von Unterschieden im Durchmesser der roten Blutzellen. Die Hämatologie Analyzer geben durch Bestimmung der Red Cell Distribution Width (RDW) eine genauere Auskunft. Die Anisozytose wird bei Eisenmangelanämie, der DNA-Synthesestörung (Vit. B12- und Folsäure-Mangel) und bei Anämien mit Retikulozytose (akute Blutung, akute Hämolyse) gefunden.

Mikrozytose

Mikrozyten sind Zellen mit einem verminderten Zellvolumen. Die Mikrozytose geht mit einer Verminderung des Hämoglobingehalts des Erythrozyten (MCH) einher. Mikrozyten sind typisch für Eisenmangelanämie und das Thalassämie-Syndrom /1/.

Makrozytose

Makrozyten sind Erythrozyten mit einem Durchmesser über 8 μm bei normaler Dicke, Megalozyten haben einen Durchmesser über 9 μm. Ist bei erhöhtem Durchmesser ebenfalls das MCV erhöht, müssen eine Retikulozytose und die Probe eines Neugeborenen ausgeschlossen werden. Ebenfalls ausgeschlossen werden müssen Anulozyten (Leptozyten). Es handelt sich um im Blutausstrich dünne Erythrozyten mit großem Durchmesser, die am Hämatologie Analyzer ein normales MCV zeigen. Sind die Makrozyten im Blutausstrich rund, so ist die Makrozytose wahrscheinlich durch eine chronische Lebererkrankung bedingt, handelt es sich um ovale Makrozyten ist eher eine DNA-Synthesestörung anzunehmen /2/. In diesem Falle liegen auch oft Anisozytose, Poikilozytose und hypersegmentierte Granulozyten vor. Bei älteren Menschen ist das myelodysplastische Syndrom eine häufige Ursache der makrozytären Anämie.

Kernhaltige Erythrozyten

Kernhaltige rote Blutzellen im peripheren Blutausstrich weisen auf eine Abnormität im Knochenmark oder der Bildung von roten Blutzellen hin.

Poikilozytose

Auftreten deformierter roter Blutzellen mit vielen möglichen Formvarianten.

Anulozyten

Hypochrome mikrozytäre rote Blutzellen, bei denen das Hämoglobin auf die Randregion konzentriert ist. Typisch für chronische schwere Eisenmangelanämie /1/.

Elliptozyten

Etwa 1 % der Erythrozyten Gesunder haben eine elliptische Gestalt. Auch bei Eisenmangel-Anämie und den Thalassämie-Syndromen kommen Elliptozyten vor. Bei Eisenmangel-Anämie können die Elliptozyten Bleistiftform annehmen. In makrozytärer Form kommen Elliptozyten auch bei DNA-Synthesestörung und der dyserythropoetischen Anämie wie dem 5q-Minussyndrom vor /1/. Auch kann das Endotoxin einer Clostridien-Spezies eine Elliptozytose verursachen /1/.

Hereditäre Elliptozytose: Es handelt sich um eine autosomal dominante, hereditäre, seltene Erkrankung, bei der bis zu 90 % der Erythrozyten eine elliptische Form haben. Es liegt eine hämolytische Anämie vor. Bei der Südostasiatischen Ovalozytose sind die Zellen etwa doppelt so groß wie normal, außerdem liegen noch Stomatozyten mit zwei Stomata vor, Y-förmig oder V-förmig /2/.

Sphärozyten

Sphärozyten haben einen geringeren Durchmesser als Erythrozyten, aber das gleiche Volumen. Ursache ist ein Zellmembranverlust /1/. Die Zelle erscheint auf Grund ihrer größeren Dicke intensiver gefärbt. Die Sphärozytose kann angeboren oder erworben sein. Die Sphärozytose weist auf eine hämolytische Anämie hin.

Bei der hereditären Sphärozytose liegt eine Synthesestörung der Zellmembran vor. Die erworbene beruht auf einer autoimmunhämolytischen Anämie oder bei Neugeborenen auf einer AB0-Inkompatibilität von Mutter und Kind.

Mikrosphärozyten, deutlich mikrozytäre hyperchrome Zellen, kommen bei hämolytischer Anämie vor und sind charakteristisch bei Verbrennungen und der mikroangiopathischen hämolytischen Anämie /2/.

Keratozyten

Es handelt sich um Erythrozyten, die durch oxidative Medikamente eine Formveränderung erfahren haben. Durch die Medikamente ist Hämoglobin in den Erythrozyten als dichte Masse präzipitiert und hat zu Formveränderungen der Zelle geführt. Entweder haben die Erythrozyten hornartige Ausstülpungen, sehen aus wie angebissene Plätzchen oder sind noch etwa in Form und haben größere Hämoglobin-freie Areale /1/. Im englischen Sprachgebrauch werden diese Zellen auch Bite cells oder Blister cells genannt. Ursachen sind der Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase (G6PD)-Mangel oder Störungen im Pentosephosphat-Zyklus. Weltweit sind Millionen von Menschen vom G6PD-Mangel betroffen. Siehe auch Beitrag 15.8 – Erythrozytenenzyme.

Echinozyten

Stechapfel-förmige Erythrozyten. Es handelt sich um Artefakte, die durch den Kontakt von alkalischen Flüssigkeiten mit Glas hervorgerufen werden. Die langsame Trocknung des Blutausstrichs auf dem Glasobjektträger ist die häufigste Ursache für ihre Entstehung. Sie kommen in vivo nicht vor /1/.

Stomatozyten

Stomatozyten sind meist ein Artefakt, da die hereditäre Stomatozytose sehr selten ist. Der Stomatozyt bildet sich, wenn der pH in seiner Umgebung abfällt. Auch in Gegenwart von Medikamenten wie den Phenothiazinen oder von kationischen und amphiphilen Substanzen ist das der Fall /1/. Stomatozyten sind auch bei Lebererkrankungen präsent, insbesondere denjenigen mit alkoholischer Genese.

Akanthozyten (Burr cells)

Diese Formveränderungen, auch als Burr cells bezeichnet, kommen bei der hereditären Akanthozytose vor, die durch eine A-β-Lipoproteinämie gekennzeichnet ist. Auch im Endstadium einer schweren Niereninsuffizienz mit Hypocholesterinämie, bei Leberinsuffizienz und bei angeborenen hämolytischen Anämien können Akanthozyten auftreten. Diese Variante wird im amerikanischen Sprachraum als Spur cell anemia bezeichnet /1/. Auch bei parenteraler Ernährung mit Fischöl kann es zur Akanthozytose kommen, die nach Absetzen reversibel ist /16/. Auch Medikamente wie Benzodiazepine und 5-Fluorouracil sind als Ursachen beschrieben.

Dakrozyten

Die Erythrozyten haben die Form eines Tränentropfens. Die Zellen werden bei myelodysplastischen und myeloproliferativen Syndromen gesehen, auch bei Myelophthisis, wenn bei malignen Tumoren erythropoetisches Mark von Tumorzellen verdrängt wird /1/.

Sichelzellen

Diese Zellen werden häufig bei der homozygoten Form der Sichelzellanämie gesehen, da hier irreversibel veränderte Zellen vorliegen. Bei heterozygoten Merkmalsträgern ist das selten der Fall /17/.

Schistozyten

Es handelt sich um helmartige Erythrozytenfragmente, die durch mechanische Zerstörung entstehen, z.B. nach Einsatz von künstlichen Herzklappen, beim hämolytisch-urämischen Syndrom oder der Verbrauchskoagulopathie /1/.

Targetzellen

Targetzellen (Schießscheibenzellen), haben im Blutausstrich Schießscheiben-Gestalt, da das Hämoglobin verstärkt im Randbezirk und der Zellmitte konzentriert ist. Sie kommen bei hypochromer Anämie, hämolytischer Anämie, Thalassämie-Syndrom, HbC-Krankheit und nach Splenektomie vor.

Erythrozyten-Agglutinate

Es besteht eine irreversible Erythrozytenagglutination durch heterophile IgM-Antikörper. Sie treten auf bei der infektiösen Mononukleose (EBV-Antikörper), bei Infektionen mit Mycoplasma pneumoniae und bei Kälteagglutininen aus unbekannter Ätiologie.

Rouleaux Phänomen

Das Rouleaux Phänomen wird im Blutausstrich im dicken Teil des Ausstrichs, nicht aber im dünnen Teil gesehen und bezieht sich darauf, dass zwei Erythrozyten oder mehr eine Kette bilden. Das Phänomen ist reversibel wenn das Blut mit Kochsalzlösung verdünnt wird. Deshalb betrifft das Phänomen nicht die MVC Messung mit Hämatologie Analysatoren. Hyperfibrinogenämia und Hypergammaglobulinämia sollen die Ursachen des Rouleaux Phänomens sein /1/.

Basophile Tüpfelung

Die basophile Tüpfelung wird im gefärbten Blutausstrich (Wright- oder Pappenheim-Färbung) als feine dunkle Einschlusskörperchen der Erythrozyten gesehen, die sich beim Trocknen und Färben des Ausstrichs bilden /1/. Die basophile Tüpfelung ist das Zeichen einer verminderten Regeneration der Erythrozyten. Die basophile Tüpfelung wird gesehen bei der megaloblastären Anämie, chronischem Alkoholismus, Bleiintoxikation (verminderte Hämsynthese), Intoxikation mit Arsen, Thalassämie (verminderte Synthese von Globin), Porphyrie und beim Pyrimidin 5' Nukleotidase-Mangel.

Howell-Jolly Körperchen

Schmale, runde, violett-gefärbte Chromatinkörperchen in den Erythrozyten. Es handelt sich um DNA-Reste, die normalerweise von der Milz entfernt werden. Sie werden gesehen bei hyperregenerativer Erythropoese mit verminderter Kernausstossung. Howell-Jolly Körperchen werden bei Splenomegalie und der chronischen Graft versus host Erkrankung nachgewiesen..

Cabot Ringe

Rötliche Ringe, einzeln oder als komplette Schleifen wie eine Acht, in Erythrozyten werden bei DNA Synthesestörungen gesehen, z.B. bei megaloblastärer Anämie

Siderosomen

Wenn bei der Erythropoese das Eisen, das von den erythroiden Vorläuferzellen aufgenommen wurde, nicht sofort für die Bildung von Häm Verwendung findet, sondern erst gespeichert wird in Form von Ferritin oder Hämosiderin so kann es vermittels der Eisenfärbung als Siderosomen nachgewiesen werden. Erythozyten, die Siderosomen enthalten, werden als Siderozyten bezeichnet und Erythroblasten, die Siderosomen enthalten, als Sideroblasten. Die Mitochondrien der Erythroblasten sind als Ringe um den Kern gelegen. Störungen der Protoporphyrinsynthese des Eythroblasten führen zu einer Anhäufung von Eisen in den Erythroblasten. Ringsideroblasten werden bei der hereditären Form der sideroblastischen Anämie, in seiner erworbenen Form insbesondere dem myelodysplastischen Syndrom nachgewiesen. Siehe auch Beitrag 15.16 – Myelodysplastisches Syndrom.

Tabelle 15.13-3 Artefakte und morphologische Veränderungen der Thrombozyten im Blutausstrich

Veränderung

Beurteilung

Plättchenaggregate

Plättchenaggregate sind häufig EDTA-induziert und bewirken eine Pseudothrombozytopenie. Abhängig von der Literatur wird eine Häufigkeit von 0,1–1,9 % angegeben. Die meisten Patienten haben keine charakteristische Grunderkrankung. Gehäuft sollen EDTA-induzierte Plättchenaggregate jedoch bei Autoimmunerkrankungen, Atherosklerose und bei kritisch Kranken vorkommen /8/. Ebenfalls zur Plättchenaggregation und Pseudothrombozytopenie kann die Behandlung mit dem Glykoprotein IIb/IIIa-Antikörper Abciximab führen. Etwa 5 % der Behandelten entwickeln diese Symptomatik, ein Drittel dieser Patienten hat eine EDTA-induzierte Thrombozytopenie /18/.

Plättchen-Satellismus

Thrombozyten lagern sich an neutrophile Granulozyten, Basophile, Eosinophile, Lymphozyten und Lymphomzellen. Vermittelt wird dies durch IgG-Autoantikörper die gerichtet sind gegen den Glykoprotein IIb/IIIa-Rezeptor der Thrombozyten und den FcRIII auf der Leukozytenmembran /19/. Mit dem Hämatologie Analyzer kann eine leichte Thrombozytopenie und Leukopenie gemessen werden.

Riesenplättchen

Riesenplättchen werden gesehen bei myeloproliferativen Erkrankungen, Hypersplenismus und hereditär bedingt wie beim Bernard-Soulier Syndrom und der May-Hegglin Anomalie /8/. Sind Riesenplättchen in großer Zahl vorhanden können sie fälschlicherweise die Leukozytenzahl erhöhen.

Gray-Platelet Syndrome

Die Plättchen erscheinen grau oder blass-blau auf Grund eines Mangels an α-Granula. Das Phänomen wird sehr selten als hereditäre Erkrankung gesehen, tritt aber erworben in Assoziation mit einem myeloproliferativen Syndrom, myelodysplastischen Syndrom, nach kardiopulmonalem Bypass und bei Haarzellleukämie auf /8/.

Andere Partikel

Falsch hohe Thrombozytenzahlen werden mit Hämatologie Analyzern gemessen bei der Präsenz von Fragmenten roter Blutzellen von Leukämiezellen und bei Pilzsepsis /2/.

Tabelle 15.13-4 Morphologische Blutausstrich Befunde bei infektiösen Erkrankungen

Infektion

Blutbildveränderung

Clostridium perfringens

Sepsis durch Bakterien und Pilze kann eine intravaskuläre Hämolyse mit dem Auftreten von Sphärozyten, Fragmentozyten und freien Streifen von Erythrozytenmembranen verursachen. Das ist jedoch äußerst selten und kommt vorwiegend bei einer Sepsis mit C. perfringens vor /11/. Eine Sepsis mit diesem Erreger tritt bevorzugt bei Patienten mit gastrointestinalen Tumoren auf. Die Hämolyse ist bedingt durch die Bildung bakterieller Lecithinase. Die Sepsis mit C. perfringens ist bei Tumorpatienten fast immer tödlich /20/.

Malaria

Siehe Beitrag 44.5.2.3 – Malaria. Die Größe der befallenen Erythrozyten ist bei Malariainfektion wie folgt verändert: Nicht vergrößert bei Infektion mit P. falciparum und P. malariae, deutlich vergrößert (1,5–2-fach) bei Infektion mit P. vivax und vergrößert (1,25–1,5-fach) bei Infektion mit P. ovale.

N. meningitidis, S. aureus

Generell werden Bakterien selten in Blutausstrichen gefunden. Ist das der Fall spricht das für eine schwere Sepsis mit schlechter Prognose. Die Bakterien liegen in polymorphkerigen Granulozyten in haufenförmiger Anordnung, oft sogar in Vakuolen. In der Routinediagnostik werden am häufigsten S. aureus und N. meningitidis gefunden /10/. Liegen die Bakterien nur außerhalb der Leukozyten muss eine Verunreinigung der Färbelösung in Betracht gezogen und von dieser eine Kultur angelegt werden.

Ehrlichia

Ehrlichia sind obligat intrazellulär wachsende kokkoide, pleomorphe, gramnegative Bakterien, die der Familie der Rickettsiaceae angehören. Sie werden von Zecken übertragen. Eine humane monozytäre Ehrlichose (HME), verursacht durch E. chafeenis und eine granulozytäre Ehrlichose (HGE), verursacht durch eine unbekannte Spezies, sind bedeutsam. Ehrlichia bildet in den Granulozyten und Monozyten Zellmembran-gebundene Haufen der kokkobazillären Erreger. Sie haben die Gestalt blassblauer Morulae von 1–3 μm Durchmesser. 25–80 % der Patienten mit HGE haben Morulae in den Leukozyten, aber nur 1–2 % derjenigen mit HME /21/. Die Ehrlichose ist eine oft asymptomatische, milde selbst limitierende Erkrankung. Von einem symptomatischen Verlauf, der mild, schwer oder fatal sein kann, sind ältere Personen und diejenigen mit schwerer Grunderkrankung betroffen. Das betrifft auch Immunsupprimierte (HIV, Zustand nach Organtransplantation, hochdosierte Kortikosteroid-Therapie) /22/.

Babesia

Babesien sind Protozoen, die durch Zecken übertragen werden. Es gibt zwei Formen der Babesiose, eine milde amerikanische Form, der Erreger ist B. microti und eine schwerere europäische Form, die durch B. divergens verursacht wird. Nach einem Zeckenbiss wandern Merozoiten von Babesia in die Erythrozyten, reifen zu Trophozoiten, vermehren sich asexuell und können einen Erythrozyten zur Lyse bringen. Der Nachweis erfolgt im Blutausstrich /11/. In den Erythrozyten liegen die ringförmigen Trophozoiten, die sehr kleine Ringe bis zu einen Durchmesser von 2 μm haben können. Eine Zelle kann 1 bis 12 Ringe enthalten. Bei den meisten Patienten sind 1–20 % der Erythrozyten befallen, bei Splenektomierten bis zu 85 %. Die wichtigste Differentialdiagnose der Babesiose ist die Malaria. Die klinischen Symptome treten 1–4 Wochen nach dem Zeckenbiss auf und können ein breites Spektrum von Grippe-ähnlicher Symptomatik bis zu mittelschweren Malaria-ähnlichen Symptomen verursachen. Fieber, Schwäche, Schweißausbruch, Myalgie, Arthralgie und Übelkeit im Frühsommer, der Zeckenzeit, sollten auch an eine Babesiose denken lassen /22/.

Spirochäten

Während akuter febriler Perioden des Rückfallfiebers können in bis zu 70 % der Fälle im Blutausstrich Spirochäten nachgewiesen werden, nicht aber in afebrilen Perioden. Buffy coat-Untersuchungen unter Anfärbung mit Acridinorange sind empfindlicher als der gewöhnliche Blutausstrich. Leptospiren sind extrazellulär gelagert, haben eine Länge von 8–40 μm, eine Breite von 0,2–0,6 μm und 3–10 lockere irreguläre Windungen /11/. Das Rückfallfieber kann entweder durch Borrelia recurrentis ausgelöst werden, Vektor ist die Laus oder durch eine von 16 Borrelien-Spezies, Vektor ist die Zecke.

Trypanosoma

Es gibt zwei geographische Varianten: Die afrikanische Trypanosomiasis (Schlafkrankheit), verursacht durch T. brucei gambiense oder T. brucei rhodesiense und die südamerikanische (Chagas-Krankheit), hervorgerufen durch T. cruzi. Vektor der afrikanischen Variante ist die Tsetse-Fliege, Vektor der südamerikanischen, eine Wanze. Im Blutausstrich nachweisbar sind Trypomastigoten bei der Chagas-Krankheit in der akuten Phase, nicht aber bei der chronischen Chagas-Krankheit. Die Nachweisbarkeit ist ebenfalls gut bei der akuten T. brucei rhodensiense-Infektion, aber schlecht in der frühen Phase der T. brucei gambiense-Infektion. In diesen Fällen sollte ein dicker Ausstrich untersucht werden oder ein Buffy coat-Ausstrich /11/.

Filaria

Folgende fünf Filarienspezies bilden im Menschen in der Blutbahn zirkulierende Mikrofilarien: Wucheria bancrofti, Brugia malayi, Loa Loa, Mansonella perstans, Mansonella ozzardi. Die Mikrofilarien haben eine Länge von 230–300 μm, eine Dicke von etwa 7 μm und sind von bandartiger Struktur. Über nahezu die gesamte Länge enthalten die Filarien eine Kette von Zellkernen. Da der Nachweis im normalen Blutausstrich negativ sein kann, wird die Anfertigung eine dicken Tropfens empfohlen /23/.

Tabelle 15.14-1 Auswahl der Methoden in der Knochenmark-Diagnostik bei Primärdiagnose/Verdachtsdiagnose von Leukämien und Lymphomen /8/

Methoden

Akute Leukämie

MPN/CML

MDS

Lym- phom

Rezidiv

Zytomorphologie

+

+

+

+

+

Zytochemie/Eisen

+

+

+

Histologie

(+)

+

(+)

+

(+)

Immun­phäno­typisierung

+

(+),*

(+)

+

#

Zytogenetik

+

+

+

(+)

+

FISH

§

§

+

§

§

24-Farben-FISH

§

§

§

§

§

PCR, real time PCR

+

+

(+)

#

#

+, obligat; (+), fakultativ, bei besonderer Fragestellung; #, nur im Rahmen von Studien

mit klar definierter Fragestellung; §, wenn für andere Methoden, wie z.B. Zytogenetik,

als Ergänzung erforderlich. CML, chron.myeloische Leukämie;

MDS, myelodyspl. Syndrom; MPN, myeloproliferative Neoplasie;

*Blastenkrise

Tabelle 15.14-2 Prozentsatz der Knochenmarkzellen Gesunder nach Lit. /5/

95 %-Bereich

Blasten

0–3,0

Promyelozyten

3,2–12,4

Myelozyten

3,7–10,0

Metamyelozyten

2,3–5,9

Stab- und Segmentkernige

  • Männer

21,9–42,3

  • Frauen

28,8–45,9

  • Eosinophile

0,7–6,3

  • Basophile

0–0,4

Erythroblasten

  • Männer

16,2–40,1

  • Frauen

13,0–32,0

Lymphozyten

6,0–20,0

Plasmazellen

0–1,2

Monozyten

0–2,6

Makrophagen

0–1,3

Verhältnis Myelopoese/Erythropoese

  • Männer

1,1–4,1

  • Frauen

1,6–5,2

Tabelle 15.15-1 Methoden zur Diagnostik bei akuten Leukämien

Methoden

AML

ALL

Zytomorphologie Blut und KM

+

+

Zytochemie

+

+

Histologie

0/+

0/+

Immunphänotypisierung

+

+

Zytogenetik

+

+

FISH

bB

bB

PCR

bB (+): (+)

bB

+, sollte zur Routine gehören; 0, muss nicht zur Routine gehören; bB, bei Bedarf nach anderen Ergebnissen; FISH, Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung; PCR, Polymerase-Kettenreaktion

Tabelle 15.15-2 Frühere FAB-Klassifikation der AML, als erster Diagnostikschritt zeitlich vor WHO-Klassifikation durchführbar

AML-M0

Weitgehend undifferenzierte akute myeloische Leukämie, Immunphänotyp zur Bestätigung nötig

AML-M1

Granulozytäre Leukämie ohne Ausreifungstendenz

AML-M2

Granulozytäre Leukämie mit Ausreifung von mindestens 10 % der leukämischen Zellen zu Promyelozyten, Myelozyten oder noch reiferen Zellen

AML-M3

Hypergranuläre Promyelozytenleukämie

AML-M3v

Wie M3 mit bilobulären Kernen und hypogranuliertem Zytoplasma, entsprechend mikrogranuläre Promyelozytenleukämie

AML-M4

Leukämie mit Nachweis einer granulozytären und einer monozytären Komponente

AML-M4Eo

Wie M4, jedoch mit pathologischen eosinophilen Granulozyten

AML-M5a

Akute Monoblastenleukämie

AML-M5b

Akute Monozytenleukämie

AML-M6

Mindestens 50 % Erythroblasten, unter den anderen Zellen ≥ 30 % Blasten

AML-M7

Megakaryoblastenleukämie, Immunphänotyp zur Bestätigung nötig

Tabelle 15.15-3 WHO-Klassifikation der AML (2008)

AML mit spezifischen genetischen Aberrationen

  • AML mit t(8;21)(q22;q22); RUNX1-RUNKX1T1
  • AML mit inv(16)(p13.1q22) oder t(16;16)(p13.1;q22); CBFB-MYH!!
  • Akute Promyelozytemleukämie mit t(15;17)(q22;q12); PML-PARA
  • AML mit t(9;11)(p22;q23); MLLT3-MLL
  • AML mit t(6;9)(p23;q34); DEK-NUP214
  • AML mit inv(3)(q21q26.2) oder t(3;3)(q21;q26.2);RPN1-EVII
  • Megakaryoblastische AML mit t(1;22)(p13;q13); RMB15-MKLI
  • AML mit mutiertem NPMI
  • AML mit mutiertem CEBPA

AML mit Myelodysplasie-assoziierten Veränderungen

  • AML mit vorausgegangenem MDS oder MDS/MPN
  • AML mit MDS spezifischen zytogenetischen Aberrationen
  • AML mit Mehrliniendysplasie

Therapie induzierte myeloische Neoplasien

  • AML nach Alkylanzien
  • ML nach Epipodophyllotoxin
  • AML nach Radiatio

AML ohne andere Einordnungsmöglichkeit

  • AML minimal differenziert
  • AML ohne Ausreifung
  • AML mit Ausreifung
  • Akute myelomonozytäre Leukämie
  • Akute monoblastische und monozytäre Leukämie

Akute erythrozytäre Leukämie

  • Akute Megakaryoblastenleukämie
  • Akute Basophilen-Leukämie
  • Akute Panmyelose mit Myelofibrose

Myelosarkom/Chlorom

Mit Down-Syndrom assoziierte myeloische Proliferation

Blastisch plasmazytoide dendritische Zellneoplasien

Tabelle 15.15-4 Abgrenzung der Blasten (Typ I und Typ II) von abnormen Promyelozyten (bei AML-M3) bzw. von normalen Promyelozyten

Kriterium

Blasten bei AML Typ I/II

Abnorme Promyelozyten bei AML-M3

Normale Promyelozyten

Kernlage

Zentral

Meist zentral

Exzentrisch

Kernchromatin

Fein

Mittel

Grob

Nukleolen

0–2

0–2

0–1

Golgizone

Keine oder nur angedeutet

Selten

Betont

Basophilie des Zytoplasmas

+++

+ bis rötlich

+

Azurophile Granula

0/15–20

Massenweise, betont

Zumeist > 20

Auerstäbchen

Möglich

Viele, in Bündeln, sog. Faggot-Zellen

Nein

Tabelle 15.15-5 Laborbefunde bei akuter myeloischer Leukämie /14/

Leukozyten

Bei 30–40 % der Patienten, die mit einer Leukozytose in Gegenwart von Blasten diagnostiziert werden, beträgt die Zahl weißer Blutzellen > 100.000/L.

Hämoglobin

Normozytische bis hypochrome Anämie.

Thrombocyten

Plättchenzahl (50–150) × 109/L.

Fieber

Körpertemperatur > 38 °C

Kalium

Konzentration 2–3 mmol/L; leukämische Leukozyten haben eine verstärkte Aktivität der Na-K-Pumpe. Die Aktivität rührt daher, dass Kalium aus dem Plasma in den Leukozyten gepumpt wird, wodurch die Kaliumkonzentration im Plasma vermindert ist.

Sodium

Normal: 135–145 mmol/L

Creatinine/eGFR

Die estimated glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) beträgt < 70 [mL × min–1 × (1,73  m2)–1]. Bei Leukämien mit monozytärer Differenzierung wird Lysozym freigesetzt. Es handelt sich um eine paraneoplastische Komplikation. Lysozym wird in die Blutzirkulation freigesetzt, von den Glomerula filtriert und in den Nierentubuli zurückgenommen. Dadurch kommt es zur toxischen Schädigung der Tubuluszellen und dem Verlust von Kalium. Die Therapie mit Cisplatin, Aminoglykosiden oder Schleifendiuretika sind andere Ursachen des Kaliumverlusts.

Harnstoff

Kann erhöht sein

Harnsäure

Hyperurikämie; leukämische Infiltrate oder die Harnsäurenephropathie können eine Nierenschädigung und somit auch eine Hypokaliämie verursachen.

Gesamteiweiß

Hypoproteinämie

Albumin

Hypoalbuminämie

Globuline

Normale Konzentration

LDH

Stark erhöht

ALT

Leicht erhöht

AST

Leicht erhöht

ALP

Normal

Bilirubin

Normal

pH

Leicht erhöht

pO2

PO2 ist ein wesentliches Kriterium zur Abschätzung der Sauerstoffversorgung. Da sich der Verbrauch von Sauerstoff proportional zum Anstieg der Leukozyten verhält, ist der arterielle Druck des Sauerstoffs bei Leukämie vermindert.

pCO2

Normal

Tabelle 15.16-1 WHO-Einteilung der myelodysplastischen Syndrome /1/

Entität

Dysplasie

Blasten im Blut

Blasten im KM

Ringsiderobl. im KM

Zyto­genetik

5q-Syndrom

Meist nur DysE

< 5 %

< 5 %

< 15 %

nur 5q

RCUD (RN, RA, RT)

Meist nur DysG oder DysE oder DysM

< 1 %

< 5 %

< 15 %

V

RARS

Meist nur DysE

Keine

< 5 %

≥ 15 %

V

RCMD

2–3 Linien

Selten

< 5 %

< 15 %

V

RAEB-1

1–3 Linien

< 5 %

5–9 %

< 15 %

V

RAEB-2

1–3 Linien

5–19 %

10–19 %

< 15 %

V

MDS-U

1 Linie

Keine

< 5 %

< 15 %

V

KM, Knochenmark; V, verschieden. RCUD, refraktäre Zytopenie mit Einlinien-Dysplasie; RN, refraktäre Neutropenie; RA, refraktäre Anämie; RT, refraktäre Thrombozytopenie; RCMD, refraktäre Zytopenie mit Multilinien-Dysplasie; RAEB, refraktäre Anämie mit Erhöhung von Blasten

Tabelle 15.16-2 IPSS-Score (International Prognostic Scoring System): Gruppierung nach Punkten /4/

Score-Punkte

0

0,5

1

1,5

2

% Blasten im Knochenmark

< 5

5–10

11–20

21–30

Karyotyp

günstig

intermediär

ungünstig

Zytopenien

0/1

2/3

Karyotyp günstig: normal, -Y, del(5q), del(20q); Karyotyp ungünstig: komplex aberrant (≥ 3 Aberrationen), Aberrationen an Chromosom 7; alle anderen Chromosomenbefunde sind intermediär

Tabelle 15.16-3 IPSS-Score, prognostische Einteilung /4/

Punkte

0

0,5 bis 1,0

1,5 bis 2,0

≥ 2,5

Risikogruppe

Low

Int-1

Int-2

High

Int, intermediär

Tabelle 15.16-4 Zytogenetische Alternationen bei MDS und AML

Abnormalität an Chromosom

Häufigkeit (%) bei MDS

Häufigkeit (%) bei AML

del(5q) allein

5–20 %

2 %

-7, del(7q-) allein

3–10 %

2 %

+8

5–10 %

5 %

-17, del(17p), iso (17q)

5 %

3 %

del(20q))

3–5 %

0,5 %

-X, -Y

2 %

0,5 %

t(3;3)(q21;q26), inv(3)(q21q26)

< 1 %

1–2 %

Komplexer Karyotyp

10–15 %

10–15 %

Tabelle 15.17-1 Charakteristika und orientierende Parameter bei Differentialdiagnose der MPN

Charakteristika

CML

PV

PMF

ET

Splenomegalie

(+)

Nein

+

Nein

Blutbild-Veränderungen der Granulopoese und/oder der Erythropoese

Leukozytose mit Linksverschiebung

Eosinophilie

Basophilie

Leukozytose

Hämatokrit ↑

Tear drop-Formen der Erythrozyten

Linksverschiebung der Granulopoese

Normoblasten

Nein

Thrombozyten

(↑)

(↑) Riesenformen

↓ bis (↑)

> 450 × 109/l Riesenformen

KM-Zytologie

Sehr hyperzellulär, Basophilie, Megakaryozyten und Eosinophile ↑

Deutlich hyperzellulär Erythropoese ↑

Zumeist Punctio sicca

Mega­karyozyten deutlich vermehrt

KM-Histologie

Granulopoese ↑

Megakaroyzyten ↑

Zellgehalt ↑

Ausgeprägte Fibrose

Mega­karyozyten vermehrt, in Nestern liegend

Philadelphia-C.

t(9;22); BCR-ABL1

Ja

Nein

Nein

Nein

Andere Chromosomen­veränderungen

In der Akzeleration und Blastenkrise

del (20q), +8. +9, +1q

–7, +8, +9, +1q

Sehr selten

Vit. B12 > 900 ng/l

Normal

Normal

CML, chronische myeloische Leukämie; PV, Polycythämia vera; PMF, primäre Myelofibrose; ET, essentielle Thrombozythämie.

Tabelle 15.17-2 Methoden zum Diagnosezeitpunkt bei chronisch myeloproliferativen Neoplasien

Methoden

PV

ET

PMF

CML

Zytomorphologie Blut und KM

+

+

+

+

Histologie

+

+

+

+

Zytogenetik

(+)

+

+

FISH

+ (BCR-ABL1)

PCR

+

+

+

+ (BCR-ABL1)

+, sollte zur Routine gehören; –, muss nicht zur Routine gehören; FISH, Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung; PCR, Polymerase-Kettenreaktion

Tabelle 15.17-3 WHO-Klassifikation der CML auf der Basis der morphologischen Befunde /1/

CML in chronischer Phase

  • Klassisches Bild in der Zytomorphologie und/oder Histologie und BCR-ABL1 positiv bzw. Nachweis der t(9;22). Blasten im Blut < 2 %, im KM < (5)–10 %

CML in akzelerierter Phase (ein oder mehrere Kriterien erfüllt)

  • 10–19 % Blasten in Blut und/oder Knochenmark.
  • Basophile im Blut > 20 %.
  • Thrombozyten nicht-therapiebedingt < 100 × 109/l oder > 1.000 × 109/l.
  • Leukozyten > 10 × 109/l oder Milz zunehmend und durch Therapie nicht beeinflussbar.
  • Klonale Evolution in der Zytogenetik.

CML in Blastenkrise (ein oder mehrere Kriterien erfüllt)

  • ≥ 20 % Blasten in Blut und/oder Knochenmark.
  • Extramedulläre Blastenproliferation.
  • Größere Herde von Blastennestern in der Knochenmarkbiopsie.

Tabelle 15.17-4 Diagnosekriterien der Polycythemia vera (PV)

Hauptkriterien

1.

Hämoglobinwerte > 185 g/l bei Männern, > 165 g/l bei Frauen oder jeglicher weiterer Nachweis einer Erythrozytose*

2.

Nachweis einer JAK2 V617F-Mutation oder andere gleichwertig funktionelle Mutationen wie z.B. JAK2 exon12

Nebenkriterien

1.

Alters-unspezifisches, hyperzelluläres Knochenmark mit trilineärem Wachstum (Panmyelosis) mit markanter erythrozytischer, granulozytischer und megakaryozytischer Proliferation

2.

Serum Erythropoetinwerte unter dem Referenzbereich

3.

Endogene erythroide Koloniebildung in vitro

* Hämoglobin- oder Hämatokrit über der 99. Perzentile

des Referenzbereichs für Alter, Geschlecht, Resistenzfähigkeit;

oder Hämoglobin > 170 g/L bei Männern, bei Frauen > 150 g/L

(falls dies einhergeht mit einem dokumentierten und anhaltenden Anstieg von mindestens 20 g/L vom individuellen Grundwert, der jedoch nicht von der Therapie einer Eisenmangelerkrankung ausgeht); oder eine Erythrozytose über 25 % des angenommenen Normalwertes

Tabelle 15.17-5 Diagnosekriterien der Primären Myelofibrose (PMF)

Hauptkriterien

1.

Nachweis einer megakaryozytären Proliferation und Atypiea, für gewöhnlich einhergehend mit Retikulin- und/oder Kollagenfibrose,

oder

falls keine maßgebliche Retikulinfibrose nachgewiesen wird, muss die Veränderung der Megakaryozyten begleitet sein von einer erhöhten Knochenmarkhyperzellularität, die sich durch eine granulozytäre Proliferation und oft durch eine erniedrigte Erythropoese (z.B. pre-fibrotische Phase der Erkrankung) auszeichnet.

2.

Die WHO-Kriterien für Polycythämia Verab, BCR-ABL1+ chronische myeloische Leukämiec, myelodysplastische Syndromed, oder andere myeloische Neoplasien sind nicht erfüllt.

3.

Vorhandensein von JAK2 V617F oder anderer klonaler Marker (z.B. MPL W515K/L),

oder

falls kein klonaler Marker vorhanden ist, darf es keinen Hinweis darauf geben, dass die Knochenmarkfibrose oder andere Veränderungen auf einer Infektion, einer Autoimmunerkrankung oder anderen chronischen Erkrankungen beruhen, wie der Haarzellleukämie oder anderen lymphatischen Neoplasien, metastatischen Malignomen oder toxischen (chronischen) Myelopathiene.

Nebenkriterien

1.

2.

3.

4.

Leukoerythroblastosef

Anstieg der Serum-Lactatdehydrogenasef

Anämief

Splenomegalief

a Kleine bis große Megakaryozyten mit einer aberanten Kern/Zytoplasma Ratio und hyperchromatischen, runden oder irregulär geformten Nuklei und dichtem Clustering.

b Setzt das Scheitern einer Eisenbehandlung zur Erhöhung des Hämoglobinwertes voraus, um den Wert bei niedrigem Serumferritin auf Werte wie bei Polycythämia vera zu bringen. Die Polycythämia vera kann aufgrund der Hämoglobin- und Hämatokritwerte ausgeschlossen werden, die Messung der Masse der roten Zellen ist nicht nötig.

c BCR-ABL1 muss negativ sein.

d Es darf keine Dyserythropoese und Dysgranulopoese nachgewiesen sein.

e Patienten mit Symptomen ähnlich der reaktiven Myelofibrose sind nicht immun gegenüber der PMF, die Diagnose sollte in Betracht gezogen werden wenn andere Kriterien zutreffen.

f Der Grad der Abweichung kann grenzwertig oder deutlich sein.

Tabelle 15.17-6 Diagnosekriterien der essentiellen Thrombozythämie (ET)

1.

Länger anhaltendea Thrombozytenzahl ≥ 450 × 109/L

2.

Die Knochenmarkbiopsie zeigt hauptsächlich eine Proliferation der megakaryozytären Linie mit ansteigender Anzahl von vergrößerten, reifen Megakaryozyten. Es besteht kein nennenswerter Anstieg oder eine Linksverschiebung der neutrophilen Granulopoese oder der Erythropoese.

3.

Die WHO-Kriterien für Polycythämia verab, Primäre Myelofibrosec, BCR-ABL1 positive chronische myeloische Leukämied, oder myelodysplastische Syndromee, oder andere myeloische Neoplasien sind jeweils nicht erfüllt.

4.

Nachweis von JAK2 V617F oder anderen klonalen Markern, oder – falls JAK2 V617F nicht mutiert ist – kein Hinweis auf eine reaktive Thrombozytosef.

a Während des Abklärungsprozesses.

b Setzt das Scheitern einer Eisenbehandlung zur Erhöhung des Hämoglobinwertes voraus, um den Wert bei niedrigem Serumferritin auf die Höhe des Wertes bei der Polycythämia Vera zu bringen. Die Polycythämia vera kann aufgrund der Hämoglobin- und Hämatokritwerte ausgeschlossen werden, die Messung der roten Zellmasse ist nicht nötig.

c Setzt das Fehlen einer relevanten Retikulinfibrose voraus, oder einer Kollagenfibrose, Leukoerythroblastose im peripheren Blut, oder deutlich hyperzelluläres Knochenmark begleitet von einer Morphologie der Megakaryozyten, die typisch für die Primäre Myelofibrose ist, inklusive kleiner bis großer Megakaryozyten mit einer abberanten Kern/Zytoplasma-Ratio und hyperchromen, runden oder irregulär geformten Kernen und dichtem Clustering.

d BCR-ABL1 muss negativ sein.

e Es darf keine Dyserythropoese oder Dysgranulopoese nachgewiesen sein.

f Als Ursache für eine reaktive Thrombozytose kommen in Frage: Eisenmangel, Splenektomie, Operationen, Infektionen, Entzündungen, Bindegewebserkrankungen, metastatischer Krebs und lymphoproliferative Erkrankungen. Zustände, die der reaktiven Thrombozytose gleichen, können jedoch die Möglichkeit einer ET nicht ausschließen falls die ersten drei Kriterien zutreffen.

Tabelle 15.18-1 Vom Kompetenznetz Akute und chronische Leukämien empfohlenes Basispanel für die initiale Diagnostik bei akuten Leukämien (letzte Revision 2008)

F1

F2

F3

F4

cy 1

cy-NK

cy-NK

cy-NK

cy-NK

cy 2

TdT

cyCD22

CD45

cyCD3

cy 3

MPO

LF

CD45

CD34

1

NK

NK

NK

NK

2

CD10

CD13

CD45

CD19

3

CD7

HLA-DR

CD45

CD33

4

Kappa

Lambda

CD45

CD19

5

CD2

CD1a

CD45

CD3

6

CD34

„7.1“

CD45

CD117

7

CD65

CD56

CD45

CD20

8

CD61

CD14

CD45

F1–F4, Fluoreszenz 1–4; cy, cytoplasmatische Färbungen; NK, Negativkontrolle

Tabelle 15.18-2 Terminologie, Häufigkeit und Phänotyp der immunologischen Subtypen der ALL

Subtyp

B-Vorläuferzell-ALL

B-ALL Burkitt Lymphom

T-Vorläuferzell-ALL

pro-Ba

common

prä-B

pro-T

prä-T

kortikale

reife

Häufigkeit (%)

Kinder/Erwachseneb

5/11

65/51

15/10

3/4

12/24

Progenitorzell-assoziierte Antigene

  • TdT

+c

+

+

+

+

±

  • HLA-DR

+

+

+

+

+

  • CD10

+

±

±

±

±

±

B-Zell-Antigene

  • CD19

+

+

+

+

  • CD22d

+

+

+

+

  • CD79a

+

+

+

+

  • cyIgM

+

  • mIgM

+

T-Zell-Antigene

cyCD3

+

+

+

CD7

+

+

+

+

CD2

+

+

+

CD5

+

+

+

CD1a

mCD3

±

+

a Synonym prä-prä-B-ALL; b entsprechend den Ergebnissen der deutschen multizentrischen ALL-Therapiestudien /421/; c + positiv, ± positiv oder negativ, – negativ; positiv bedeutet Nachweis des jeweiligen Antigens auf ≥ 20 % der Leukämiezellen (membranständige Antigene) bzw. in ≥ 10 % der Leukämiezellen (MPO, cyCD3, cyCD79a, TdT); d in unreifen Subtypen intrazytoplasmatische Expression

Abkürzungen: CD = Cluster of Differentiation, cy = intrazytoplasmatisch, m = membranständig, Ig = Immunglobuline

Tabelle 15.18-3 Korrelation von FAB-Klassifikation, Zytogenetik und Immunphänotyp

Antigen

FAB-Klassifikation

M0

M2

M3

M4Eo

M5

M5

M7

t(8;21)

t(15;18)

Inv16

t(9;11)

MPO

+/–

+

+

+

–/+

CD2

+/–

CD13

+/–

+

+

+

+/–

+/–

CD14

+/–

+/–

CD15

+/–

–/+

+/–

+

CD19

+/–

CD33

+/–

+/–

+

+

+

+

+

CD34

+/–

+/–

CD56

+/–

–/+

–/+

CD61

+

CD64

+/–

+

+

+

CD65s

–/+

+/–

–/+

+

+/–

+

+/–

CD117

+/–

+/–

–/+

+/–

–/+

HLA-DR

+/–

+

+

+

+

+/–

Immunologische und zytogenetische Merkmale akuter myeloischer Leukämien in Korrelation zum FAB-Subtyp. Es gibt hier keine definitiven Korrelationen, der Immunphänotyp kann nur wegweisend, nie beweisend für die definitive Subtypisierung der AML sein. –, Antigen nicht exprimiert; –/+ Antigen nur in < 50 % der Fälle exprimiert; +/– Antigen in der Mehrzahl der Fälle exprimiert; + Antigen exprimiert. Offene Felder stellen nur eine partielle Expression dar, die ohne Spezifität für die Diagnose ist oder für die keine zuverlässigen Daten vorliegen.

Tabelle 15.18-4 Score für die Definition der „Mixed phenotype acute leukemia“ (MPAL)

Myeloische Zellreihe

  • MPO oder
  • Zwei Marker monozytärer Differenzierung wie CD11c, CD14, CD64, Lysozym, NSE

T-Zellreihe

  • cyCD3 oder
  • mCD3 (nur wenige Fälle bekannt)

B-Zellreihe

  • CD19 (starke Expression) begleitet von einem weiteren Marker wie CD79a, cyCD22, CD10 oder
  • CD19 (schwache Expression) begleitet von zwei weiteren Marker wie CD79a, cyCD22, CD10

Um eine MPAL zu diagnostizieren müssen die Expressionskriterien

für mindestens zwei Zellreihen (myeloisch, B oder T) gegeben sein.

Abkürzungen: CD, Cluster of differentiation;

cy/m, intrazytoplasmatische bzw. membranständige Expression;

MPO, Myeloperoxidase; NSE, Neuronenspezifische Enolase

Tabelle 15.18-5 Antigenkombinationen für den Nachweis von Minimal Residual Disease bei Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie

Subtyp

Phänotyp

Häufigkeit (%)

B-Vorläuferzell-ALL

CD19/CD34/CD10/TdT

30–50

CD19/CD34/CD10/CD22

20–30

CD19/CD34/CD10/CD58

40–60

T-Vorläuferzell-ALL

TdT/CD5/CD3

90–95

CD34/CD5/CD3

30–50

AML

CD117/CD33/HLA-DR

26

CD34/CD117/CD33/HLA-DR

20

Tabelle 15.18-6 Immunologisches Markerprofil normaler B-Zellen und chronischer lymphoproliferativer Erkrankungen vom B-Zelltyp

Norm B

B-CLL

B-PLL

LPZ

MZL

FL

HZL

HZL-V

SLVL

DLBCL

sIg

+

(+)

+

+

+

+

+

+

+

+

CD5

+

–/+

+

CD10

+/–

–/+

CD11c

–/(+)

+

+

–/+

CD19

+

+

+

+

+

+

+

+

+

+

CD22

+/–

+

+

+

+

+

+

+

+

CD23

–/+

+

–/+

–/+

–/+

k.A.

CD24

+

+

+

+/–

+

+

–/+

–/+

+

+

CD25

–/(+)

+

–/+

–/+

CD43

+

+/–

–/+

+

CD79a

+

+/–

+

+

+

+

+

+

+

+

CD103

+

+

–/+

CD200

+

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

FMC7

+

+

+

+

+

+

–/+

k.A.

Cyclin D1

+

–/(+)

–/(+)

Abkürzungen: k.A., keine Angaben; Norm B, normale zirkulierende B-Zelle; B-CLL, B-chronische lymphatische Leukämie; B-PLL, B-Prolymphozytenleukämie; LPL, lymphoplasmozytisches Lymphom; MZL, Mantelzell-Lymphom; FL, follikuläres Lymphom; HZL, Haarzellen-Leukämie; HZL-V, Variantform der Haarzellen-Leukämie; SLVL, Milz-Lymphom mit villösen Lymphozyten; sIg, surface immunoglobulin; DLBCL, Diffus großzelliges B-Zell-Lymphom.

Tabelle 15.18-7 Immunologisches Marker-Profil normaler T-Zellen und lymphoproliferativer Erkrankungen vom T-Zelltyp

CD

Norm T

Akt T

LGLL/T

LGLL/NK

T-PLL

SEZARY

ATLL

ALCL

2

+

+

+

+

+

+

+

+/–

3

+

+

+

+

+

+

+/–

4

+/–

–/+

+/–

+

+

+/–

5

+

+

+

+/–

+/–

7

+

+

+

+/–

8

–/+

+/–

+

+/–

–/+

+/–

10

–/+

+/–

16

+

+

25

+/–

+

+

30

+/–

+/–

+/–

56

+/–

+/–

57

+/–

+/–

HLADR

+

–/+

+/–

+/–

Abkürzungen: Norm T, normale zirkulierende T-Zellen; Akt T, aktivierte T-Zellen,

LGLL/T, T-Zell large granular lymphocyte leukemia; LGLL/NK,

NK-Zell large granular lymphocyte leukemia; T-PLL, T-Prolymphozytenleukämie;

ATLL, adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom; ALCL, anaplastic large cell lymphoma

Multipotente Stammzellen Begrenzte Vorläuferzellen Morphologischerkennbare Vorläuferzellen GEWEBE, BLUT KNOCHENMARK CFU blast(pluripotentieStammzelle) CFU-GEMM(hämatopoetischeStammzelle) LymphatischeStammzelle Einfluss der primären Lymphorgane Knochenmark Thymus Prä-β-Zelle Prä-T-Zelle Proliferation insekundären Lymphorganen Monoblast Pronormoblast Megakaryoblast Myeloblast (Myeloblast) (Myeloblast) BasophilERNormoblast Promegakaryozyt Promonozyt Promyelozyt NeutrophilerMyelozyt NeutrophilerMetamyelozyt EosinophilerMyelozyt BasophilerMyelozyt PolychromatIscherNormoblast Orthochromati-scher Normoblast Retikulozyt Retikulozyt Erythrozyt GranulärerMegakaryozyt Neutrophiler Stabkerniger Neutrophiler Neutrophiler Neutrophiler Neutrophiler Eosinophiler Eosinophiler Eosinophiler Basophiler Basophiler Basophiler Monozyt Monozyt Megakaryozyt Thrombozyten Makrophage EosinophilerMetamyelozyt EosinophilerStabkerniger Unreifer Basophiler CFU-M CFU-G CFU-Eos CFU-Baso CFU-Meg CFU-E BFU-E BFU-Meg CFU-GM B-Lymphozyt T-Lymphozyt T-Lymphozyt B-Lymphozyt-Plasmazelle

Abbildung 15.1-1 Hierarchie des hämatopoetischen Systems mit Myelopoese und Lymphopoese; mit freundlicher Genehmigung nach Lit. /9/. CFU, Colony forming unit; BFU, Burst forming unit; E, erythrozytär; G, granulozytär; M, makrophagozytär; Meg, megaloblastär.

ZellteilungPräsenz von RNAEPO-RezeptorTransferrin-RezeptorHämoglobin-Synthese EPO-RezeptorTransferrin-RezeptorHämoglobin-Synthese Pro-Normoblast BasophilerNormoblast Poly- chromatischer Ortho- chromatischer Retikulozyt Erythro-zyt EPO EPO EPO CFU-E (späte) BFU-E CFU-GEMM IL-3IL-4IL-11GM-CSF IL-3IL-9GM-CSF IL-3IL-9GM-CSFEPO

Abbildung 15.1-2 Theoretisch wird die Erythropoese in einen Proliferationspool (obere Reihe) und einen Reifungspool (untere Reihe) aufgeteilt. Im Proliferationspool vermehren und differenzieren die Comitted progenitor cells stimuliert von Wachstumsfaktoren, insbesondere von Erythropoetin (EPO). EPO Mangel führt zur Apoptose von Zellen der CFU-E. Im Reifungspool bilden die Zellen Hämoglobin (Hb); die Hb-Synthese ist bei Eisenmangel vermindert. Mit freundlicherGenehmigung nach Lit. /29/.

ERY HC V

Abbildung 15.2-1 Erythrogramm. Der Hämoglobingehalt (HC) der Erythrozyten ist auf der Abszisse gegen ihr Volumen (V) auf der Ordinate aufgetragen. Darstellung eines normalen Erythrogramms. Die Punktwolke verschiebt sich bei Eisenmangelanämie in Richtung linkes unteres, bei perniziöser Anämie in Richtung oberes und bei hereditärer Sphärozytose zum rechten mittleren Feld.

ERY I REL% 50 100 200 300 fl ERY II REL% 50 100 200 300 fl ERY III REL% 50 100 200 300 fl ERY IV REL% 50 100 200 300 fl

Abbildung 15.2-2 Erythrozytenverteilungsbreite (Red cell distribution width, RDW). Aufgezeigt ist das Erythrozytenvolumen in fl auf der Abszisse gegen die relative Häufigkeit (REL%) auf der Ordinate. I. Normozytäre Anämie mit normaler RDW. Bei Thalassämie-Syndrom ist die RDW ebenfalls normal oder nur gering erhöht. II. Beginnende mikrozytäre Anämie bei Eisenmangel, die RDW ist verbreitert, bei Zunahme des Mangels verschiebt sich der Verteilungsgipfel weiter nach links. III. Makrozytäre Anämie. Die RDW ist im hohen MCV-Bereich verbreitert. IV. Verteilung bei hochtitrigen Kälteagglutininen, der Pfeil zeigt die charakteristische Veränderung.

Eisen-mangel Neoplasie,Entzündung Reifungs-störung Hämolyt.Anämie AkuteBlutung Mark-schädigung

Abbildung 15.3-1 Häufigkeit der Anämieursachen. Modifiziert nach Lit. /18/. Die hypoproliferativen Anämien sind dunkelgrau unterlegt.

Oxygen saturation (%) Oxygen partial pressure (mm Hg) 10050 C B A D 0 100 50

Abb. 15.3-3 Abhängigkeit der O2 Dissoziationskurven vom Sauerstoffpartialdruck (PO2) und der O2 Sättigung. Mit ansteigendem PO2, erreicht die O2 Sättigung (SO2) bei hohem PO2 ein Plateau. In diesem Teil ist die O2 Dissoziationskurve flach und zeigt an, dass die PO2 Werte im arteriellen Blut zu einer kompletten O2 Sättigung des Hämoglobins führen. Der steile Teil der O2 Dissoziationskurve bei niedrigem PO2 ist wichtig für die O2 Freisetzung vom Hämoglobin in den Geweben, da mit einem nur kleinem Abfall von PO2 in den Geweben eine große Menge an O2 von Hämoglobin freigesetzt wird /16/.

Die Kurve A zeigt die normale O2 Dissoziationskurve.

Die Kurve B zeigt die Situation bei einem verminderten 2,3-DPG Gehalt des Erythrozyten.

Die Kurve C zeigt die O2 Dissoziationskurve wenn 2,3-DPG in den Erythrozyten komplett fehlt.

Die Kurve D zeigt die Situation wenn das erythrozytäre 2,3-DPG erhöht ist.

Oxyhemoglobin R-configuration Deoxyhemoglobin T-configuration O 2 O 2 O 2 O 2 O 2 O 2 O 2 O 2 DPG DPG β 2 β 1 β 2 β 1 α 2 α 1 α 2 α 1

Abbildung 15.3-2 Struktur und Funktion von Hämoglobin (Hb), modifiziert nach Lit. /19/. Die αβ-Dimere des Hb bilden ein Tetramer, bestehend aus den Einheiten α1β1 und α2β2. Beide Dimere können in der α1β2-Region ihren Abstand, abhängig vom 2,3-Diphosphoglycerat (DPG)-Gehalt, ändern. Jedes Monomer enthält ein Hämmolekül (+) zur Bindung von O2. Zwischen den beiden β-Einheiten befindet sich die Bindungsstelle für DPG. Der DPG Gehalt der Erythrozyten wird durch die Diphosphoglyceratmutase aufrecht erhalten.

Das Hb-Molekül pendelt zwischen zwei Konformationen. In der desoxygenierten Konformation (T, Taut-Form) ist die Affinität zu O2 gering, in der oxygenierten (R, Relaxed-Form) ist sie hoch. DPG ist der Regulator der O2-Bindung. Die Affinität des Hb für O2 nimmt ab und O2 wird freigesetzt, wenn DPG in den peripheren Geweben an Hb bindet. Die beiden Dimere rücken näher aneinander und das Tetramer nimmt die T-Konfiguration an. Erreicht die T-Konformation die Lunge, findet der umgekehrte Prozess statt und O2 wird gebunden.

Eine Mutation im Gen der DPG-Mutase führt zu einer intraerythrozytären DPG-Erniedrigung, wodurch die O2-Bindung des Hb-Moleküls hoch bleibt, nur unzureichend O2 an die Gewebe abgegeben wird und kompensatorisch eine Erythropoetin vermittelte Erythrozytose resultiert.

Erythrozytose(Polyzythämie) Nichtklonal (Polycythemiavera) Kongenital Hypoxie-bedingterEPO-AnstiegParaneoplastisch EPO-Rezeptor-Mutation Hochaffines O 2 -Hämoglobin 2,3-DPG- Mutasemangel Störung der O 2 -Sensitivität – HVL-Genmutation – PHD 2 -Genmutation – HIF2α-Genmutation Klonal Erworben

Abbildung 15.4-1 Einteilung der Erythrozytosen (Polyzythämien). EPO, Erythropoetin; 2,3-DPG-Mutase, 2,3-Diphosphoglyceratmutase; HVL-Gen, von Hippel-Lindau Gen, PHD, Prolylhydroxylase; HIF2α, Transkriptionsfaktor.

LYN Y368 Y426 Y454 Y456 Y468 Y485 Y489 Y504 EPO SOCS3 CIS STAT5 JAK2 SAP-1 BMP-2 Grb2 F13K JAK2 Positive Regulation Negative Regulation AP5

Abbildung 15.4-2 Homodimerer Rezeptor nach Bindung von Erythropoetin (EPO). Die durch die Januskinase 2 (JAK 2) phosphorylierten Tyrosine (Y) sind Bindungsstellen für positive und negative Regulatoren des Signalweges vom Rezeptor zum Zellkern /33/. Positive Regulatoren fördern, negative hemmen die Signalübertragung.

EPO HRE HIF-2α PHD O H N HIF-2α O 2 O 2 -Mangel HIF-2α O H N HIF-2α O H N HIF-2α O H N O Ubiquinierung Normoxie Hypoxie PHD VHL PHD

Abbildung 15.4-3 Beziehung zwischen Prolyhydroxylase (PHD), dem Transkriptionsfaktor HIF2α und dem von Hippel Lindau (VHL)-Protein bei normaler Sauerstoffsättigung (Normoxie) und Hypoxie. Modifiziert nach Lit. /19/. O2 aktiviert die PHD, die dann HIF2α hydroxyliert. Das führt zur Bindung des VHL-Proteins und zur Ubiquinierung von HIF2α und dessen Degradierung. Bei Hypoxie assoziiert HIF2α mit seiner β-Untereinheit (nicht in der Abbildung gezeigt), der Komplex bindet an Hypoxia responsible elements (HREs) und bewirkt eine Aktivierung von Genen zur verstärkten Bildung von EPO.

Sauerstoffsättigung (%) 100 50 A D B C 0 50 Sauerstoffpartialdruck (mmHg) 100

Abbildung 15.4-4 Wirkung des 2,3-Diphosphoglycerats (2,3-DPG) auf die O2-Sättigungskurve. Mit freundlicher Genehmigung nach Lit. /37/ modifiziert. A = 2,3-DPG-Gehalt der Erythrozyten normal; B = 2,3-DPG-Gehalt der Erythrozyten niedrig; C = kein 2,3-DPG in den Erythrozyten vorhanden; D = 2,3-DPG-Gehalt der Erythrozyten hoch.

Normozytäre Anämie(MCV 80–95 fL) Retikulozyten Vermehrt Normal oder vermindert Akuter Blutverlust HämolytischesSyndrom Knochenmark-Insuffizienz Chronisch-entzündlicheErkrankungen

Abbildung 15.6-1 Diagnostische Hinweise bei normozytären Anämie durch Bestimmung der Retikulozyten /17/.

Retikulozyten Vermehrt Normal, vermindert Vit. B 12 -, Folat- Mangel Anbehandelter Vit. B 12 -, Folat- Mangel Akute Blutung bei Vit. B 12 -, Folat-Mangel Makrozytäre Anämie(MCV > 95 fl)

Abbildung 15.6-2 Diagnostische Hinweise bei makrozytärer Anämie durch die Bestimmung von Retikulozyten /17/.

Ferritin,Transferrinsättigung Normal Vermindert Microzytäre Anämie(MCV < 80 fL) Retik. normal Retik. vermehrt Chron. BlutverlustNutritiver Eisenmangel Chron.-entzündl.Erkrankung Hämoglobino-pathie

Abbildung 15.6-3 Diagnostische Hinweise bei mikrozytärer Anämie durch die Bestimmung von Retikulozyten /17/.

Retikulozyten MFR HFR LFR Erythro-zyten Thrombozyten Fluoreszenz Steulicht

Abbildung 15.6-4 Koordinatensystem eines Hämatologie Analyzers zur Zählung der Retikulozyten und Einteilung in die Reifungsstufen Low fluorescence reticulocytes (LFR), Medium fluorescence reticulocytes (MFR) und High fluorescence reticulocytes (HFR).

Q1 Q2 Q4 Q3 0 3,2 (2.0) sTfR/log Ferritin 20 28 CHr (pg) ESA + Eisen Eisen Eisen ESA 36 Anämie chronischer Erkrankung und Eisen-restriktive Erythropoese Mikrozytäre Erythro-poeseEisenmangel-Anämie Normozytäre Erythro- poeseAnämie chronischer ErkrankungKein Eisenmangel Normozytäre Erythro- poeseErythropoese

Abbildung 15.6-5 Diagnostisches Diagramm zur Beurteilung, Monitoring und Therapie des Eisenstatus /37/. Der Ferritin-Index (sTfR/log Ferritin) ist ein Marker der Eisenangebotes, der CHr ein Indikator des Eisenbedarfs der Erythropoese.

Ferritin-Indizes über 3,2 bei Patienten ohne und über 2,0 bei Patienten mit Inflammation zeigen ein mangelndes Eisenangebot an, ein CHr unter 28 pg ist der Indikator des Eisenbedarf der Erythropoese.

Patienten ohne Mangel an Eisen oder mit ACD sind in den Quadranten 1 gelegen, diejenigen mit Eisen-restriktiver Erythropoese und ACD in Quadrant 4

Patienten mit latentem Eisenmangel (keine Anämie) haben ihren Datenpunkt in Quadrant 2, diejenigen mit manifestem Eisenmangel in Quadrant 3.

Wird der sTfR mit dem Siemens-Assay bestimmt, betragen die Grenzwerte des Ferritinindizes 1,5 und 0,8. In den 4 Quadranten sind Behandlungsvorschläge angezeigt.

Nachweis einer AnomalieVergleich der Morbidität mit derjenigen von bekannten Anomalien. Bei HbS-Verdacht: Löslichkeitstest Trennung/Quantifizierung Hämolysat Bei Bedarf DNA-Sequenzierung Beurteilung aller Daten und Befunde Beurteilung aller Datenund Befunde Blutprobe Diagnose derβ-Thalassämien Bei gegebener Indikation DNA-Analse Elektrophorese HPLC: HbA 2 , HbF Diagnostik derβ-Thalassämien Diagnose derα-Thalassämien ElektrophoreseHPLC, DNA-Analyse Diagnostik derα-Thalassämien Anamnese, ethnische Abstammungklinische Symptomatik Blutbild einschl. Erythrozytenmorphologie Diagnose der Hämoglobino- pathie Beurteilung aller Daten und Befunde inkl. Blutbild, ethnische Abstammung Alkalische Elektrophorese,saure Elektrophorese, HPLC Diagnostik anomaler Hämoglobine

Abbildung 15.7-1 Untersuchungsplan für die stufenweise Labordiagnostik der Hämoglobinopathien.

normal RDW erhöht > 15 fl Thalassämie-Diagnostik Ferritin, Eisen-mangel-Diagnostik AnämieMikrozytoseHypochromie

Abbildung 15.7-2 Anwendung der RDW-Werte zur Diagnostik der Thalassämia minor (die RDW-Werte haben nur eine eingeschränkte diagnostische Sicherheit).

Hbl; HbH HbN; Hb Bart’s HbJ HbA HbF HbS; HbD; HbG HbA 2 ; HbC; HbE; HbO HbA HbA 2

Abbildung 15.7-3 Trennschema normaler und anomaler Hämoglobine; Mikrozonen-Elektrophorese.

HIF2α EPO Proliferation derErythropoese Erythroferron Hepcidin-Synthese Enterale Fe-Resorption Fe-Freisetzung aus RES NormochromeErythropoese

Abb. 15.10-1 Kompensation des O2-Mangels bei akuter Blutungsanämie. Sauerstoffmangel in der Niere induziert den Hypoxia inducible factor HIF2α die Bildung von Erythropoetin (EPO) zu stimulieren. EPO steigert die Proliferation der Erythropoese. Vermehrt gebildete Erythroblasten produzieren Erythroferron, dass die Synthese von Hepcidin in der Leber herunter reguliert. Bei niedrigem Hepcidin wird enteral vermehrt Eisen absorbiert und gespeichertes Eisen aus dem retikuloendothelialen System (RES) freigesetzt. Auf diesem Wege wird der gesteigerten Erythropoese ausreichend Eisen zur Verfügung gestellt und es resultiert die Bildung normochromer Erythrozyten.

20 1 10 100 1.000 Erythropoetin (U/l) 25 30 35 Hämatokrit (%) 40 45

Abbildung 15.10-2 Erwarteter Erythropoetin (EPO) Konzentrationsbereich in Abhängigkeit vom Hämatokrit im Bereich von 20-45 %. Mit Abnahme des Hkt nimmt der Konzentration von Erythropoetin (EPO) exponentiell zu. Das 95 %-Konfidenzintervall von EPO ist dargestellt. Modifiziert nach Lit. /5/.

1.000100101 Erythropoetin (U/l) 0,2 0,3 0,4 Hkt (%) 0,5 0,6 8 6 7 2 5 1 4 3

Abbildung 15.10-3 Beziehung zwischen Hkt und Erythropoetin /7/. 1, β-Thalassämie; 2, hämolytische Anämie; 3, renale Anämie; 4, Anemia of chronic disease; 5, Schwangerschaft; 6, Polycythämia vera; 7, Normalpersonen; 8, Nierenzellkarzinom. Die Linie zeigt den regulären Verlauf.

APR und andereEntzündungs-zustände Immunaktivierung Eisen- metabolismus: Vermehrte Fe-Speicherung Verminderte Fe-Resorption Mono-zyt pro-apoptotisch IFN-γ anti-apoptotisch Erythroide Vorläuferzelle TH 1 - Zelle Epoetin

Abbildung 15.10-4 Aktivierung des Immunsystems durch die Akute-Phase Reaktion (APR) und Bildung inflammatorischer Zytokine ( IFN-γ, IL-6) durch aktivierte Immunzellen (TH1-Zellen und Monozyten/Makrophagen). Die erythroide Vorläuferzelle im Proliferationspool des Knochenmarks benötigt zur Differenzierung in Erythroblasten die Bindung von etwa 10 EPO-Molekülen um nicht der Apoptose anheim zu fallen. EPO hat einen anti-apoptotischen Effekt und inflammatorische Zytokine wie IFN-γ einen pro-apoptotischen Effekt. Das Überleben der erythroiden Vorläuferzelle ist von der Balance zwischen EPO und den inflammatorischen Zytokinen abhängig. Bei starker Inflammation (CRP-Wert hoch) überwiegt die Apoptose, die Erythropoese ist hypoproliferativ und es resultiert bei verminderter Erythrozytenzahl eine normochrome Anämie /17/. Die APR hat, vermittelt durch Hepcidin, Einfluss auf den Eisenmetabolismus.

Knochenmark Blut Proliferativer Pool Reifungs-Pool ReifeZellen Stamm-zellen Multipotent Committed BFU-E CFU-E CFU-E EPO IL-3GM-CSFSCF

Abbildung 15.10-5 Wirkung von Erythropoetin (EPO) und anderen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren in der Erythropoese. Modifiziert nach Lit. /21/. BFU-E, Burst forming unit erythroid; CFU-E, Colony forming unit erythroid; IL-3, Interleukin-3; GM-CSF, Granulozyten-Makrophagen Kolonie-stimulierender Faktor; SCF, Stammzellfaktor; RBC, rote Blutzellen.

Stammzellen → BFU-E → CFU-E → Erythroblasten Knochenmark Erythropoetin Rote Blutzellmasse ← Atmosphärischer O 2 ← Herz-Kreislauf-Funktion ← Blutvolumen ← Hämoglobinkonzentration ← O 2 -Affinität Renaler Blutfluss → Renaler O 2 -Verbrauch → Erythropoetin ← SauerstoffsensorBildung Niere

Abbildung 15.10-6 Regelkreis der Wirkung von Erythropoetin, modifiziert nach Lit. /24/.

Konduktivitäts-Streulichtsignal WBC (volume) M B N E L

Abbildung 15.12-1 Hämatogramm der Leukozytendifferenzierung nach dem Volumen-Konduktivitäts-Streulicht Prinzip. N, Neutrophile; E, Eosinophile; B, Basophile; L, Lymphozyten; M, Monozyten.

Abbildung 15.12-2 Hämatogramm der Leukozytendifferenzierung von kombinierter Durchflusszytometrie- und Zytochemie-Technik. Im Leukogramm (linkes Feld) werden gezählt: 1, Neutrophile Granulozyten; 2, Eosinophile Granulozyten; 3, Monozyten; 4, Größere Lymphozyten und Blasten; 5, Large Unstained Cells (LUC). Im Nukleogramm (rechtes Feld) werden nach Entfernung des Zytoplasmas erfasst: 6, mononukleäre Zellen; 7, polynukleäre Zellen; 8, Basophile Granulozyten.

Zeit (h) Neutrophilenzahl/μL 18.00016.20014.40012.60010.800900072005400360018000 0 6 12 18 24 30 36 42 48 54 60

Abbildung 15.12-3 Neutrophilenzahl beim Neugeborenen, nach Lit. /9/. Angegeben sind die oberen und unteren Referenzbereichsgrenzen.

Alter in Monaten/Jahren Lymphozytenzhahl (10 9 /l) 161412108642 0 4 8 12 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20

Abbildung 15.12-4 Altersabhängigkeit der Lymphozytenzahl bei Kindern nach Lit. /21/. Der zentrale 95 %-Bereich ist dargestellt.

Abbildung 15.13-1 Ausstrichtechnik des Blutes.

Richtung des Ausstrichs Areal der optimalen Dichte Kopf Körper Fahne

Abbildung 15.13-2 Wichtige Areale bei der Auswertung des Blutausstrichs.

Kernanomalien Neutrophiler Granulozyt mit Drumstick Pelger-Huet-Anomalie „Erdnuss“-Form Übersegmentierung Granulationsanomalien Toxische Granulierung Döhle-Körperchen Auerstäbchen „faggot“-Form

Abbildung 15.13-3 Morphologische Veränderungen der Granulozyten.

Normaler Lymphozyt Lymphatische Reizform „Pfeiffer“-Zelle Gumprecht’scher Kernschatten

Abbildung 15.13-4 Morphologische Veränderungen der Lymphozyten.

Normal Agranuläre Form Riesenform Plättchensatellitose

Abbildung 15.13-5 Morphologische Veränderungen der Thrombozyten.

Zellgröße Normal Mikrozyt Makrozyt Zellanfärbung Normal Hypochromie Hyperchromie Zellform Elliptozyten Leptozyten Targetzellen Sphärozyten Stomatozyten Sichelzellen Akanthozyten Fragmentozyten Tränentropfenzellen Zelleinschlüsse Howell-Jolly-Körperchen Basophile Tüpfelung Cabot-Ringe Malaria Zellverteilung Geldrollenbildung Aggregation

Abbildung 15.13-6 Morphologische Veränderungen der Erythrozyten.

Horizontaler Schnitt an der spina iliaca posterior superior M. erector trunci M. gluteus maximus M. gluteus medius M. gluteus minimus M. psoas major Arterien Venen Nerven

Abbildung 15.14-1 Horizontalschnitt in Höhe des Biopsieortes.

Abbildung 15.14-2 Jamshidi-Nadel (oben) im Vergleich zu einer gewöhnlichen Punktionsnadel.

Abbildung 15.14-3 Anfertigen des Ausstrichs eines Knochenmark-Bröckels.

Erythroblasten % aller kernhaltigen Zellen < 50 % Erythroblasten ≥ 50 % Erythroblasten Blasten % allerkernhaltigen Zellen Blasten≥ 30 % Blasten< 30 % Blasten< 30 % Blasten≥ 30 % AML MDS AML M6 Blasten % aller nicht erythropoetischen Zellen

Abbildung 15.15-1 Frühere FAB Klassifikation: Knochenmark, Blastengrenze zwischen AML und MDS jetzt 20 %.

Morphologie + Zytogenetik + ImmunophänotypisierungAsservierung von DNA für MRD-Untersuchungen t(9;22),t(4;11) reifeB-ALL andere Anomalien, normaler Karyotyp kein Befund erstell-bar oder wenigeMetaphasen von un-zureichender Qualität FISH IGH-C-MYC PCR BCR-ABLPCR MLL-AF4 Screening mit PCRund/oder FISHauf BCR-ABL- undMLL-Rearrangement MRD-Untersuchungen mit PCR für Fusions-transkripte bei V.a.-RezidivMorphologie + Zytogenetik MRD-Untersuchungen mit PCR für Rezeptor- Rearrangements

Abbildung 15.15-2 Ablauf der Standarddiagnostik der akuten lymphatischen Leukämie.

TET2 10% + + TET2 5–10% 95 % JAK2V617F JAK2V617F JAK2V617F JAK2V617F + 5 % 50 % + + + 50 % 50 % 50 % PMF BCR-ABL CML 90 % + + 10 % familiär:– VHL– EPO– HIF2A– PHD2 familiär:– MPL– THPO FIP1L1-PDGRFA:– PDGFRA– PDGFRB FGFR1 TET2 CBL20% NRASTET2EZH2RUNX1 TET2 MPN? CMML PV ET JAK2exon12 MPLW515 Eosino-philie? + NHL? HES/CEL

Abbildung 15.17-1 Algorithmus zur Durchführung der Molekulargenetik bei myeloproliferativen Neoplasien.

PV, Polycythaemia vera; ET, Essentielle Thrombozythämie; PMF, Primäre Myelofibrose; MPN, Myeloproliferative Neoplasie; CMML, Chronische Myelomonozytäre Leukämie; TET2, Tet oncogene family member 2; MPL, Myeloproliferative leukemia virus oncogene/Thrombopoietin-Rezeptor; CBL, Casitas B-lineage lymphoma proto-oncogene; VHL, von Hippel-Lindau Tumorsuppressorgen; EPO, Erythropoetin; HIF2A, HIF-1-alpha-like factor; PHD2, HIF prolyl hydroxylase 2, THPO, Thrombopoetin; PDGFRB, Platelet-derived growth factor receptor, beta; PDGFRA, Platelet-derived growth factor receptor, alpha; EZH2, Enhancer of zeste homolog 2 (Drosophila); RUNX1, Runt-related transcription factor 1.

Akute LeukämieDiagnose entsprechend den FAB-Kriterien Zuordnung zur B- bzw. T-lymphatischen oder myeloi- schen Zellreihe /20/B-Zellreihe: CD19, (cy) CD22, (cy) CD79a T-Zellreihe: cyCD3, CD7Myeloische Zellreihe: CD13, CD33, CD65, CD117, MPO NK-Zellreihe CD56, CD57 Diagnose: B-Vorläuferzell-ALL, B-ALL/Burkitt Lymphom, T-Linien-ALL, AML Definition des Reifegrads bzw. des immunologischen Subtyps (vgl. Tab. 15.17-1 – Klinische Charakteristika und orientierende Parameter bei Differentialdiagnose der MPN)B-Linien-ALL: CD10, CD20, CD24, cyIgM, mIg; CD34, HLA-DR, TdTT-Linien-ALL: CD1a, CD2, mCD3, CD4, CD5, CD8, CD10, TZR-α/β bzw. γ/δ; CD34, HLA-DR, TdTAML: CD14, CD15, CD41, CD61, CD64, Glykophorin A; CD34, HLA-DR, TdT Abkürzungen: CD = Cluster of Differentiation, cy/m = intrazytoplasmatische bzw. membranständige Expression, MPO = Myeloperoxidase, Ig = Immunglo- buline, TZR = T-Zell-Rezeptor, TdT = terminale Desoxynucleotidyltransferase

Abbildung 15.18-1 Flussdiagramm zur Immunphänotypisierung bei akuten Leukämien.

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